Der in Köln lebende Künstler HA Schult sorgt mit seiner Kunst seit Jahrzehnten weltweit für Aufsehen.
1969 bestritt er die erste Einzelausstellung seines Lebens im Leverkusener Museum Morsbroich.
"Biokinetische Situationen" nahm das Wesen einer Pandemie wie der durch das Coronavirus ausgelösten vorweg.
Was sagt er zu seiner Vorahnung?
Leverkusen – Herr Schult, Sie konzipierten 1969 eine Ausstellung im Museum Morsbroich, die zeigte, wie Pilze und Bakterien die Museumsräume – und symbolisch die Welt – erobern. Dabei entstand auch ein Bild, das Sie mit Atemschutzmaske zeigt. Die Parallelen zur derzeitigen Situation sind also unübersehbar.
Das ist richtig. Das Bild mit der Maske entstand 1969 anlässlich meiner Ausstellung „Biokinetische Situationen“. Es war meine erste große Einzelausstellung überhaupt. Erstmals in der modernen Kunst wurden biologische Veränderungen ganz sinnlich in einem Museum dargestellt. Leverkusen war seinerzeit eine von nur wenigen Städten in Deutschland, die ein junges und modernes Museum hatte. Es stand für den Aufbruch in einer jungen Bundesrepublik und hatte internationale Wirkung. Und das Besondere an meiner Ausstellung war, dass das Museum nicht das Kunstwerk eines Künstlers mitgebracht bekam, sondern selber quasi eine Ausstellung produzierte. Ich lebte als freier Künstler in München – und konnte dessen hervorragenden Leiter Rolf Wedewer Dank meiner Jugend und meines Elans beschwätzen, mich ins Museum zu lassen.
Welche Wirkung hatte „Biokinetische Situationen“ damals in der Öffentlichkeit?
Ich erinnere mich noch daran, dass viele Medien vom „Krieg der Mikroben“ sprachen oder titelten: „Diese Kunst stinkt zum Himmel.“ In vielen Publikationen wurde sie auch totgeschwiegen – weil sich die Leverkusener als Chemiestadt an den Pranger gestellt fühlten. Ich war der üble langhaarige Künstler aus München, der Kartoffelbrei auf den Boden des Museums legte. Dennoch: Heute wird meine Schau als Meilenstein der Kunstgeschichte bezeichnet. Das Bild mit Atemschutzmaske hat Symbolkraft und ist seit 50 Jahren allgegenwärtig.
Wie kamen Sie seinerzeit eigentlich auf die kurios anmutende Idee, sich mit Pilzkulturen und Bakterien zu beschäftigen, die sich der Welt bemächtigen – so wie heute das Coronavirus?
Ich war in Düsseldorf an der Kunstakademie. Mein Lehrer dort war der Maler Karl Otto Götz. Meine Kollegen waren unter anderem Gerhard Richter und Sigmar Polke – und angesichts solcher Künstler dachte ich: Die sind alle so gut im Malen und im Töpfern. Das reicht für die Zukunft der Kunst. Ich muss etwas Anderes machen. Schon als ich 1958 aus dem Fenster der Akademie schaute, stellte ich mir vor: Wenn die Bevölkerung über die Jahre wächst und sich die Produktion immer weiter steigert, dann werden wir am Horizont riesige Müllberge haben. Die Zukunft wird geprägt sein vom Müll und der Überproduktion. Und auf die Frage, wie man sich davon wiederum wieder befreien kann, kamen mir schließlich biologische Zersetzungsprozesse in den Sinn. Ich war überzeugt: Chemie und Biochemie können auch in der Kunst eine entscheidende Rolle spielen. In einem Raum des Museums habe ich dann beispielsweise Blaualgen ins Wasser gelassen und eine Lichtquelle auf sie gerichtet. Die Blaualgen wurden davon angezogen und starben. Und wuchsen wieder neu.
Ein Autor der „Süddeutschen Zeitung“ schrieb seinerzeit über Ihre Ausstellung: „Ich stelle mir vor, ein seltener Krankheitserreger findet in einer Ecke von Raum 5 ein Klima, das seine Vermehrung explosionsartig ansteigen lässt.“ Auch das klingt wie ein Verweis auf die aktuelle Lage.
Ja. Und genau das ist ja auch die Aufgabe von allen Künstlern: Den Zeitgeist auf diese Weise vorwegzunehmen. Es ist teilweise erschreckend, was ich mitunter vorweggenommen habe: Ich habe 1977 auf der Documenta ein Flugzeug über New York abstürzen und das live per Satellit übertragen lassen. Ich habe den Markusplatz in Venedig mit Papier überflutet und auf die Umweltverschmutzung hinzuweisen. Und dass nun auch meine Ausstellung in Morsbroich diese Aktualität bekommt – das ist nichts Neues. So geht es uns Künstlern ja häufig. Denn wir sind der Seismograph der Zeit.
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Hatten Sie als ein solcher Seismograph zuletzt ein Gefühl von „Ich habe es damals schon gewusst!“?
Nein, überhaupt nicht. Denn das ist für mich ein ganz normaler Vorgang. Und überhaupt: Ich sitze gerade an einem Projekt in Mailand, das gestoppt wurde und mich wirtschaftlich ruinieren könnte. Ich habe weitere Projekte in Afrika und Sankt Petersburg, die jetzt erst einmal ruhen. Kurz: Ein Jahr meiner künstlerischer Aktivitäten ist auf Eis gelegt. Ich habe derzeit also ganz andere Sorgen, als über so etwas nachzudenken.
Können Sie denn – wie den wuchernden Bakterien damals in Morsbroich – auch dem Coronavirus etwas Sinnliches abgewinnen?
Nun, was ich denke, wenn ich derzeit über eine leere Straße gehe: Genau in diesem Moment geht auch in New York und Peking und Tokio ein Mensch über eine leere Straße. Das alles ist ein kollektives Welterlebnis – und das ist einmalig. Der Mensch wacht auf und bemerkt, in welche Abhängigkeit er sich begeben hat. Corona ist der Medien-Superstar. Wir können nichts lesen oder sehen, ohne gleich davon eingeholt zu werden. Das Virus bestimmt unser Denken und unsere Gefühle. Und in den Häusern findet einen soziale Zäsur statt. Die Leute denken wieder daran, was ein Bild ausmacht, was ein Buch ausmacht. Wir könnten nun eine Lehre daraus ziehen und beispielsweise überlegen, in Zukunft vielleicht weltweit einen Monat im Jahr einzurichten, in dem wir alle innehalten.
Wann sehen wir Sie denn mal wieder in Leverkusen?
Vor der Corona-Umklammerung war ich in Gesprächen wegen einer Installation im Einkaufszentrum der Stadt. Ich hoffe sehr, dass es noch in diesem Jahr dazu kommen kann.