In ein neues LebenAuf Reichshofer Hof Müllerheide bekämpfen Kranke ihre Sucht
Müllerheide – Der Thriller im Kopf ist nicht mehr zu ertragen. Immer sind da diese Stimmen – Stimmen, die von Verschwörung sprechen und drohen, ihr werde etwas zustoßen, wenn sie anderen von den Verschwörungen oder auch den Stimmen selbst erzählt. Oder ihrer Familie, den Freunden. Also schwieg Anna Meyer (Name geändert). „Dann habe ich versucht, mir das Leben zu nehmen“, sagt die heute 36-Jährige. Mehr als sechs Jahre ist das nun her: Anna Meyer hat den Entzug überstanden und die Therapie bewältigt. Sie ist clean.
Mindestens zwölf Jahre lang, so genau weiß die Oberbergerin das nicht, hat sie harte Drogen genommen: „Die ersten chemischen, da war ich 19.“ Dem Rausch aber folgt die Abhängigkeit, mit der Abhängigkeit kommen die Psychosen. Und die Stimmen. Eine Lehre schafft sie nicht. Sie bricht ab, beginnt wieder und wieder von neuem, Aushilfsjobs schmeißt sie ebenfalls.
„Früher musste ich reden, ohne etwas zu sagen“
Heute kann die Frau, die inzwischen in der Pflege beschäftigt ist und im vergangenen Jahr ihre Ausbildung beendet hat, über alles reden. „Früher musste ich reden, ohne etwas zu sagen“, erinnert sie sich an den Zwang, dem die Stimmen sie damals ausgesetzt haben. Und noch immer besucht Anna Meyer gerne und oft den Hof Müllerheide in Reichshof, eine stationäre Therapie-Einrichtung mit insgesamt 18 Wohnplätzen.
Der Hof Müllerheide
Stabilität in der Zeit der schweren Krise
Der Hof Müllerheide in der Ortschaft Müllerheide bei Eckenhagen ist etwa 185 Jahre alt. In einem Neubau befinden sich zwölf Zimmer, sechs weitere gibt es in abseits gelegenen Mietwohnungen. Zudem unterhält die Einrichtung eine selbstständige Wohngemeinschaft mit drei Plätzen in Engelskirchen. Acht Mitarbeitende und ein Auszubildender gehören zum Team.
In Kontakt kommen Hilfesuchende mit dem Hof durch Kliniken, etwa die Abteilung für Suchtmittelabhängigkeit der Klinik in Marienheide, oder über gerichtlich bestellte Betreuer und Stellen der Bewährungshilfe. Wer einziehen will, muss sich um einen Platz bewerben.
Strikte Abstinenz ist im Zusammenleben das oberste Gebot, strenge Kontrollen und Tests auf Drogen und Alkohol sind regelmäßige Pflicht. Die Arbeit mit den Tieren soll Verantwortung lehren und helfen, geregelten Abläufen zu folgen und den Tagen auf dem Hof feste Strukturen zu geben. Leiter Didier Bailly: „Als allererstes geht es jedoch darum, in der Zeit einer schweren Krise wieder Stabilität zu finden.“ (höh)
Im Juli 2001 hat die Oberbergische Gesellschaft zur Hilfe für psychisch Behinderte diese gegründet – mit dem Ziel, Menschen wie Anna Meyer Unterstützung zu bieten auf dem Weg zurück in ein selbstbestimmtes Leben, in eine Selbstständigkeit ohne Sucht. „Das ist hart, sehr hart“, betont Leiter Didier Bailly. Denn wer auf dem Hof einzieht, der muss anpacken: 14 Hektar groß sind die Flächen der malerischen Anlage, auf der Landwirtschaft betrieben wird.
Rinder, Schweine, Ziegen, Schafe, Lama, Alpaka
Mehr als 300 Hühner gibt es dort, Rinder, Schweine, Ziegen, Schafe, ein Lama und ein Alpaka. „Die beiden beruhigen unsere Bewohnerinnen und Bewohner, wenn der Druck zu groß ist“, erklärt Bailly (59). Er führt die Einrichtung seit dem Beginn, der Franzose ist auf einem Bauernhof im Burgund aufgewachsen.
Jeder von Baillys Schützlingen hat ein anderes Schicksal im Gepäck. Auch Thorsten Latz kommt zu Besuch, so oft es geht. Der gelernte Lagerlogistiker arbeitet heute als Landwirt in Lindlar. Er ist trocken. „Ich wusste sofort, dass ich es nur hier schaffen kann“, sagt er über die Zeit in Müllerheide. „Schon als ich den ersten Schritt auf den Hof gemacht hatte, hatte ich nicht mehr das Bedürfnis zu trinken“, schildert der 37-Jährige.
Therapie beginnt mit Struktur
Ein Praktikum bei einem Hufschmied und vor allem die Liebe zu Tieren haben ihn in ein neues Leben geführt. Und der braune, vier Jahre alte Pinzgauer-Ochse Connor ist sofort zur Stelle, wenn er Thorsten Latz an der Weide sieht. Denn dann ist Kraulen angesagt. „Hier muss man arbeiten, man muss sich integrieren, kann sich nicht verstecken“, sagt der Gummersbacher, für den früher eine Flasche Wodka sein tägliches Minimum war.
„Wenn du so viel in dich reinkippst, dann lebst du nur noch in den Tag hinein, jede Struktur geht verloren.“ Mit Strukturen beginnt Didier Bailly die Therapie: „Um 8 Uhr frühstücken wir zusammen, jeden Tag. Dann geht’s raus zur Arbeit.“ An einem Verkaufswagen ist zu haben, was auf dem idyllischen Weiler produziert wird, Fleischwaren gibt es ebenso wie Eier.
Alte Gewohnheiten ablegen
Bailly: „Hier muss jeder erst mal die alten Gewohnheiten ablegen.“ Tägliche Kontrollen und Tests auf Drogen und Alkohol sind Pflicht. „Einige unserer Bewohner haben uns übrigens nie verlassen: Sie leben hier, weil sie sich etwas Anderes nicht mehr vorstellen können“, sagt Bailly.
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Angst davor rückfällig zu werden und erneut abzustürzen, haben weder Anna Meyer noch Thorsten Latz. Aber beide meiden die dunklen Orte der Vergangenheit, die Begleiter von einst. „Denn Alkoholikerkumpels sagen dir niemals: ,Lass uns heute mal nichts trinken!’. Sie fragen: ,Wer holt als nächstes?’“, sagt Latz. „Ich habe zu hart gearbeitet, zu viel erreicht, um jemals wieder zur Flasche zu greifen.“