Die Todesursachenstatistik liefert wichtige Daten für die Gesundheitspolitik. Doch wie verlässlich ist sie? Und warum gibt es so viele Fälle mit ungeklärter Todesursache? Ein Experte gibt Antworten.
Rechtsmediziner zur Todes-StatistikDeswegen weiß niemand, woran 2470 Rheinländer starben
Prof. Dr. Markus Rothschild kennt sich mit dem Sterben aus. Der Direktor des Instituts für Rechtsmedizin an der Uni Köln erklärt geduldig den Unterschied zwischen unmittelbarer Todesursache und Todesart. Wofür die verschiedenen Felder auf der Totenbescheinigung gebraucht werden sollten und wie man sie ausfüllt. Bemüht sich, medizinische Fachbegriffe direkt zu erklären.
„Magentumore bilden typischerweise Metastasen, also Tochtergeschwülste – insbesondere bei jüngeren und mittelalten Menschen“, sagt er beispielsweise. Oder „Der Tumor könnte zum Beispiel ein Blutgefäß arrodieren, also anknabbern“. Und: „Die Todesart, die ist nämlich der Dreh- und Angelpunkt dieser Todesbescheinigung.“ In Deutschland muss jeder Tod eines Menschen durch einen Arzt oder eine Ärztin dokumentiert werden.
Egal wer und wo jemand stirbt, unabhängig vom Alter oder den Umständen, auch unabhängig davon, wann die Medizinerinnen und Mediziner Zugang zur Leiche bekommen können - es wird einen Totenschein geben. Neben Angaben zur Person (sofern möglich) wird hier der Todeszeitpunkt angegeben. Oder zumindest der Zeitpunkt des Leichenfundes.
1490 nicht-natürliche Tode in der Region
Und dann, schon als dritter Punkt, die Todesart. Eine Ärztin hat hier zwei mal zwei Möglichkeiten. Zunächst muss sie ankreuzen, ob es Anzeichen dafür gibt, dass der Tod durch Äußere Einwirkungen zustande kam. Darunter versteht man nicht nur mögliche Gewalttaten, sondern auch Suizide oder Unfälle. Gibt es diese Anzeichen nicht, ist die Todesart entweder eine natürliche, oder es bleibt ungeklärt, ob es sich um einen natürlichen Tod handelt.
1490 Mal kreuzten rheinländische Ärztinnen und Ärzte 2020 bei der Todesart einen nicht-natürlichen Tod an. Der Großteil waren Unfälle, 918 Personen starben so. 81 davon bei „Transportmittelunfällen“, unter die auch Autounfälle fallen. Suizide machten bereits den zweitgrößten Teil der Gruppe aus. 258 Menschen töteten sich selbst. Auf dem Rest der Totenscheine, also den verbleibenden 35.158, steht ein Kreuz bei „Nein“ und die ausfüllende Ärztin musste sich anschließend der Frage stellen, ob sie eine Todesursache benennen kann.
Nur wie? „Notärztinnen und Notärzte der Feuerwehr und Bereitschaftsärztinnen und -Ärzte der Kassenärztlichen Vereinigung, die nachts unterwegs sind, haben eine ganz besondere Situation. Die werden zu jemandem gerufen, dessen Krankengeschichte sie nicht kennen“, erklärt Rothschild. Die Medizinerinnen und Mediziner werden zu einem Menschen gerufen, der entweder schon tot ist, oder gerade stirbt und den sie nicht kennen – weder persönlich noch, relevanter, seine Krankengeschichte.
Polizei muss benachrichtigt werden, wenn nicht-natürlicher Tod nicht ausgeschlossen ist
An diesem Punkt kommen die ersten und oftmals einzigen Informationen, die Aufschluss über die Vorgeschichte des Toten geben können, von Angehörigen. „Und das ist natürlich – sagen wir mal vorsichtig betrachtet – etwas, was nicht unbedingt objektiv ist“, so der Rechtsmediziner und ergänzt, dass das selbstverständlich ohne böse Absicht geschehe. Nur seien die meisten Angehörigen eben keine Ärztinnen und Ärzte und müssten an einigen Stellen auch selbst mutmaßen.
Auf Mutmaßungen würden viele aber dann auch nicht die Todesbescheinigung fußen wollen, sagt Rothschild. Dann wird das Kreuz bei „ungeklärt, ob natürlich/nicht-natürlicher Tod“ gesetzt. In diesem Fall muss die Polizei benachrichtigt werden, weil ein nicht-natürlicher Tod eben nicht ausgeschlossen werden kann. Es wird ein Todesermittlungsverfahren eröffnet, schildert Rothschild, um „Licht in die Todesumstände zu bekommen. Immerhin liegt da ja eine Leiche, das ist keine Petitesse.“
Ob obduziert wird oder nicht, entscheidet die Staatsanwaltschaft
Jetzt werden Nachbarn befragt und Hausärztinnen kontaktiert. Schließlich wird ein Bericht geschrieben, der dann bei der Staatsanwaltschaft landet. Die entscheidet, ob eine Obduktion beantragt wird oder nicht. Bei Todesfällen in Polizeigewahrsam oder bei dringendem Verdacht auf ein Tötungsdelikt muss obduziert werden. In allen anderen Fällen liegt die Entscheidung bei den Behörden.
„Und da beginnt auch ein großes Problem“, sagt der Rechtsmediziner. Es gäbe die einen Staatsanwälte, die ohne Anhaltspunkte auf eine Straftat nicht obduzieren lassen wollen. Geld und Ressourcen sind knapp und finden andere Verwendung. Auf der anderen Seite stünden die Staatsanwältinnen und -anwälte, die Obduktionen anordnen, um eben zu eruieren, ob es Anhaltspunkte für ein Fremdverschulden gibt.
Etwa 20 Prozent der Todesfälle, die von Ärztinnen und Ärzten nicht eindeutig als natürlich eingestuft werden konnten, werden gerichtlich obduziert, erklärt der Experte. Diese Fälle fließen dann in die Todesursachenstatistik ein. Die restlichen 80 Prozent dieser Fälle bleiben weiter ungeklärt.
In Zahlen: 2470 Todesscheine enthielten 2020 keine weiteren Angaben zur Todesursache, als über „Sonstige ungenau bezeichnete und unbekannte Todesursache“ hinausgeht. Und die restlichen Todesfälle, in denen sich die Ärztinnen und Ärzte sicher waren, dass ein natürlicher Tod vorlag? Hat sie auf Seite eins, Feld drei ihr Kreuz vor „natürlich“ gesetzt, blättert unsere Ärztin weiter.
Totenschein ausfüllen: Fünf Felder für die Todesursache
Ihr Blatt ist nicht mehr grün, sondern pink und der Todesschein nicht mehr frei, sondern vertraulich. Nach der Durchschrift der Angaben von zuvor trifft sie jetzt einige Aussagen dazu, weswegen sie sich sicher sein kann, dass der Mensch vor ihr tot ist. Und dann, schließlich: die Todesursachen. Fünf Felder stehen zur Verfügung, auf denen die Kausalkette erklärt werden soll, die zum Tod geführt hat.
Zunächst die unmittelbare Todesursache - „Woran ist er jetzt hier verstorben – also zum Beispiel respiratorisches Versagen“. Und das ist eine Folge von? „Lungenentzündung oder Pneumonie, oder irgendwas Entsprechendes.“ Im dritten Feld wird das Grundleiden eingetragen, was die Medizinerin als hierfür grundsächlich sieht. „Da könnte ich dann zum Beispiel eine Covid-Infektion eintragen“, erklärt der Rechtsmediziner weiter geduldig.
Die Todesscheine werden von den Gesundheitsämtern an die Statistischen Landesämter übermittelt. Nach den Diagnosen der Ärztinnen und Ärzte übernimmt eine Software den Rest: die Krankheiten und Umständen zu einer notwendigen Ursache zurückzuverfolgen. Das wird dann in die Todesursachenstatistik eingetragen. „Es handelt sich um eine monokausale Darstellung der Todesursache“, heißt es dazu im Qualitätsbericht der Statistik.
Erfasst werden also alle bekannten Tode von Personen mit Wohnsitz in Deutschland. Antwortausfälle, die nicht nach zu recherchieren sind, werden mit „unbekannter Todesursache“ erfasst. Zur Verfügung gestellt wird die Todesursachenstatistik mit 84 ausgewählten Ursachen-Codes. Das umfasst nicht den vollen Katalog der Einzeldiagnosen – schon aus Datenschutzgründen – aber die wichtigsten Ursachen und alle Ursachenkategorien.
„Die Todesursachenstatistik ist bis heute einzigartig in ihrem Umfang und ihrer Tiefe“, schreibt das Statistische Bundesamt. „Es existieren keine vergleichbar aufwändigen Erhebungen, die auch nur annähernd den Umfang der Todesursachenstatistik der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder aufweisen.“ Gut so, denn auf der Grundlage der Statistik wird Gesundheitspolitik gemacht. Oder?
Rothschild weist darauf hin: „Im Grunde kann man ja eine Todesursache nur sicher feststellen, wenn man über die Krankenvorgeschichte ausreichend Bescheid weiß, der Tod also mehr oder weniger unter einer ärztlichen Begleitung stattgefunden hat.“ Außerhalb eines klinischen Umfelds oder ohne das Vorliegen einer langen Krankheit, deren Endstadium sich abzeichnete, sei das aber kaum zu gewährleisten.
Internationale Obduktionsstudien zeigen methodische Schwierigkeiten
In solchen Fällen brauche es eigentlich eine Obduktion, findet der Rechtsmediziner. Und er zitiert Daten, die das untermauern. Internationale Obduktionsstudien, bei denen nach dem Erstellen einer Todesbescheinigung die Verstorbenen obduziert wurden, um die tatsächliche Todesursache mit der attestierten zu vergleichen.
Das Ergebnis: In 40 Prozent hätten die Ergebnisse komplett übereingestimmt, so Rothschild. In weiteren 40 Prozent stimmten die Daten wenigstens teilweise überein, in 20 Prozent überhaupt nicht. Diese Statistiken werden vor allem im Zusammenhang mit Dunkelziffern zu übersehenen Tötungsdelikten immer wieder zitiert. Aber vor allem fußen auf den Zahlen der Statistik eben Entscheidungen, die unseren Lebensalltag entscheidend beeinflussen.
Mehr als 1000 Fachärzte für Kardiologie in NRW
„Die Daten der Todesursachenstatistik fließen in die Gesundheitsberichterstattung auf regionaler, nationaler sowie internationaler Ebene und in gesundheitsbezogene Rechensysteme auf nationaler und internationaler Ebene ein. Zudem dienen sie als Grundlage zahlreicher medizinischer, epidemiologischer und gesundheitsökonomischer Studien“, so das Statistische Bundesamt.
Die häufigste Todesursache in den Kreisen und Städten der Region sind Krankheiten des Kreislaufsystems. 1069 Fachärzte der Inneren Medizin und Kardiologie arbeiten laut Gesundheitsministerium in Vollzeit in NRW. 301 weitere in Teilzeit, 18 als geringfügig Beschäftigte. Zum Vergleich: In NRWs Krankenhäusern arbeiten 2021 181 Fachärztinnen und Ärzte mit dem Schwerpunkt Innere Medizin und Nephrologie (der Teil der Medizin, der sich mit Nierenerkrankungen beschäftigt).
76 Vollzeit-Pathologen – 36.648 Tote in der Region
Mit dem Beginn der Pandemie und in den Hochphasen waren es die Pathologen und Rechtsmediziner, die die ersten wichtigen Ergebnisse lieferten, erinnert Rothschild. Sie waren es, die die Sinusvenenthrombosen im Gehirn fanden, die von Covid ausgelöst worden waren. Sie waren es auch, die die Lungen beschrieben, die von dem Virus und der daraus resultierenden Krankheit zerstört worden waren.
Und trotzdem: „Wir obduzieren zu wenig“, sagt Rothschild. Es gibt 76 Vollzeit-Pathologen im Land, 52 arbeiten in Teilzeit. In der Region allein starben 2020 36.648 Menschen.