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„Verwahren die Kinder“Fast die Hälfte der Kitas in der Region melden akuten Personalmangel

Lesezeit 9 Minuten
Kinderrucksäcke hängen im Eingangsbereich eines Kindergartens.

Fast die Hälfte der Kitas in der Region musste im vergangenen Jahr ihr Angebot wegen Personalmangels einschränken.

Der Personalmangel in den NRW-Kitas wird immer dramatischer. Das zeigt eine Recherche dieser Redaktion in Zusammenarbeit mit „Correctiv.Lokal“ und „Frag den Staat“.

„Wir verwahren die Kinder mehr schlecht als recht. Für die Kinder ist es einfach nicht mehr schön.“ So zitiert Correctiv.Lokal eine Erzieherin aus Nordrhein-Westfalen. Die Frau hat sich auf eine Umfrage gemeldet, die die Betroffenen zum Personalmangel an Kitas in ganz Deutschland zu Wort kommen lassen will.

Die Befragten zitieren drastische Beispiele: „Ein Kind sitzt auf der Toilette mehrere Minuten und braucht Hilfe beim Abputzen, aber niemand hat Zeit und das Kind muss zehn Minuten auf die Hilfe warten“, beschreibt eine Auszubildende.

Im Kita-Jahr 2022/2023 musste fast die Hälfte aller Kitas in NRW mindestens einmal akuten Personalmangel an die Aufsichtsbehörden melden. Das ist dann notwendig, wenn nicht mehr genug Mitarbeitende vor Ort sind, um die Sicherheit und das Wohlergehen aller Kinder zu gewährleisten.

Im Durchschnitt betraf das jede Kita des Bundeslandes fast dreimal in einem Jahr. Das ist das Ergebnis einer Untersuchung von Correctiv.Lokal und Frag den Staat in Kooperation mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. Wir haben uns die Zahlen für die Region genauer angeschaut.

Personalmangel in NRW-Kitas: Besonders viele Meldungen aus Bonn

Durchschnittlich fünfmal im Jahr können die Kitas in Bonn ihren Betrieb nicht fortsetzen, ohne die Sicherheit ihrer Schützlinge zu gefährden. Mindestens 20-mal mussten im vergangenen Kita-Jahr die Einrichtungen in der ehemaligen Bundeshauptstadt aufgrund erheblichen Personalmangels schließen. Bei 138 Einrichtungen, die die Türen komplett geschlossen ließen, war also fast jede siebte Einrichtung eine aus Bonn.

Was genau „akuten Personalmangel“ ausmacht, ist in Handlungsleitfäden geregelt. In Köln beispielsweise müssen für Gruppen mit Kindern unter drei Jahren jeweils zwei Kräfte zur Verfügung stehen. Für Gruppen mit Kindern von drei bis sechs Jahren reicht eine Kraft. Sind Kinder von zwei bis sechs Jahren oder unter drei Jahren in der Gruppe, müssen sie von zwei Menschen betreut werden. In jedem Fall muss noch eine weitere Person in der Einrichtung zur Verfügung stehen, um etwa Pausenvertretungen zu gewährleisten.

Bei diesen Angaben handelt es sich nicht um den Personalschlüssen, wie er im Kinderbildungsgesetz („KiBiz“) definiert ist, sondern um eine Untergrenze. Wird diese unterschritten, muss der Notstand gemeldet werden.

Fast 600 Mal schafften es die Bonner Kinderbetreuungen noch, nur Gruppen oder Teile der Einrichtung zu schließen. Der zweithöchste Wert in der gesamten Region. Selbst in Köln ist die Zahl geringer. Doch fast in der gesamten Region um Köln ist die Lage angespannt.

Meldung, wenn „Wohl der Kinder“ beeinträchtigt werden kann, ist Pflicht

Für die Recherche wurden deutschlandweit Meldungen vom 1. August 2022 bis 31. Juli 2023 zusammengetragen, die von Kitas bei den zuständigen Aufsichtsbehörden (in der Regel die Landesjugendämter) eingegangen sind.

Kitas in Deutschland sind dazu verpflichtet, „Ereignisse oder Entwicklungen“ zu melden, die das „Wohl der Kinder“ beeinträchtigen könnten. Darunter fallen insbesondere auch Situationen, in denen der vorgegebene Personalschlüssel wegen Krankheit, Urlaub oder anderen Ausfällen unterschritten wird.

Meiste Meldungen in der Region aus Kitas in Bonn und Rhein-Sieg

Am stärksten haben in der Region die Stadt Bonn und der Rhein-Sieg-Kreis mit Einschränkungen durch Personalmangel zu kämpfen. So waren in Bonn im vergangenen Kita-Jahr 149 der insgesamt 236 Einrichtungen der Stadt von erheblichem Personalmangel betroffen. Das sind fast zwei Drittel der Kindertagesstätten im Stadtgebiet.

Es gibt deutliche Anzeichen, dass das System stark belastet ist und eine kritische Überlastung droht.
Stadtverwaltung Bonn

„Die Situation der Bonner Kitas verschärft sich zunehmend“, erklärt die Bonner Stadtverwaltung auf Anfrage des „Kölner Stadt-Anzeiger“. „Und es ist schnelles Handeln aller beteiligten Akteure vonnöten. Es gibt deutliche und vermehrte Anzeichen, dass das System der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung stark belastet ist und eine kritische Überlastung droht.“

Mehr als vier Meldungen pro Tag im Rhein-Sieg-Kreis

Die meisten Meldungen aus der Region gingen beim Landesjugendamt aus Rhein-Sieg ein – allerdings gibt es hier auch die meisten Kitas. 1704 Mal konnten Einrichtungen den Betrieb nicht fortsetzen, ohne das Wohl der Kinder zu beeinträchtigen. Das sind für die Zeit vom 1. August bis 31. Juli im Durchschnitt 4,7 Meldungen pro Tag.

Allein auf den Monat März 2023 kamen 250 solcher Meldungen wegen Personalmangels. Im gesamten Kita-Jahr war statistisch mehr als jede zweite Einrichtung im Kreis betroffen: 229 der insgesamt 418 Kitas, also 55 Prozent. Die Folgen reichen von reduzierter Betreuungszeit über Gruppen- und Teilschließungen bis hin zur kompletten Schließung der Einrichtung.

So mussten Einrichtungen in Rhein-Sieg im vergangenen Kita-Jahr 62-mal komplett schließen, 783-mal kam es zu Teil- oder Gruppenschließungen. Eine Spitzenposition belegt Rhein-Sieg auch bei den meisten Teil- und Gruppenschließungen in einem Monat: Im März 2023 allein betraf das 116 Kitas. Wichtig hierbei: Die Meldungen treffen keine Aussage darüber, wie lange die Einschränkungen dauerten. Das heißt: Die Meldung einer Schließung kann nur einen einzelnen Tag betreffen. Oder Wochen andauern.


Zur Datenlage

Die von „Correctiv“ und „Frag den Staat“ gesammelten Daten vermitteln ein Bild der Realitäten in Kitas in ganz Deutschland. Sie zeigen eine klare Tendenz – der Personalmangel ist ein wichtiges und großes Problem, der die Kitas besonders in Krisenzeiten belastet – aber sie treffen über wichtige Aspekte auch keine Aussage. Darunter vor allem die Gründe der Personalunterschreitungen: Ob Stellen nicht nachbesetzt werden können oder ob überdurchschnittlich viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu einem Zeitpunkt krank sind, wird in den Daten nicht unterschieden. Das eine ist aber ein systematisches Problem, das andere nicht (oder nicht auf die gleiche Art und Weise).

Ebenfalls zu beachten: Zwar sind Kitas generell verpflichtet, Personalmangel zu melden, die Meldepraxen sind aber schon auf Kreisebene unterschiedlich. Die Träger legen die Meldepflicht unterschiedlich streng aus, deswegen spricht „Correctiv“ nur von einer Mindestanzahl an Meldungen.

Schließlich: Die hier besprochenen Konsequenzen aus den Meldungen, also etwa Gruppenschließungen, sind weder in ihrer Dauer quantifiziert, noch werden die Kitas mitgerechnet, die etwa ihre Betreuungszeiten dauerhaft reduzieren.


Rhein-Sieg ist, bereinigt um die unterschiedliche Anzahl an Kitas, nur geringfügig weniger von Personalmangel betroffen als Bonn. Während in Bonn jede Kita im Durchschnitt knapp fünfmal im Jahr Einschränkungen wegen Personalmangels durchsetzen musste, war das in Rhein-Sieg viermal der Fall. In Bonn mussten Einrichtungen insgesamt 20-mal schließen. Allein im November 2022 fünfmal.

Das sagen die Jugendämter zur Personalsituation in den Kitas

Laut Jugendamt der Stadt Bonn seien alle Kita-Träger an gesetzliche Vorgaben gebunden, „wie die je Kindertageseinrichtung vorzuhaltende personelle Mindestausstattung“ auszusehen habe.

„Inhaltlich macht der Landschaftsverband Rheinland als zuständige Aufsichtsbehörde dazu klare Vorgaben. Hier hat die Stadt keinerlei Spielraum. Sobald nicht ausreichend Fachkräfte in einer Kita für die zu betreuenden Kinder vorhanden sind, darf diese nicht alle Kinder betreuen, und es müssen Kinder zu Hause bleiben. Diese Vorgaben werden in Bonn konsequent umgesetzt.“

Jugendamt Bonn: Personalmangel in Kitas ist strukturelles Problem

Damit zeigten sich aber auch deutlich systematische Probleme, denn der aktuell vorherrschende strukturelle Fachkräftemangel sei in der Tat vorprogrammiert gewesen, beklagt die Stadtverwaltung. Als im August 2013 bundesweit der Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz in einer Kita oder Tagespflege eingeführt wurde, seien alle Städte und Gemeinden aufgefordert worden, in Zusammenarbeit mit freien Trägern und Jugendhilfe den Ausbau der Plätze voranzutreiben, um den Rechtsanspruch umzusetzen.

„Genau hier liegt das Problem, auf das viele Kommunen und Träger der Jugendhilfe bereits mit Einführung des Rechtsanspruches hingewiesen hatten“, macht das Bonner Jugendamt deutlich. Die Zahl der zur Verfügung stehenden Ausbildungsplätze habe bei weitem nicht ausgereicht, den Anforderungen in erforderlichem Maße gerecht zu werden. „Die Anpassung der Ausbildungsplätze und die Umstellung auf die praxisintegrierte Ausbildung wurden erst Jahre nach Einführung des Rechtsanspruches auf einen Betreuungsplatz angepasst.“

Rhein-Sieg: Kreisjugendamt rät zu rollierendem System bei Einschränkungen

Das Jugendamt des Rhein-Sieg-Kreises beschreibt die Lage in den Gemeinden (für die Kitas der Städte ist es nicht zuständig) in deutlichen Worten. „Die Personallage ist sehr angespannt“, so eine Sprecherin. Geeignetes Personal zu finden, um offene Stellen nachzubesetzen, werde immer schwieriger.

Strukturelle Unterschiede zwischen den Gemeinden gäbe es zwar keine, so das Kreisjugendamt, allerdings entscheiden die Träger über Notfallkonzepte, um mit der Personallage umzugehen. Im Februar hatte beispielsweise Niederkassel ein System implementiert, bei dem anhand der Situation der Eltern der Betreuungsbedarf ermittelt wurde, um so zu priorisieren, welche Kinder betreut werden.

Mit bunten Buchstaben sind die Worte „Erzieher*in gesucht“ geformt, die an einem Zaun einer Kindertagesstätte im Stadtteil Sachsenhausen befestigt sind.

Die Stadt Niederkassel reagiert auf den Personalmangel in Kitas mit einem Stufenmodell. (Symbolbild)

Dem stehe das Kreisjugendamt „eher kritisch gegenüber“. Das Amt, das den Trägern beratend zur Seite steht, rät zu einem rollierenden System, um nicht systematisch eine Gruppe von Kindern zu benachteiligen. Aber: „Egal, welches Konzept angewandt wird, es ist eine Mangelverwaltung.“

Auch wenn die unmittelbare Fachkräftegewinnung in den Händen der Kita-Träger liegt, verweist das Kreisjugendamt Rhein-Sieg auf diverse Initiativen, die in der vergangenen Zeit starteten. Beispielsweise das „Sofortprogramm Kita“ und verschiedene Plattformen, um etwa Praktika zu vermitteln und früh Einblick in die Berufe zu geben.

So ist die Situation der Kitas in der Region

Doch wie sieht die Situation in den anderen Kreisen rund um Köln aus? Im Rhein-Erft-Kreis mussten Kitas 32-mal komplett schließen. 347-mal kam es zu Teil- oder Gruppenschließungen. Die Betreuungszeit wurde 309-mal reduziert. Ein dramatisches Hoch erreichten die Meldungen hier mit 196 Meldungen allein im Dezember 2022. 17 Einrichtungen mussten in dem Monat schließen. Das ist der höchste Wert in den Kreisen der Region in einem Monat.

Im Monat darauf, Januar 2023, fielen die Meldungen an die Aufsichtsbehörde dann plötzlich auf drei Meldungen – aus den Daten geht nicht hervor, ob die zuvor geschlossenen Kitas zu diesem Zeitpunkt wieder geöffnet hatten. Wenn eine Schließung oder andere Maßnahme über den Monatswechsel hinausgeht, muss im Folgemonat nämlich keine erneute Meldung erfolgen.

Kitas in Leverkusen am wenigsten vom Personalmangel betroffen

Etwas besser sieht es zumindest in Leverkusen aus: Dort ist man laut der Daten von Correctiv.Lokal in der Region am wenigsten von Personalproblemen betroffen. Aber auch hier hatten über das Jahr 32 Prozent der Kitas mit Einschränkungen durch Personalmangel zu kämpfen. 30 der 93 Einrichtungen, also knapp ein Drittel, meldeten ihrer Aufsichtsbehörde erhebliche Personalprobleme. Der Mangel ist also auch in Leverkusen deutlich zu spüren. Erst kürzlich machten sich Eltern wegen stark verkürzter Betreuungszeiten selbst auf die Suche nach Kita-Kräften, weil sie von der Stadt nur vertröstet wurden.

In keinem Kreis der Region war weniger als ein Viertel aller Kitas über das Jahr von Einschränkungen betroffen. Der Oberbergische Kreis erreichte mit 27 Prozent den niedrigsten Wert, in Euskirchen war fast jede dritte Kita betroffen, mehr als 40 Prozent jeweils im Rhein-Erft-Kreis und im Rheinisch-Bergischen Kreis.


Diese Recherche ist Teil einer Kooperation des „Kölner Stadt-Anzeiger“ mit „Correctiv.Lokal“ und „Frag den Staat“.

Möchten Sie, dass sich etwas ändert? Dann werden Sie jetzt aktiv! Besuchen Sie die Themenseite kitanotstand.de, die von unserem Kooperationspartner „CORRECTIV“ erstellt wurde. Dort finden Sie vielfältige Möglichkeiten, wie Sie selbst einen Beitrag leisten können. Erfahren Sie, wie Sie die Politik zum Handeln bewegen können und entdecken Sie Mitmalbilder für Ihre Kinder sowie Plakate, die Sie in Ihrer Nachbarschaft aufhängen können, um auf den Kita-Notstand aufmerksam zu machen.


Eine an die Datenrecherchen anschließende Crowd-Newsroom-Umfrage von „Correctiv“ zeigt die Perspektive einer der Betroffenen-Gruppen – die der Erzieherinnen und Erzieher vor Ort.

Von bundesweit 2005 Befragten gaben 52 Prozent an, dass durch den Personalmangel die pädagogische Arbeit nicht möglich war. Sie sprechen eher von einer „Verwahrung“ als von Arbeit für die frühkindliche Bildung. 19 Prozent gaben an, dass Kita-Mitarbeitende alleine eine Gruppe betreuen mussten, fünf Prozent gaben sogar an, dass teilweise Grundbedürfnisse der Kinder (satt, sauber, sicher) nicht erfüllt werden konnten. 1207 Kita-Mitarbeitende gaben an, unter erhöhtem Stress zu leiden, bei 396 zeigten sich gesundheitliche Folgen wie Depressionen und Burnout.