Literaturkreis WeilerswistSeniorinnen schulen Empathie durch Lesen von moderner Literatur

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Heidrun Brenig sitzt an einem Tisch und liest in einem Buch.

Seit 1997 beschäftigt sich der Literaturkreis Weilerswist neben klassischer auch immer mit moderner Literatur. Bei manchen modernen Werken, die Leiterin Heidrun Brenig aussucht, befürchtet sie, die anderen Frauen könnten es hassen. Das hält sie von der Auswahl aber nicht ab.

Geschichten, die ihrer Lebenswirklichkeit am fernsten sind, lesen die Teilnehmerinnen des Literaturkreises Weilerswist am liebsten.

Heidrun Brenig klingelt mit einer goldenen Glocke. Elf ältere Damen haben gerade noch aufgeregt miteinander gesprochen. Jetzt werden sie ruhig. Auf dem Tisch liegt ein Buch. Darauf steht ein nackter Junge kopf. Im Haus Heskamp beginnen die elf Seniorinnen des Literaturkreises Weilerswist mit der Besprechung des Romans „Das Ende von Eddy“ des französischen Autors Édouard Louis.

Édouard Louis erzählt in seinem Debütroman die Geschichte von Eddy Bellegeule, einem schwulen Jungen, der in den 1990er Jahren in der homophoben französischen Provinz aufwächst. Ein Junge, dessen Stimme ab und zu in „feminine Lagen“ rutscht und ihn so der Feindseligkeit seiner Mitschüler aussetzt. Jahrelang wird er gedemütigt. In dem Dorf in der nordfranzösischen Picardie ist Gewalt an der Tagesordnung. Männer verlassen die Schule so früh wie möglich, um das Arbeiten anzufangen – und das Trinken. Der allgegenwärtige Hass richtet sich vor allem auf „Araber“, „Schwuchteln“ und Frauen.

Teilnehmerinnen des Literaturkreises Weilerswist sind erschüttert

„Wer hat das Buch gelesen?“, fragt Heidrun Brenig in die Runde. Inge Fevre fragt: „Das komische?“ Die Frauen lachen. Gelesen haben sie es alle. Gefallen hat es ihnen weniger. „Es war furchtbar und voyeuristisch. Die widerlichen Erlebnisse des Protagonisten hörten und hörten einfach nicht auf“, sagt Fevre.

Plötzlich reden alle Frauen durcheinander. Sie sprechen von „Gesindel“ und Vergewaltigungen, von denen sie eigentlich nichts wissen wollten. Lieber wollten sie ihren Blick auf das Schöne richten. Auf das, was Hoffnung spendet. Und nicht von Orten und Menschen lesen, für die es keine Hoffnung mehr gibt.

Das Buch hat die Frauen erschüttert. Sandra Vogel: „Der Autor ist so alt wie meine Tochter“, sagt sie. „Ich musste mir ein paar Mal vergegenwärtigen, dass es solche Verhältnisse noch gibt. Dass es Leute gibt, die in Europa in dieser enormen Armut und mit solchem Hass leben müssen.“

Die Frauen schauen in Bücher hinein und über den eigenen Tellerrand hinaus

Christa Wuschke antwortet: „Ja, ich glaube, wir sitzen hier im Elfenbeinturm.“ Damit meint sie, dass die Frauen des Literaturkreises ohne viele Berührungspunkte mit anderen gesellschaftlichen Schichten und deren täglichen Problemen lebten. „Wenn man bequem lebt, dann vergisst man manchmal, was hinter dem eigenen Tellerrand passiert“, sagt Brenig.

Sie selbst habe den Roman als Milieuschilderung gelesen. Aus einem mitgebrachten Schulheft, in das sie handschriftlich Notizen, Hintergründe und Zitate geschrieben hat, liest sie aus dem Leben des Autors vor. Sie spricht von einfachen und schwierigen Verhältnissen, aus denen ein Ausbruch kaum gelingen kann. Sie spricht vom Lumpenproletariat, das keiner geregelten Lohnarbeit nachgehe. Und wie Édouard Louis es schaffte, aus dieser Klasse herauszukommen und zu einem der führenden französischen Autoren der Gegenwart zu werden – indem er sein eigenes Schwulsein und die Schere zwischen Arm und Reich zu Themen seines Schreibens machte.

Leiterin des Literaturkreises: Erfolg im Leben ist immer auch Glück

„Ich glaube, als Erstes kommt es darauf an, mit welchen Chancen du geboren wirst“, sagt Brenig. „Und als Zweites darauf, wie dein Leben verläuft. Ob du Glück hattest oder nicht. Und ob du Hilfe bekommen hast.“ Dass Menschen keinen sozialen Aufstieg schafften, das liege oftmals nicht allein an den Menschen selber.

Sandra Vogel nickt. Schon öfter habe sie im Fernsehen Leute gesehen, die als faul und dumm vorgeführt wurden. Dort sei gezeigt worden, wie lange die Leute schliefen und wie sie kein Frühstück machten, sondern bloß auf dem Sofa saßen und rauchten.

„Es ist eine Lebensresignation“, sagt Vogel. Die Menschen fühlten sich in einer Situation gefangen und dächten: „Ich hab ohnehin keine Chance, etwas zu erreichen. Wieso soll ich mich anstrengen – für mich oder jemand anderen.“ So gehe es vermutlich vielen Bürgergeldempfängern. Und so sei es auch den Leuten in dem Dorf gegangen, von dem der Autor erzählt. Die Frauen des Literaturkreises nicken. Sie kennen die Situation nicht, aber sie können sie verstehen.

Paragraf 175 wurde erst im Jahr 1994 abgeschafft – Diskriminierung blieb

Eine andere Frau hat nach der Lektüre des Buches recherchiert. Und herausgefunden, dass der Paragraf 175, der „widernatürliche Unzucht“ unter Männern unter Strafe stellte, erst 1994 abgeschafft wurde.

Dann erzählen die Frauen von schwulen Paaren, die sie kennen. Davon, dass einer eine Frau und zwei Kinder hatte und ein heterosexuelles Leben vorspielte bis zum Tod seiner Mutter. Davon, dass sie bei homosexuellen Paaren zu Gast waren und sie für Freunde gehalten hatten.

Ob die Frauen denken, dass so etwas wie in der Geschichte auch heute noch passieren könnte, zum Beispiel in Weilerswist, will Brenig wissen. Sie sind zögerlich. Sie wissen es nicht. Sandra Vogel denkt das schon. „Wenn man in einer kleinen Gesellschaft ist, in einem kleinen Dorf und versucht, sich einer Mehrheit zu fügen und nicht als Außenseiter aufzufallen.“ Bärbel Schuhmacher sagt, dass das Mobbing auf dem Schulhof vielleicht sogar noch schlimmer geworden ist, auch wegen Social Media. Sie bekomme das manchmal mit, bei ihren Enkeln.

Das Verständnis für die Figuren ist nach der Literaturstunde größer

„Nach der Lektüre des Buches nehme ich auf jeden Fall mit, aufmerksamer zu sein. Anderen besser zuzuhören, um mitzubekommen, wo sie stehen und warum sie dort stehen“, sagt sie. Auch Inge Fevre nimmt das mit. Beim Lesen waren die Menschen dieses französischen Dorfes bloß „Abschaum“ für sie. Jetzt, da sie die Hintergründe kennt, sagt sie über Eddy: „Ich interessiere mich für diesen großartigen Menschen.“

„Das ist das Gute an unserer Gruppe“, sagt Schuhmacher. Man verstehe nach einer Literaturstunde immer besser, warum Leute sich auf eine bestimmte Weise verhielten. Und wofür anfangs kein Verständnis da war, das erscheine am Ende doch erklärbar. Dafür seien Bücher und der Literaturkreis gut, meint auch Vogel. Um andere Sichtweisen kennenzulernen und um in die Winkel der Welt zu schauen, die ihnen von Weilerswist aus sonst verborgen blieben.