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Morsbroich-Direktor im Interview„Okay, lass' uns hier einen Neuanfang probieren“

Lesezeit 12 Minuten
Jörg van den Berg Direktor Museum Morsbroich

Jörg van den Berg sieht ein Museum nicht als einen Ort, „an dem die Gäste alles verstehen“.

Herr van den Berg, seit gut drei Monaten sind Sie nun Museumsdirektor in Morsbroich. Was hat Sie in dieser, Ihrer bisherigen Leverkusener Zeit – und das muss nicht zwingend etwas mit dem Museum zu tun haben – am meisten überrascht?

Jörg van den Berg: Nun ja. Das kann ja nur mit dem Museum zu tun haben, denn ich mache bislang tatsächlich nichts Anderes. Und da ist es so: Ich habe das immer stärker werdende Gefühl, dass es in dieser Stadt eine große Sehnsucht gibt, dass dieser Ort hier vitaler werden soll und so auch zu einem gefestigten, nicht mehr gefährdeten Ort. Ich bin jedenfalls noch auf niemanden gestoßen, der nicht die Lust hatte, zu sagen: „Okay, lass‘ uns hier einen Neuanfang probieren!“ Ich habe das Gefühl, dass in meinen ersten Monaten schon einige Türen aufgegangen sind. Ob wir da jetzt durchgehen und wer mitgeht und was dann hinter der jeweiligen Türe steht, das kann ich natürlich noch nicht sagen.

Ich habe diese Frage gestellt, weil Leverkusen ja meist beschrieben wird als Industriestadt, Vizekusen-Stadt, Chemiestadt, Stadt des Aspirins, Stadt ohne Geld, Stadt des fast geschlossenen Museums.

Sie meinen: Da ist wenig Positives.

Ganz genau.

Natürlich haben Sie recht: Das Bild, das von Leverkusen nach außen getragen wird, basiert häufig auf der Frage: „Ja, wo ist denn nun die eigentliche Stadt?“ Aber wissen Sie: Ich bin leidenschaftlicher Fußgänger, mit Hund, und erwandere mir eine Stadt am liebsten. Und ich kann Ihnen sagen, dass ich bei meinen – leider, leider noch zu wenigen! – Gängen durch Leverkusen beispielsweise die historischen Arbeitersiedlungen entdeckt habe. Und wenn Sie sich mal diesen Kranz von Siedlungen anschauen, der sich da um Wiesdorf herumrankt, dann sieht das danach aus, dass das sehr funktionierende Einheiten sind, die auch eine gewisse Sorgsamkeit und Achtsamkeit gegenüber dem Gesamt-Ensemble haben. Und das hat mich wirklich überrascht. Da habe ich sofort gedacht: „Da schlummert Potenzial.“

Jörg van den Berg Morsbroich_1

Morsbroich soll laut Jörg van den Berg ein Ort werden, an dem Unterschiede und Differenzen gefeiert werden.

Klar: Das mag vielleicht auch meiner Ruhrgebiets-Perspektive geschuldet sein. Meine Mutter stammt aus einer Eisenbahnersiedlung in Duisburg. Und wenn sie aus ihrer Kindheit erzählt, dann sind das – ungeachtet der Kriegserlebnisse – eigentlich immer positive Erzählungen. Man merkt, dass dieses Zusammenleben eben auch in Leverkusen eine ganz spezifische Qualität hat. Jeder hat zwar sein eigenes Häuschen – aber hinten kommen alle Gärten zusammen und es gibt Durchschlupfe.

Das haben Sie sehr liebevoll beschrieben.

Finden Sie? Ich hole Gäste, die mich in Leverkusen besuchen und mit der Bahn anreisen, grundsätzlich auf der Rückseite des Bahnhofs in Wiesdorf ab – und nicht vorne. Weil man da eben direkt in einer solchen Siedlung ist und auf dem Weg raus erstmal unter zwei schönen Torbögen hindurchfährt und am Elephantenbrunnen vorbeikommt. Und die Leute sagen jedes Mal: „Das ist aber irre hier!“ Letztlich ist es doch relativ zu sagen, was eine hässliche Stadt ist. Wir hier im Westen denken als gebrandmarkte Industriestädter ja immer: „Was müssen die Menschen in Hamburg glücklich sein!“ Aber in den Rankings liegen die Städte hier bei uns immer ganz vorne, wenn es um die Verbundenheit und Liebe der Menschen zu ihrer Stadt geht. Und das muss ja irgendwo herkommen. Selbst wenn Leverkusen natürlich Wunden hat.

Zum Beispiel?

Als ich neulich mit einem Bekannten unter der Ypsilonbrücke entlangfuhr und ihm sagte: „Schau‘ mal: Das dahinter ist das Rathaus“, sagte er: „Das sieht aber eher nach der Zufahrt zu einem Flughafen aus.“ Auf der anderen Seite gibt es sowas wie den Dhünntalweg vom Altenberger Dom runter nach Morsbroich. Eine ebenso schöne wie lehrreiche Tour! Und das zeigt doch: Es gibt Schwachstellen – aber eben auch Preziosen.

Wie viele Wanderungen haben Sie in der kommenden Zeit noch geplant?

Ich würde am liebsten durch jeden Stadtteil eine geführte Tour mit Menschen machen, die sich vor Ort auskennen. Ortsbürgermeister, Vereinsvorsitzende, Stadträtin, ‚Ureinwohner und -Einwohnerinnen, halt Menschen, die ihren Kiez kennen und lieben. Das wäre sicherlich wichtig, um diese Stadt zu verstehen. Und um das dann in einen Denkprozess mitzunehmen: Wie kann dieses Museum mit diesem spezifischen Ort in Verbindung kommen? Wir müssen mehrdimensional denken und eben auch Menschen versuchen mitzunehmen, die bisher keine Verbindung zu Morsbroich aufbauen konnten.

Diese Arbeitsweise ist, nun ja, ungewöhnlich.

Vielleicht. Aber mein Selbstverständnis ist es nunmal, mich nicht allein mit der Kunst zu beschäftigen und mich nur dort auf die Suche nach für unsere Zukunft relevanten Fragen und Antworten zu machen. Ich kann nicht aus meinem Büro rausspazieren und dann nicht auf unsere Stadt und ihre Probleme schauen. Die Künstlerinnen und Künstler holen ihre Anregungen ja auch irgendwo her.

Zur Person

Jörg van den Berg ist seit 1. August Direktor des Museums Morsbroich in Leverkusen, das sich in Trägerschaft der Stadt befindet. 1965 in Duisburg geboren, hat Van den Berg in Gießen, Basel und Bochum Kunstgeschichte, Philosophie und Neuere Geschichte studiert.

Seit 2018 war Jörg van den Berg Direktor des Museums Große Kunstschau Worpswede in Niedersachsen. Zuvor hat er für die privaten Universitäten in Witten/Herdecke und Friedrichshafen sowie für Kunstvereine und private Stiftungen gearbeitet.

Und wenn ich sage, ich möchte die Kunst auf ihre gesellschaftliche Relevanz hin überprüfen, sie ins Gespräch bringen, dann muss ich doch wissen, was da draußen vor den Toren von Morsbroich eigentlich los ist. Ich freue mich beispielsweise sehr, dass ich demnächst den ersten Termin mit dem Leverkusener Integrationsrat habe. Das ist für mich genauso wichtig, wie die Verbindungen zur Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf, zur Kölner Hochschule für Medien und anderen Hochschulen bzw. Akademien in der erweiterten Umgebung zu intensivieren.

Sie sprachen eben von Türen, die aufgehen. Das sind ja schonmal eine ganze Menge Türen.

Ja. Und wenn ich wir die nicht öffnen, nicht über die Schwelle unseres engeren Kunstsystems gehen, dann können wir auch nicht wissen, was dahinter an Potenzialen liegt.

Mit der ersten Ausstellung während Ihrer Amtszeit, bei der alle Mitglieder des Museumsteams ihre Lieblingsstücke aus der Sammlung des Hauses auswählen und zeigen durften, machen Sie Kunst nahbar. Denn der Hausmeister war ebenso dabei wie der Direktor. Das ist wichtig. Das ist etwas, das die hier handelnden Personen in der Vergangenheit nicht immer geschafft haben.

Mag sein. Aber ich will da keine falschen Erwartungen aufkommen lassen. Es ist letztlich so: Wenn ich sage, ich möchte einen Ort der Zuwendung haben, der sich öffnet, dann hat das nichts damit zu tun, dass ich weniger radikal bin, was die Entschiedenheit betrifft, was hier ins Museum kommt und wie wir das zeigen. Es bedeutet einfach: Wir müssen darauf achten, dass wir das „Wie“ des Zeigens und das „Wie“ des Redens stärker mitbedenken, als es andere womöglich tun. Und dass wir – bewusst überspitzt gesagt! – gerade auch für viele Menschen total Unverständliches ins Haus lassen. Denn ein Museum sollte nie ein Ort sein, an dem die Gäste alles verstehen. Wenn das so wäre, hätte ich meinen Job verfehlt. Was ich aber möchte ist, dass das Museum ein Ort ist, an dem ein mögliches Nichtverstehen nicht zu Angst oder Ablehnung wird, sondern die Neugier der Menschen weckt. Nehmen wir mal das Internet, um das zu veranschaulichen: Wenn wir heutzutage dort unterwegs sind, dann befindet sich ja jeder von uns aufgrund der Algorithmus-Gestaltung in seiner eigenen Blase. Etwas Neues ist für den einzelnen Menschen dort nur selten zu finden.

Das ist richtig. Das Netz merkt sich unsere Klicks und zeigt uns dann ständig Werbeseiten auf, die auf genau diesem Nutzerverhalten basieren. Alles ist auf mich als User zurechtgeschnitten.

Eben. Es wird einem immer alles mundgerecht serviert. Ein Museum aber ist ein ganz anderer, ein toller Ort, an dem es doch letztlich so läuft: Ich komme dahin – und ich weiß nicht, was mich erwartet. Ich kann es auch nicht kontrollieren. Ich muss mich dem einfach aussetzen. Es ist somit ein Ort, der für Neues steht. Für Fremdes.

Fremdes kann auch Angst oder Argwohn erzeugen.

Leider ein Charakteristikum unserer Beharrungskultur. Ein unsere Gesellschaft zunehmend bedrohendes Charakteristikum. Alles Fremde produziert bei zu vielen Menschen Ängste – total schlimm! Also: Gedanken, die ich nicht verstehe. Oder Menschen, die mir fremd sind. Das ist brutal schade. Denn: Das Gegenteil davon wäre doch Neugier. Sprich: Wenn ich auf einen Menschen zugehe, dessen Sprache ich nicht spreche, den ich nicht kenne, dann könnte ich ja auch sagen: „Okay, ich verstehe dich zwar nicht. Aber wie können wir trotzdem zueinander finden? Wo ist unsere urmenschliche Gemeinsamkeit? Was lerne ich von dir?“ So sollten wir auch ans Museum beziehungsweise die Kunstwerke herangehen.

Wie sehr ärgert es Sie, wenn man diese Haltung als zu populistisch oder zu lokal gedacht markiert?

Das ärgert mich nicht, das macht mich nur traurig. Ich bin eben der Überzeugung, dass wir uns eine solche Haltung Nicht-Zuwendung auch an kunstferne Kreise, der Nicht-Einmischung in die uns unmittelbar umgebenen Lebensfelder nicht mehr leisten können. Auf Leverkusen bezogen heißt das: Es geht hier gar nicht um die Neu-Justierung des Museum Morsbroich. Es geht darum, dass wir diesen Ort als ein radikales Experimentierfeld dafür sehen, welche Form und welchen Inhalt ein Kunstmuseum heute annehmen kann. Es ist für mich ein Paradigmenwechsel angesagt.

Wie sieht der aus?

Mein Ziel ist es – auch wenn das natürlich ein Wunschbild ist –, dass Morsbroich ein wertfreier Raum wird, an dem Unterschiede und Differenzen gefeiert werden. Ein Raum, an dem sich Menschen unterschiedlichster Art treffen, miteinander ins Gespräch kommen, sich auch mal in die Haare kriegen. Ich wünsche mir, dass unsere Gäste und wir aber am Ende des Tages alle voneinander lernen, nach Hause gehen und sagen können: „Ich habe vielleicht nicht alles verstanden, aber gut, dass ich da war.“ Und die Kunst gibt den Impuls dafür. Das ist aktuell eine unserer Kernaufgaben.

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Harald Szeemann, der quasi den Begriff des Ausstellungsmachers erfunden hat, sagte schon in den 1980er Jahren: „Ein Museum für Gegenwartskunst ist einer der wenigen öffentlichen Räume, in denen man Fragiles erproben kann.“ Das klingt jetzt erstmal total harmlos. Aber wenn Sie sich anschauen, was für eine Schreihals-Kultur mittlerweile Einzug in unsere öffentlichen Räume gehalten hat – in soziale Medien, Parlamente – dann meint man doch: Wer lauter schreit, hat recht. Sprich: Da können wir nur kaum fragile Dinge positionieren. Da wird Vieles sofort zerstört. Im Museum hingegen ist das noch anders.

Nahezu sämtliche Museumsleiter und Museumsleiterinnen vor Ihnen haben ihre Spuren in Morsbroich hinterlassen. Die Namen Kultermann oder Wedewer wirken noch immer nach. Wie wollen Sie später einmal im Rückblick wahrgenommen werden?

Ich mache mir überhaupt keine Gedanken, hier an meinem späteren Ruf zu arbeiten. Im Gegenteil: Wir sind hier in Morsbroich beim Blick in die Zukunft auch immer sehr mit der Historie dieses Hauses beschäftigt. Das umfasst etwa die Frage: „Wie bekommen wir unsere Sammlung präsentiert?“ Wir sind ja ein Museum, das keine dauerhafte Sammlungsausstellung hat. Stellen Sie sich das mal beim Museum Ludwig in Köln vor! Nein: Wir bekommen keine Zukunft ohne Vergangenheit. Klar: Wenn ich groben Unfug baue, bin ich auf einmal der Totengräber des Hauses. Aber das bringt jede Führungsposition mit. Ich gehe das hier mit sehr viel Demut an. Wenn am Ende der nächsten Dekade das Museum eine ganz unverwechselbare Kennung hat, die regional wie überregional die Menschen anzieht, wenn es uns gelungen sein sollte, das gesamte Ensemble in Wert zu setzen, das meint die bestehende Bausubstanz optimal und zu 100% ausgenutzt zu haben, den inneren Garten wie den äußeren Park zu hochattraktiven öffentlichen Verweil- und Begegnungsorten gestaltet zu haben und wenn es uns gelingt das Museum etwas näher an die Leverkusener*innen herangeführt zu haben, dann wäre sehr sehr viel gewonnen – für die Kunst, die Stadt und für die Menschen.

Sie sprachen eben davon, dass Sie eine eher unübliche Vita für einen Museumsdirektor haben. Mich als, zugegeben, Fussball-Nerd erinnert das ein wenig an die neue, mittlerweile gefeierte Trainergeneration im Profifußball. Sie wollen hier etwas bewegen und vieles neu machen. Im Fußball sind derlei neue Impulse in den vergangenen Jahren von Trainern wie Jürgen Klopp, Julian Nagelsmann oder Thomas Tuchel ausgegangen. Jörg van den Berg als Tuchel von Morsbroich – hört sich doch gut an, oder?

Da greifen Sie wohl aktuell noch etwas zu hoch. Aber ja, auch der Blick auf die neuen Entwicklungen im Fußball kann für die Arbeit an einem neuen Museum sehr inspirierend sein. In der Vielzahl von Zetteln an unseren „Denkwand“ hinter mir, finden Sie unter anderem zwei Zettel, auf denen steht: „Aufbrechen von Routinen“ und „Wir müssen lernen, mehr als ein System zu spielen.“ Beide Aussagen stammen von Thomas Tuchel. Und das ist genau das, was ich eben gesagt habe: Wir müssen in unserem bräsigen Land endlich lernen, dass nichts mehr außer Frage steht. Ich muss die guten Routinen stärken, aber auch den Mut haben, die schlechten zu ersetzen, und die Lust leben, mit anderen Menschen zusammen zu gestalten. Und das gilt auch für meinen Job als Museumsdirektor. Weil wir ein relativ kleines Team sind, haben wir da sogar Vorteile.

Inwiefern?

Wir spielen hier nicht in der Champions-League der Großinstitute wie die Bundeskunsthalle, das Museum Ludwig oder die Kunstsammlung NRW. Das gibt andere Freiheiten. Die von Ihnen genannten Trainer, die den Fußball stark verändert haben, haben alle in verhältnismäßig kleinen Vereinen angefangen. Und gerade Tuchel hat in der Vergangenheit bei Vorträgen genau erklären können, warum er bei seiner ersten Station im ‚kleinen‘ Mainz so einen Erfolg hatte: Weil sie mehrere Systeme spielen konnten und damit exklusiv dastanden. In Leverkusen denken wir immer: „Dies können wir nicht machen. Und das auch nicht. Wir haben kein Geld dafür.“ Aber dann müssen wir uns eben etwas Anderes überlegen. Ein anderes System. Wir müssen reagieren – und sind dann hoffentlich diejenigen, die ein Spiel immer häufiger gewinnen.