2 Stunden in Leverkusen-BürrigDas Geheimnis der leckersten Tomaten in Leverkusen
Leverkusen – Links des Weges wuchern die Brombeeren, ein paar Meter weiter greifen große Brennnessel-Blätter nach meinen nackten Knöcheln. Jenseits des Gestrüpps rauscht es. Hier, versteckt hinter Bäumen und Sträuchern, mündet das Wasser des Mühlengrabens lautstark in die Wupper. Der Zufall und ein Dartpfeil haben mich hergebracht.
In unserer neuen Sommerserie werfen wir mit Dartpfeilen auf eine Karte des Leverkusener Stadtgebiets. Den Ort, an dem der Pfeil landet, besuchen wir für zwei Stunden – und schreiben auf, was wir dort erleben.
Ratlos am Ufer der Wupper
Mein kleines Abenteuer an Mühlengraben und Wupper beginnt am Montag um 16.08 Uhr. Wenige Stunden zuvor ist mein Dartpfeil in einem grünen Dreieck zwischen den beiden Wasserläufen gelandet. Jetzt stehe ich am Ufer der Wupper und überlege, wie ich auf die andere Seite komme.
Ich bin von der Rheindorfer Straße auf den Fuß- und Radweg auf dem Deich des Mühlengrabens abgebogen und habe direkt nach links den Schotterweg eingeschlagen. In das Dartpfeil-Dreieck komme ich so aber nicht.
Also weiter durch Büsche, mit Vorsicht vorbei an Dornen und ein paar Meter weiter wieder zurück auf den Deich. Die Gedanken sollte ich jetzt nicht zu sehr schweifen lassen, sonst stolpere ich noch einem der unzähligen Radfahrer in den Weg, die hier unterwegs sind.
Die Strecke ist eine wahre Fahrradautobahn, ich erkenne Ausflüglerinnen und Pendelnde, Familien mit kleinen Kindern („Achtung, immer schön rechts fahren“, ruft der Papa) und Rentner. Klar, ich will mit den Menschen hier ins Gespräch kommen, nicht aber möchte ich mich ihnen kühn in den Weg werfen und sie zum Stopp zwingen.
Zu meiner Rechten liegen Kleingärten, die meisten sind nicht zu sehen. Einer aber erregt meine Aufmerksamkeit: Ich sehe junge und ältere Tannen, eine ganze Baumschule, dazwischen eine Säge, eine Werkbank, Bauwagen – und Hühner. Nein, nicht nur Hühner, auch ein Truthahn stolziert über das sonderbare Gelände. Eine Baumschulenhühnerfarm. Menschen sind nicht zu sehen, also ziehe ich weiter.
Endliche eine Fußgängerin
Ich setze mich auf eine Bank, die angekokelt, beschmiert und angesägt wurde. Es müffelt. Ich will gehen und erblicke im Mülleimer die leere Verpackung eines Lufterfrischers. Immerhin.
Endlich eine Fußgängerin! Astrid Maus kommt aus dem Gestrüpp nahe der Mühlengrabenmündung auf den Deich gestapft, Schweißperlen rinnen über ihre Stirn. Hinter ihr läuft Oskar. „Er ist ein Jagdhund“, sagt die 47-Jährige, „aber er jagt nicht. Vielleicht war das der Grund.“ Der Grund dafür nämlich, dass Oskar nicht mehr gewollt war und gerettet werden musste, mutmaßt Maus, die seit zwei Jahren das Frauchen des vermutlich sechs Jahre alten Franzosen Oskar ist.
In Frankreich habe auf Oskar nur der Tod gewartet, erzählt die Leverkusenerin, von Tierschützern sei er gerettet worden und schließlich in einer Auffangstation in Langenfeld gelandet. Über eine Kleinanzeige bekam er ein neues Zuhause und erkundet jetzt sein Bürriger Revier.
„Lässt er sich streicheln?“, frage ich, der früher große Angst vor Hunden hatte und heute noch immer ein bisschen. „Ja, aber klar“, antwortet Maus überzeugt. „Oskar könnte ein Therapiehund sein. Er liebt alle Menschen.“ Ich streichle über sein weiches Fell und liebe zwar nicht alle Hunde, aber den hier schon jetzt ein klein wenig.
Ich spaziere einmal den Deich entlang bis fast zur Reuschenberger Mühle. Kurz davor treffe ich Brigitte Otten und ihre Enkelin Liselotte, die auf einer Bank im Schatten sitzen. Sie tragen die gleiche kurze, blonde Fransenfrisur. „Im September ist sie zwei Jahre alt“, sagt die Ältere über die Jüngere, die nur „Nein“ sagt und ihren Kopf im Kinderwagen versteckt. Das Gespann ist hier oft unterwegs, und schaut gerne den Pferden und Ponys zu, die ein wenig weiter auf der Wiese grasen.
Aus Lottchen wurde Lise
Otten kann mir etwas zur Baumschulenhühnerfarm verraten. Auch dort steht sie schließlich öfter am Zaun und beobachtet die Hühner. Mit Liselotte, von der sie vor deren Geburt dachte, sie würde sie später „Lottchen“ rufen, die sie jetzt aber doch liebevoll „Lise“ nennt. „Da stand mal was vom Weihnachtsbaumverkauf, aber dann hat niemand Bäume verkauft“, sagt die 68-Jährige. Dann kündete ein Schild von frischen Eiern, die zum Verkauf stünden. Aber wieder ging Otten leer aus. „Ich habe da noch nie jemanden gesehen.“
Ich marschiere den Deich entlang zurück und frage mich, ob ich gerade einen Sonnenbrand bekomme. Ich gehe die Steinstufen runter zur Baumschulenhühnerfarm. Ich sehe hier auch niemanden, aber ein Weg führt in die Kleingartenanlage. Grüne Ranken mit jungen, noch lange nicht reifen Früchten ragen über die Zäune. Am Ende verschlungener Wege liegen sorgsam gepflegte Ziergärten und menschenleere Wiesen, auf denen nichts steht als ein gefülltes Planschbecken.
Eine Biegung weiter sehe ich gerade noch etwas Rotes durch ein Törchen in einer dicken Hecke verschwinden. „Entschuldigung“, rufe ich. „Entschuldigen Sie! Entschuldigung!“ Keine Reaktion. Am Törchen angekommen schaut mich Hubert Urlaub überrascht an. Rentner, 81 Jahre alt, früher Installateur, seit 20 Jahren pflegt er seinen Garten, hat sechs Kinder, „über Leverkusen verstreut“, und viele Enkelinnen und Enkel. Von der Enkelin in Schottland erzählt er umgehend, „die ist bald Doktor der Psychologie“, sagt Urlaub.
Hubert Urlaub fachsimpelt
Natürlich hat Hubert Urlaub mich nicht gehört, „das Hörgerät“, sagt er. „Wenn alle durcheinander reden, verstehe ich nichts. Und wenn Sie von weitem rufen, weiß ich überhaupt nicht, woher die Stimme kommt.“
Worauf er besonders stolz ist im Garten? „Die Tomaten“, sagt er. Er lässt mir den Vortritt, wir gehen zum Gewächshaus. Übermannshohe grüne Pflanzen mit prallen grünen Früchten stehen hier. Urlaub fachsimpelt über veredelte und nicht veredelte Pflanzen, über die richtige Erde („Die, in der nicht nur Scherben, Glas und Plastik ist“) und den großen Tomatenhunger der großen Familie, die hier im Garten am Wochenende grillt.
„Die Kinder nehmen die Tomaten gerne, die fragen jetzt schon nach. Zu viele waren es noch nie, nur zu wenige. Aber jetzt kommen Sie zu früh. Die Tomaten sind noch nicht rot.“
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Die Tomatenzucht falle ihm gar nicht mehr so leicht, sagt Urlaub. Die Bestäubung funktioniere nicht mehr so. „Die letzten Jahre sieht man kaum noch Insekten.“ Aber trotzdem: Nach 20 Jahren kenne er doch sicher das Geheimnis für die leckersten Tomaten, nicht wahr? „Das möchte ich nicht sagen“, erwidert Urlaub. „Sie sind aber bescheiden“, sage ich. „Wenig sprechen, schlau denken“, sagt Urlaub.
Ich will mich gerade verabschieden, da sagt er: „Da ist eine.“ Urlaub bückt sich und pflückt mir eine dicke rote Tomate. Die erste des Jahres. Sie riecht herrlich. Er kennt also doch das Geheimnis.
Es ist 18.08 Uhr. Wie schön es hier doch ist!