GeschichteWarum Leverkusen schon lange vor Bayer Farbenstadt war
Leverkusen – „Farbenstadt“. Früher war das mal ein gängiges Synonym für Leverkusen. Warum es das heute nicht mehr ist, ahnt man, nachdem Ellen Lorentz in zwei Stunden reichlich 300 Jahre Stadtgeschichte unter dem Farb-Aspekt abgeschritten hat.
Dass sie ihren Vortrag in der Villa Römer „Farben und Fasern“ überschrieben hat, ist klug. Denn es geht tatsächlich um Textilfarbe, deren Geschichte in Leverkusen 2009 ihr Ende fand: Da kam die Insolvenz von Dystar, jenem Unternehmen, in dem 1995 zunächst Bayer und die frühere Hoechst, ab 2000 die BASF und weitere wichtige Konzerne ihre Textilfarben-Sparten zusammengefasst hatten.
Patent-Schatzkiste für Singapur
Einschließlich aller Patente. Eine Know-how-Schatzkiste, deren Inhalt nach der Pleite in Deutschland nach Singapur wanderte, wo sie bis heute wirtschaftlich ausgebeutet wird. In Leverkusen blieben ein paar hundert Leute ohne Job zurück.
Dass Lorentz eine Geschichte des allmählichen Niedergangs nachzeichnen muss, ist keine Leverkusener Besonderheit. Sie hat damit zu tun, dass die einst blühende deutsche Textilindustrie ihre Bedeutung verlor, der Billigkonkurrenz aus Asien schließlich nicht mehr gewachsen war. Dorther kommt längst so gut wie alles, was wir auf der Haut tragen. Mit allen Fragen, die etwa die Arbeitsbedingungen aufwerfen. Ginge es nach deutschen Qualitätsstandards bei Material, Farben und Arbeitssicherheit – „ein T-Shirt müsste etwa 45 Euro kosten“, referierte Lorentz die Zahl eines Branchenkenners.
Ganz zu Anfang, als noch kein Friedrich Bayer, Carl Duisberg oder Carl Leverkus und Wiesdorf am Rhein eine Rolle spielten, sondern Andreae, Rhodius, Kulmann und Diergardt (noch ohne von) und Schlebusch, herrschten natürlich auch hier andere Verhältnisse: Es ging zunächst um Stoff, Andreae ließ in Bergisch Neukirchen und Lützenkirchen in Heimarbeit nähen. Und Schlebusch war ein Arbeiterdorf, von dem sich die Villen der Textilfabrikanten abhoben.
Die berühmten roten Inletts
Es dauerte bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, da kam im großen Stil Farbe ins Spiel. Weniger bekannt ist die Bedeutung des Opladener Herstellers Römer, der Plüsch für Sofas und Erste-Klasse-Abteile der Bahn herstellte, mit Haushaltstextilien und vor allem Kopfkissen-Inletts bekannt wurde. Alles in Türkischrot.
Aus dem kleinen Maßstab – und der Kostenfalle, die Schwefelsäure-Produzenten den Herstellern der späteren Teerfarben gestellt hatten – befreite sich Bayer nach dem Umzug aus dem verkehrlich schlecht gelegenen Elberfeld nach Wiesdorf. Am Rhein entstand ein eigener Schwefelsäurebetrieb, „einer der ältesten, die noch bestehen“, weiß Ernst-Rudolf Kunesch, der bis zum bitteren Ende Betriebsleiter bei Dystar war.
Der Aufstieg der Farbenfabriken verlief ebenso schnell wie der von Wiesdorf, wo das riesige Werk entstand: 2500 Einwohner im Jahr 1890, 1910 schon 12.000 und 1921 dann 21.000. Bis zum Ersten Weltkrieg hatte das Deutsche Reich auch den Weltmarkt für Textilfarben erobert: 87 Prozent der Produktion kamen von Bayer, Hoechst, BASF, Kalle und Co.
In der Perlon-Produktion arbeiteten viele Frauen
Der Absturz danach war extrem, was auch eine Folge des Versailler Vertrags war. Und zum Beispiel das Bayerwerk in Dormagen von einem Sprengstoff- zu einem Fasernbetrieb machte. In der Perlon-Produktion arbeiteten 1925 schon wieder 2000 Menschen, die Hälfte waren Frauen.
Fasern und Farben: So versuchte Bayer, auch nach dem Zweiten Weltkrieg an alte Erfolge anzuknüpfen. 1955 wurde eine neue Abteilung gegründet, die Bayers Produktion mit der Kundschaft verbinden sollte, jedenfalls die auf dem Modemarkt. „Trend und Styling“ wurde deshalb auch nicht im wohl als zu industriell empfundenen Leverkusen angesiedelt, sondern in Düsseldorf. Und da natürlich auf der Kö. Dort wurde mit Burda und Co. verhandelt, was farblich möglich war. „So konnte die Produktion verstetigt werden“, erklärt Ellen Lorentz die Hintergründe. Und gut fürs Image waren die Kontakte wahrscheinlich auch.
Eher zum Stichwort Fasern passt ein Phänomen aus den späten 60ern und frühen 70ern: das Nyltest-Hemd. Knitterfrei, aber nach einem Tag des Tragens eine olfaktorische Herausforderung. Männer, die so etwas trugen, schwitzten enorm. Synthetisch und atmungsaktiv – diese Kombi war noch unbekannt.
In den siebziger Jahren allerdings begann auch der unaufhaltsame Abstieg der deutschen Textilfarben-Industrie. Die Ölkrise machte Polyesterfasern viel teurer, Patente liefen aus, die Öko-Bewegung nahm ihre Anfänge. „Bloß kein Pony!“ Diesen Schlachtruf kennt Lorentz aus ihrer alten Heimat im Schatten der Hoechster Chemiefabriken.
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Kurz darauf verpassten sich die alten Konkurrenten Bayer, Hoechst, später BASF und andere, eine Konzentrationskur. Die Dystar-Gründung war ein letzter Versuch, Marktmacht aufzubauen. Aber schon ein Jahrzehnt später verloren die Teilhaber das Vertrauen in die Firma. 2005 ging Dystar an Platinum. Der Finanzinvestor hielt das deutsche Konstrukt noch knapp fünf Jahre am Leben. Dann kam die Insolvenz. Heute existiert Dystar nur noch in Singapur. Von der „Farbenstadt Leverkusen“ redet niemand mehr.