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„Wir stapeln Menschen“ NRW-Bürgermeister wissen nicht mehr, wie sie weitere Flüchtlinge unterbringen sollen

Lesezeit 6 Minuten
Flüchtlinge in Zelten, Wohncontainern und Turnhallen gehören auch in NRW längst wieder zur Realität. Ein kleiner Junge fährt auf einem Fahrrad zwischen Planen hindurch, ein kleines Mädchen eilt hinter ihm her.

Flüchtlinge in Zelten, Wohncontainern und Turnhallen gehören auch in NRW längst wieder zur Realität.

Zahlreiche Unterkünfte für Geflüchtete im Großraum Köln sind überbelegt. Aber immer mehr Menschen müssen untergebracht werden. Turnhallen sind schon nicht mehr tabu.

Robert Lennerts spricht von Verzweiflung und Ratlosigkeit. „Die Kommunen gehen am Krückstock und nirgendwo ist eine Lösung in Sicht“, sagt der Bürgermeister der Gemeinde Odenthal im Rheinisch-Bergischen-Kreis. Immer mehr Aufgaben, immer weniger Geld, und dann noch die Flüchtlingsunterbringung. „Wenn man den Menschen eine vernünftige Unterkunft geben möchte, sie integrieren, ihre persönlichen Schicksale und kulturellen Unterschiede berücksichtigen möchte, dann hätten wir Platz für etwa 180 Personen“, so Lennerts.

Odenthals Bürgermeister Robert Lennerts (parteilos) sitzt an einem Tisch vor einer holzgetäfelten Wand. Er will lieber zurücktreten, als Turnhallen für die Flüchtlingsunterbringung zu nutzen.

Odenthals Bürgermeister Robert Lennerts (parteilos) will lieber zurücktreten, als Turnhallen für die Flüchtlingsunterbringung zu nutzen.

Mittlerweile aber sind es fast 500. Vier Personen auf 18 Quadratmetern. „Das kann mal eine Ausnahme sein, für ein paar Tage, doch die Ausnahme ist längst schon quälende Normalität“, beklagt der parteilose Politiker. Und wenn es nach dem Land geht, sollen jetzt noch mehr Flüchtlinge kommen. „Wir stapeln Menschen“, hat die örtliche Integrationsbeauftragte die Situation in Odenthal vor Kurzem beschrieben: „Wir verwalten den Mangel, und das Licht am Ende des Tunnels – wir sehen es nicht.“

Mit der drangvollen Enge wüchsen die Spannungen: „Es ist nicht mehr angenehm, in die Unterkünfte zu gehen.“ Schon mehrfach habe man die Polizei rufen müssen, weil sie und ihr Team angeschrien und bedroht worden seien. Von Integration sei schon lange nicht mehr die Rede, auch soziale Betreuung sei kaum noch möglich.

„Bevor ich Turnhallen belegen muss, trete ich zurück “

„Als Ultima Ratio, falls gar nichts anderes mehr möglich wäre“, hat Lennerts jetzt sogar eine kaum noch genutzte Trauerhalle neben einem Friedhof für die Unterbringung von etwa zehn Menschen vorbereiten lassen. Aber Turnhallen, die will er nicht mehr belegen. Zu schlecht waren seine Erfahrungen 2015. „Das ist unwürdig für die Flüchtenden. Und der Schul- sowie Vereinssport geht dann womöglich für Jahre unter“, sagt der Bürgermeister: „Das will ich nicht verantworten, das ist meine rote Linie, dann würde ich zurücktreten.“

Eine Trauerhalle ist von außen zu sehen: ein steil sich zuspitzendes schwarzes Dach auf weißen Grundmauern mit einem großen Glasportal. Im Hintergrund stehen Bäume.

Als Ultima Ratio bezeichnet der Bürgermeister von Odenthal, Robert Lennerts, die Nutzung einer Trauerhalle als Unterkunft für Geflüchtete.

Die Integration und Unterbringung von Geflüchteten stelle die Kommunen vor extremste Herausforderungen, beklagte der Städte- und Gemeindebund NRW bereits im Mai dieses Jahres. Vielerorts seien „die Grenzen des Leistbaren erreicht oder gar überschritten“. Es fehle an allen Ecken und Enden: Kaum Wohnraum, Fachkräfte, Schul- und Kitaplätze. Weil die erhoffte Unterstützung von Bund und Land ausblieb, haben 350 nordrhein-westfälische Städte und Gemeinden vor wenigen Tagen einen Brandbrief an Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) geschrieben. „Der Fortbestand der kommunalen Selbstverwaltung in unserem Land steht auf dem Spiel“, heißt es in dem Papier, das wie ein Hilferuf wirkt.

„Kommunen schlittern ungebremst in die Handlungsunfähigkeit“

„Wir sind in einer doppelten Drucksituation: Während die Steuereinnahmen stagnieren, die Zinsen steigen und der Bund sowie das Land Zuweisungen kürzen, explodieren die Kosten für Sachaufwendungen und Personal – zudem sichern wir die Versorgung der Geflüchteten“, so die Vizepräsidentin des Städte- und Gemeindebundes NRW und Bürgermeisterin von Windeck, Alexandra Gauß (Grüne). Gleichzeitig würden die Kommunen von Bund und Land mit immer mehr zusätzlichen Aufgaben konfrontiert, ohne mit den nötigen Mitteln ausgestattet zu werden. „Die beschlossene Wohngeld-Reform, steigende Sozialausgaben oder der Rechtsanspruch auf Ganztag“, zählt Gauß auf: „All dies sollen wir administrieren, also betreuen und umsetzen.“

Durch eine „chronische Unterfinanzierung“ sowie die Vielzahl der Probleme und Krisen würden viele Kommunen jedoch „ungebremst in die Handlungsunfähigkeit schlittern, wenn nicht bald was passiert“.

Auch die Gemeinde Windeck sei überschuldet. Durch eine „krasse Priorisierung“ habe man es in den vergangenen Jahren dennoch geschafft, 200 fehlende Kita-Plätze zu schaffen. „Dabei können wir uns aber gar keine freiwilligen Leistungen mehr leisten, etwa im Bereich der Kultur, des Sports oder der Jugendarbeit“, so Gauß. „Sie sprechen mit einer Bürgermeisterin, die 1500 Euro freie Verfügungsmittel im Jahr hat.“

Neues Container-Dorf für Köln am Fühlinger See

Zugleich wird die Flüchtlingsunterbringung in Köln und dem Umland immer schwieriger. In Köln, wo wöchentlich 100 bis 200 neue Hilfesuchende ankommen, seien die Unterkünfte längst überbelegt, teilte der Sozialdezernent mit. Am Fühlinger See soll jetzt ein Container-Dorf für bis zu 400 Menschen gebaut werden. In Rösrath sollen Geflüchtete zumindest vorübergehend in Zelten unterkommen. Und belegte Turnhallen, die schon bei der ersten Flüchtlingswelle im Jahr 2015 zum Symbol der Krise wurden, sind auch aktuell keine Seltenheit mehr. In Pulheim wurde jetzt die Halle einer ehemaligen Grundschule zur Notunterkunft erklärt. In Frechen werden schon länger zwei Hallen für Flüchtlinge genutzt. Und auf der Wiese vor einer Turnhalle in Elsdorf wurden zuletzt Wohn-Container für 80 Personen aufgebaut. Das Ziel war, die für die Unterbringung genutzte Halle wieder für Schulen und Sportvereine freizugeben.

Die Rechnung wird wohl von der Realität überholt. Als die Container geplant wurden, lebten noch 80 Geflüchtete in der Turnhalle. Mittlerweile sind es 120. Und nach der „Verteilerquote“ des Landes müsste die Kommune zu den bereits 1149 untergebrachten Geflüchteten noch weitere 515 Personen aufnehmen. „Das ist wie ein Damoklesschwert, das über uns schwebt“, sagte zuletzt die örtliche Fachbereichsleiterin Sabine Hellwig, „Wir haben es in einem Kraftakt bisher immer geschafft, alles vorausschauend zu organisieren. Aber irgendwann ist die Grenze erreicht.“

Drohnachrichten für Bedburger Bürgermeister Sascha Solbach

Dass es dann manchmal nur noch ein kleiner Schritt ist, bis die Lage eskaliert, zeigt die Situation in Bedburg. Die Bezirksregierung hatte unlängst mitgeteilt, dass die Stadt bei der Zuweisungsquote 50 Prozent unter Soll liege. „Wir wissen nicht, wer kommt und woher, ob aus der Ukraine, Afghanistan oder einem afrikanischen Land. Aber wir wissen, dass es bis zu 150 Menschen für einen unbestimmten Zeitraum sein können“, hatte Bürgermeister Sascha Solbach (SPD) daraufhin erklärt. Als er Anfang September ankündigte, dass womöglich auch eine Bürgerhalle betroffen sei, brach der Sturm los.

Der Bedburger Bürgermeister Sascha Solbach (SPD) bei einem Bürgerfest. Er wurde bedroht, nachdem er angekündigt hatte, dass eine Bürgerhalle womöglich für Flüchtlinge genutzt werden muss.

Der Bedburger Bürgermeister Sascha Solbach (SPD) wurde bedroht, nachdem er angekündigt hatte, dass eine Bürgerhalle womöglich für Flüchtlinge genutzt werden muss.

Nicht nur, dass er in sozialen Medien wie etwa Facebook bepöbelt und angegriffen wurde. Auch ein Drohbrief landete in seinem privaten Briefkasten. In den Schreiben, in denen „meine Frau mit dem Vornamen genannt und sogar mein vierjähriger Sohn erwähnt wurde“, sei angekündigt worden, dass er „zur Rechenschaft“ gezogen werde, berichtet Solbach. „Das hat mich zunächst schockiert, aber Aufgeben ist keine Option“, so der SPD-Politiker. Bei einem Kulturfest am vergangenen Wochenende hätten ihm zahlreiche Bürger wegen der Bedrohungen auch schon ihre Solidarität ausgesprochen.

Man sei „in engem Austausch mit den Kommunen“, für die „die Unterbringung von Geflüchteten derzeit eine große Herausforderung darstellt“, heißt es aus dem nordrhein-westfälischen Flüchtlingsministerium. Auch der Bund müsse sich „endlich dauerhaft und verlässlich an den Kosten von Unterbringung, Versorgung und Integration beteiligen“, betonte Ministerin Josefine Paul (Grüne): „Wir müssen weg von Einzelverhandlungen über Einmalzahlungen hin zu einem System, das der Verantwortungsgemeinschaft aus Bund, Ländern und Kommunen auch finanziell gerecht wird.“