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Start der Leverkusener JazztageGewaltiger Auftritt von Max Mutzke und Marialy Pacheco

Lesezeit 4 Minuten
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Max Mutzke und Marialy Pacheco beim Auftaktkonzert der Jazztage im Erholungshaus.

Leverkusen – Es ist bekannt, dass Musik – neben einer ganzen Menge sonstiger Wunderbarkeiten – vor allem diese eine, besondere Kraft besitzt: Sie kann alle, die ihr in einem bestimmten Moment an einem bestimmten Ort lauschen, für die Dauer ihres Erklingens vergessen lassen, dass in der Welt draußen mal wieder alles drunter und drüber geht.

Das kann man, wenn man es negativ sehen möchte, Eskapismus nennen, also das bewusste Verleugnen der Realität und die daraus resultierende Flucht. Das kann man aber auch einfach wichtig, essenziell und schön nennen. Fest steht in jedem Fall: Von dem Augenblick an, als Marialy Pacheco – Sidekick von Sänger Max Mutzke – am Donnerstagabend um zehn Minuten nach acht die Bühne im Erholungshaus betritt, ist es mal wieder soweit: Musik an. Welt aus. Auftakt der 42. Leverkusener Jazztage.

Lachen und Dankesgesten

Pacheco lacht, wirft immer wieder ihre Hände vors Gesicht. Legt sie zur Dankesgeste zusammen. Verbeugt sich tief. Das ist ehrliche Freude als Reaktion auf diesen Applaus der Erleichterung von knapp 1300 Händen im ausverkauften Saal. Freude darüber, dass die Musik endlich wieder ihre Wirkung tun kann.

Natürlich: Da ist immer noch die pandemische Lage. Und, ja: Die Infektionszahlen sind nach wie vor hoch. Indes: Alle wissen, dass es mittlerweile Dinge gibt – Impfungen, die bei den Jazztagen am Einlass sichtlich konsequent angewendete 2-G-Regelung –, mit denen diese maximale Misere der jüngeren Menschheitshistorie zumindest soweit in den Griff bekommen werden kann, dass dies wieder möglich ist: Künstlerinnen und Künstler betreten eine Bühne. Spielen sich die Seele aus dem Leib. Und ein Publikum ist wieder dabei.

Applaus für den Applaus

Auch die Jazztage hatten ja quasi pausieren müssen. Waren 2020, während des Lockdowns, nur per Internet-Stream zu sehen gewesen. Musik ohne zuhörende Musikliebende. Eine üble, eine deprimierende Mischung. Und ein schwaches Substitut für das wirklich Wichtige, wie sich an diesem Abend der Rückkehr zeigt, den Festivalchef Fabian Stiens mit einem Applaus für den Applaus und die Anwesenheit der Menschen im Saal zuvor eingeleitet hat. „Danke, dass ihr da seid. Klatscht ruhig einmal für euch selbst!“

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Max Mutzke und Marialy Pacheco spielten zum Auftakt der 42. Leverkusener Jazztage im Erholungshaus.

Nun setzt sich Pacheco an den Steinway-Flügel, spielt minutenlang eine Mischung aus Salsa und Jazz, mal hörbar improvisiert, mal mit festen Melodiestrukturen durch den Raum flirrend. Dann kommt Mutzke gemächlichen Schrittes hinzu und sagt: „Ich habe gerade eben hinter der Bühne Gänsehaut bekommen, als ich hörte, wie Marialy rauskam und von euch begrüßt wurde.“

Bedeutung bis zum Bersten

Klar, dass da kurze Zeit später ein Song wie „Wir sind die beste Idee“ folgen muss, der durch die Ereignisse der vergangenen eineinhalb Jahre plötzlich bis zum Bersten mit Bedeutung aufgeladen ist. Nicht verwunderlich, dass das Stück „Nimmst du mich in den Arm“ beinahe schon als Post-Lockdown-und-Kontaktverbot-Flehen in die Gefühlswelt der Anwesenden kracht. Und vielleicht ist all das auch bis zu eine gewissen Grad Künstler-Kalkül.

Aber an einem Abend wie diesem ist das vor allem eines: Es ist vollkommen, um es salopp auszudrücken, wurscht. Musik will und muss nun einmal mit einer gewissen Gewaltigkeit daherkommen. Einer Gewaltigkeit im Sinne von: Sie rammt Herz, Hirn und Seele. Und das tut sie, wenn sie in den Händen von Pacheco und Mutzke liegt.

Maximale Song-Wirkung

Auch weil Mutzkes Songs gerade in jenem Gewand, das ihnen hauptsächlich von dieser erstklassigen kubanischen Musikerin für die Jazztage übergestreift wurde, ihre maximale Wirkung entfalten: Jeder ansonsten auf Platte zu hörende Produktions-Schmonz – sprich: Drumcomputer, das mittlerweile übliche Elektro-Geplucker, Synthesizer – ist weg. Und zwar weg, ohne zu fehlen.

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Dafür werden plötzlich Geschichten erzählt von Zweisamkeit, Einsamkeit, von Autofahrten zum Meer, von im Kassettenrekorder rotierenden Kassetten, die runtergebrochen sind auf das Wichtigste: auf die Stimme des Kerls, der sie erzählt und die endlich einmal mit ihrer Mischung aus Klarheit und souliger Kratzbürstigkeit vollends ausgespielt daherkommen.

Mitschnippen, -singen, -klatschen

Und nicht zuletzt, weil diesen beiden Personen auf der Bühne des Erholungshauses die Freude, nach so langer Zeit endlich wieder vor Publikum auftreten zu dürfen, in jeder Sekunde anzumerken ist. Sie animieren die Leute zum Mitschnippen, Mitsingen, Mitklatschen – und kriegen sie umgehend. Sie umarmen die Zuhörenden ein ums andere Mal verbal.

Und sie schenken allen einen letzten, ganz besonderen Moment, wenn sie Mutzkes melancholisches „Schwerelos“ im völligen Dunkel, ohne technischen Schnickschnack und akustische Verstärkung durchs Erholungshaus schwirren lassen. Das ist tatsächlich ergreifend.

„Einfach zu ergriffen“

Lea Sauter, gleichsam Zuschauerin wie Helferin bei den Jazztagen seitens des Vereins „Jazz Lev“, sagt danach mit dem Handy in der Hand am Rand des Saales stehend und die wieder hinaus in die Drüber- und Drunter-Welt hinausströmenden Menschen beobachtend: „Ich konnte heute keine Fotos oder Videos für mich machen. Ich war einfach zu ergriffen.“ Ein Satz, der es besser nicht treffen könnte. Die Jazztage sind zurück. Und die Menschen sind dabei.