Leverkusener Dirigentin Bar Avni„Was gibt es denn, was Frauen nicht können? Nichts“
Bar Avni übernahm Anfang 2021 als Dirigentin die Bayer Philharmoniker und konnte aufgrund des Lockdowns lange nicht mit dem Orchester auftreten. Erst im Herbst leitete die Israelin im Forum ihr erstes Leverkusener Konzert – und dies gleich mit Verve und unbändiger Energie. Nun folgen das Silvester- und das Neujahrskonzert. Anlass genug also, um mit Bar Avni die vergangenen zwölf Monate noch einmal Revue passieren zu lassen und eingehend über Musik zu sprechen.
Frau Avni, sind Sie nach Ihrem ersten, so sehr von der Pandemie geprägten Jahr als Dirigentin der Bayer Philharmoniker dennoch in Leverkusen angekommen?
Bar Avni: Ja. Insofern, dass ich mich mit dem Orchester sehr wohl fühle. Die Arbeit macht beiden Seiten Spaß – und lohnt sich auch. Wir merken immer: Wir schaffen etwas. Das ist sehr schön. Aber natürlich habe ich durch dieses Jahr auch viel verloren.
Nämlich?
Ich hatte keinen Kontakt zum Publikum. Wissen Sie: Es gibt für mich als Dirigentin ja immer zwei Seiten. Da ist die eine Seite vor mir mit dem Orchester. Und da ist die andere Seite, die hinter mir, beim Konzert: das Publikum. Ich bin als Dirigentin eine Mittlerin. Ein Medium. Sprich: Der Kontakt mit dem Publikum ist extrem wichtig. Und der fiel ja bis auf das Konzert im Herbst im Forum und eines in Köln weg.
Mit Verlaub: Sie stehen als Dirigentin mit dem Rücken zum Publikum. Sie sehen die Leute nicht. Welcher Art kann denn da dieser Kontakt sein, den Sie ansprechen?
Ich stehe zwar mit dem Rücken zu den Leuten. Aber ich kann auch hinter dem Rücken eine Energie spüren. Das Publikum strahlt sie aus. Und diese Energie gibt mir Kraft. Die wünsche ich mir fürs kommende Jahr zurück. Genauso wie die direkte Kommunikation beim Gespräch mit den Leuten. Wenn ich mit ihnen etwa über das Konzert rede und über das, was wir spielen. Bei einer Werkseinführung etwa.
Spüren Sie auch die negative Energie, wenn das Publikum einmal nicht zufrieden ist?
Auch die würde ich spüren, ja. Aber: Livemusik generell ist ja so ein starkes Erlebnis, dass das Publikum zu 90 Prozent begeistert ist. Und die klassische Musik hebt sich da noch einmal von anderen Musikstilen ab. Sie hat eine ganz eigene Kraft – aufgrund der Instrumente. Es sind bei einem Orchester so viele, dass sie die Luft bewegen im Raum. Im wörtlichen Sinne. Und diese Bewegung ist so stark, dass man unmöglich nicht begeistert sein kann. Es ist eine physische Berührung.
Sie sprechen von der „ganz eigenen Kraft“ der klassische Musik. Was halten Sie denn von der in Klassikkreisen gerne gesehen Unterscheidung zwischen E- und U-Musik?
Was ist das?
Naja: Ernste Musik – also klassische Musik. Und Unterhaltungsmusik – quasi alles Andere.
Ah, interessant. Diese Unterscheidung kenne ich nicht. Und das dürfte auch gleichzeitig die Antwort sein. (lacht) Beziehungsweise: Egal, was für eine Art Musik es ist – es ist allein wichtig, was diese Musik mit Ihnen macht.
Auf jeden Fall ist klassische Musik meist rein instrumental. Was bedeutet: Es wird nicht durch Texte erklärt, um was es in einem Stück geht. Das muss rein durch die Musik gelingen. Stichwort: Kopfkino.
Genau. Das ist dann tatsächlich das Schöne an der klassischen Musik: Man kann enorm viel wissen über Werke und über Komponisten und über das, was da gerade aufgeführt wird. Aber man muss es nicht. Man muss die Musik nicht verstehen. Es gibt ja sogar professionelle Musiker, die nicht alles verstehen. Und das ist überhaupt nicht schlimm. Es geht nämlich darum, in den Saal zu kommen – und loszulassen. Und wenn man dabei einschlafen sollte, ist das auch egal. Denn ein paar Reihen weiter sitzt währenddessen sicher jemand, der völlig aufgekratzt ist. Das ist das Schöne an der Musik: Sie kann so viele Emotionen wecken!
Tickets und Informationen
Das Silvesterkonzert der Bayer Philharmoniker unter der Leitung von Bar Avni beginnt am Freitag, 31. Dezember, um 17 Uhr im Forum. Aufgrund der reduzierten Saalbelegung sind keine Karten mehr verfügbar. Dennoch empfiehlt die „Kultur-Stadt-Lev“ einen Blick auf ihre Webseite oder eine Nachfrage unter ☎0214/4064113.
Das Neujahrskonzert ist am Samstag, 1. Januar, um 17 Uhr im Erholungshaus. Veranstaltet wird es von der Bayer-Kultur. Tickets bei „Köln-Ticket“, Infos unter ☎0214/3 04 12 83. (frw)
www.kulturstadtlev.dewww.koelnticket.dewww.bayer-philharmoniker.de
Ich lade das Publikum ein, etwas zu erleben – auch wenn es vielleicht nicht jedem gefällt. Muss es ja nicht. Denn dann hat es ja trotzdem etwas mit einem gemacht. Es ist Kunst. Man kann damit offen umgehen.
Sind Sie denn selber schon bei klassischen Konzerten eingeschlafen?
Ja, sicher! Und wie gesagt: Das ist völlig okay. Es ist doch wesentlich schlimmer, beim Autofahren einzuschlafen als beim Konzert.
Wie groß ist denn die Gefahr, dass die Menschen an Silvester und Neujahr bei Ihren beiden „Americana“-Konzerten mit den Bayer Philharmonikern im Forum und im Erholungshaus einschlafen?
Sehr gering! Wir haben nämlich ein sehr mutiges Programm zusammengestellt.
Was bedeutet „mutig“?
Sagen wir so: Hätten wir jetzt schon mehr Konzerte gespielt, wäre das Programm vielleicht anders ausgefallen. Vor allem leicht und lustig. Und das ist „Americana“ ja auch – durch Arnold Schönberg oder Dmitri Schostakowitschs Klavierkonzert. Das wird reich an Bildern und mitunter schon fast Cartoon-Musik sein. Eine Erinnerung an seine Kindheit. Aber dem gegenüber steht dann eben auch die 2. Sinfonie von Charles Ives, die ganz anders ist.
Müssen Sie als Dirigentin das letzte Wort haben, wenn es um solch ein Konzertprogramm geht?
Ja, ich muss das letzte Wort haben, weil ich – was ich gerade lerne – ein Orchester eben auch managen muss. Aber: Es ist nicht das letzte Wort der Art „Wir machen nur das, was ich sage!“. Es ist vielmehr das letzte Wort der Art: „Okay, so machen wir es dann!“ Es gibt in einem Orchester verschiedene Aufgaben und Zuständigkeiten. Und ich bin nicht in alle involviert.
Wann haben Sie gespürt: Dieses Orchester, die Bayer Philharmoniker, das ist es wert?
Ich spüre es in den Proben immer wieder. Wenn ich irgendwo nur zu Gast bin und beispielsweise nur eine Woche zur Verfügung habe, um mit einem Orchester zusammenzuarbeiten, dann sind meine musikalischen Möglichkeiten begrenzt. Das hat dann wenig von meiner Vision, die ich als Dirigentin immer habe. Bei den Philharmonikern dagegen ist das sehr tiefgehend. Es geht um langfristige Arbeit. Die Musik muss reifen. Es muss sich etwas entwickeln, verbessern. Und das ist bei den Bayer Philharmonikern der Fall. Sie mögen nicht das beste aller Orchester sein. Aber: Sie haben diese Fähigkeit zu reifen. Die Musikerinnen und Musiker haben den Willen dazu. Und diese Momente der Entwicklung und Verbesserung, die gibt es in unseren Proben immer wieder. Die kenne ich bislang nur von den Bayer Philharmonikern. Und in diesen Momenten merke ich, dass die Entscheidung absolut richtig war.
Frau Avni, nach Auskunft des Senders BR-Klassik wurden im Jahr 2017 von 130 Orchestern in Europa nur drei von Frauen geleitet. Und auch, wenn diese Statistik bereits vier Jahre alt ist, dürfte das Verhältnis immer noch recht eindeutig sein. Wie denken Sie als Frau, die einem Orchester vorsteht, über das Thema Gleichberechtigung, gerade in der Musikbranche?
Ich musste erst einmal lernen, dieses Thema wahrzunehmen, denn ich hatte Glück: Ich hatte Eltern, Lehrerinnen und Lehrer, die mich stark unterstützten, sodass das kein Thema für mich war. Aber: Es ist eines! Männer und Frauen sind nicht gleich. Eine Frau auf der Bühne ist anders. Wenn ich auf der Bühne stehe mit meiner femininen, weiblichen Energie, mit meinem Körper, meinem Gesicht, meiner Stimme, meinem Leben als Mutter und auch meiner Herkunft aus Israel – dann macht das einen Unterschied. Auch wenn es mich nicht besser oder schlechter macht.
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Ich bin eben ich. Bar Avni. Aber dass wir beides haben können in der Musik, Männer und Frauen, ist doch toll! Was gibt es denn, was Frauen nicht können? Nichts. Frauen können Kanzlerin sein. Frauen können physisch schwere Arbeiten erledigen. Alles. Und ich denke, es gibt mittlerweile auch mehr Frauen, die Chefdirigentinnen sind. Es wird immer besser. Man muss nicht mehr darüber sprechen, ob es mit einer Frau geht oder nicht. Diese Zeiten sind vorbei.