Spektakulärer FundJüdische Gebetbücher bei Straßenarbeiten in Zülpich entdeckt
Bonn/Zülpich – Sie wollten den Kanal erneuern und fanden mehrere Fragmente von Holz und bedrucktem Papier – die sich als spektakulärer Fund herausstellen sollten. Die Fragmente befanden sich direkt unter der Asphaltdecke der Martinstraße in Zülpich.
Darauf ließen sich trotz schlechten Erhaltungszustands hebräische Schriftzeichen erkennen. Die Forschungen des Landschaftsverbandes Rheinland (LVR) ergaben, dass es sich dabei um jüdische Gebetbücher aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts handelt. „Die Fundumstände deuten darauf hin, dass die Textfragmente wohl während des Zweiten Weltkriegs vergraben wurden“, erklärt Dr. Erich Claßen, Leiter des LVR-Amtes für Bodendenkmalpflege: „Dank Recherchen der Stadt Zülpich können wir das konkret mit jüdischen Einzelschicksalen während des Holocausts in Verbindung bringen. Das macht den Fund umso bedeutender.“
Die gefundenen Papierreste waren wegen des feuchten Bodens in einem schlechten Zustand. Daher wurde der historisch bedeutsame Fund im Block geborgen und in den Restaurierungswerkstätten des LVR-Landesmuseums Bonn freigelegt und konserviert. Es war ein mühevolles Unterfangen, sagten die Beteiligen nun bei einer Pressekonferenz in Bonn. Der Grund: Das Papier hatte sich zu einer breiigen Masse verformt und die einzelnen Blätter waren nur schwer oder gar nicht mehr trennbar.
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Dennoch gelang es unterschiedliche Druckerzeugnisse mit hebräischen Schriftzeichen und Frakturschrift zu identifizieren. Die hinzugezogenen Experten vom LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte konnten diese als jüdische Gebetbücher einordnen. Sie stammen wahrscheinlich aus den 1920er Jahren, was Papier und die Heftung mit Eisenklammern nahelegen. Die Grabungsfirma stellte bei ihren Untersuchungen fest, dass am Fundort ursprünglich ein Haus gestanden hatte.
Haus wurde bei Bombenangriff zerstört
Recherchen durch Rita Reibold vom Stadtarchiv Zülpich ergaben, dass in diesem Haus der jüdische Viehhändler Moritz Sommer mit Familie gelebt hatte. In der Endphase des Zweiten Weltkriegs wurde das Haus mitsamt rückwärtigem Stall und Schuppen bei einem Bombenangriff zerstört. Zuvor war das Haus ab 1941 von den Nationalsozialisten als „Judenhaus“ genutzt worden.
„Seit Mai 1941 betrieb die Euskirchener Kreisverwaltung analog zu reichsweiten Initiativen die Ausweisung von Menschen jüdischen Glaubens aus ihren Häusern und Wohnungen. Es herrschte Wohnungsnot, verfügbare Häuser waren rar. Daher sollte das jüdische Wohneigentum auch in der Börde ‚arisiert‘ und neu vergeben werden“, erläutert Hans-Gerd Dick, Kulturreferent der Stadt Zülpich.
Die so Zwangsumgesiedelten wurden durch Weisung der Kreisverwaltung auf einige wenige, vorläufig weiterhin in jüdischem Eigentum verbleibende Häuser im Kreis verteilt. Solche Häuser wurden von den NS-Behörden „Judenhäuser“ genannt. Wegen der massiven Überbelegung waren die Wohnverhältnisse in diesen Häusern schlecht. Aus den überlieferten Akten wird ersichtlich, dass mindestens drei Familien und eine weitere Person bei Familie Sommer mit im Haus untergebracht wurden.
Gebetbücher wurden wahrscheinlich vergraben
Es ist bekannt, dass Moritz Sommer, seine Frau Lina und ihr Sohn Kurt am 20. Juli 1942 nach Minsk in Belarus deportiert und dort vier Tage später in der Vernichtungsstätte Maly Trostinez ermordet wurden. Auch von den übrigen Bewohnern überlebte niemand. Es ist nach Angaben der Experten wahrscheinlich, dass die Gebetbücher von der Familie Sommer oder einer der ebenfalls dort untergebrachten Familien unter dem Dielenboden eines Schuppens hinter dem Haus in einer Holzkiste vergraben wurden, um sie dort zu verstecken und vor dem Zugriff Dritter zu bewahren.
In der Nachkriegszeit wurde das Gelände zur Erweiterung der Straße genutzt, wodurch die Textfragmente unter den Straßenbelag gelangten. Heute erinnern vor Ort Stolpersteine an die Familie Sommer.