Auf AugenhöheIn Reichshof geben gute Schüler den schwächeren Nachhilfe
Reichshof – „Lern mit mir.“ So heißt ab sofort das Nachhilfe-Projekt, das 2017 an der Gesamtschule Eckenhagen von der Lehrerin Reinhild Vongehr ins Leben gerufen wurde. Es unterscheidet sich von Konzepten anderer Schulen, in denen Schüler Schülern helfen, und das soll der neue Name deutlich machen. Hier hat jeder Schüler seinen ganz eigenen Nachhilfelehrer. Im Gespräch bezeugen die Pädagogin und drei der „Lerntandems“ die Lebenskraft der Idee. Selbst die Pandemie konnte dem Projekt nichts anhaben. Im Gegenteil, denn das Tandem-Prinzip funktioniert 1 : 1, man lernt außerhalb der Schule. Und der Bedarf ist größer denn je.
Das Prinzip ist einfach: Schüler der Klassen 5 bis 10, deren Leistungen ihre Schulkarriere gefährden, bekommen von geeigneten Oberstufenschülern kostenlose Nachhilfe. Sofern die Eltern der Lernenden ein geringes Einkommen haben, haben sie Anspruch auf Geld aus dem NRW-Programm „Bildung und Teilhabe“. Die Jobcenter zahlen die Gelder auf Antrag aus. „Lern mit mir“ bezahlt davon die lehrenden Schüler mit 10,50 Euro pro dreiviertel Stunde.
Hilfe von der Voss-Stiftung
Bürgermeister Rüdiger Gennies ist es gelungen, eine 450-Euro-Stelle für die Projektkoordinatorin Reinhild Vongehr einzurichten. Zusammen mit Schulleiterin Anne Halfar überzeugte er die Hans-Hermann-Voss-Stiftung (Wipperfürth), die Projektleitung befristet zu finanzieren. 27 Schüler erhalten auf diese Weise zurzeit Nachhilfe, die sie sonst nicht bezahlen könnten. Die 20 Oberstufenschüler, die mit ihnen lernen, können ihr Taschengeld aufbessern.
Über die Hälfte der Lernenden sind Geflüchtete mit geringen Sprachkenntnissen. Inzwischen gehören aber auch drei Zugezogene zum Lehrer-Team. Zwei syrische Oberstufler vom Wüllenweber-Gymnasium unterrichten syrische Gesamtschüler. Und Minji aus der Mongolei, die noch vor zwei Jahren selbst Deutsch-Nachhilfe brauchte, unterrichtet nun in Mathe. „Migranten helfen Migranten“, freut sich die Leiterin. Sie stellt die Tandems zusammen. In der Regel wird in der Wohnung der Helfer gearbeitet, meist anhand der Wochenpläne der Schüler.
Persönliche Begegnung
Oft gehe es vor allem darum, fehlende technische Ausstattungen und Fertigkeiten durch die persönliche Begegnung zu ersetzen. „Organisiert wird das Ganze übers Smartphone. Inzwischen ist es ein Selbstläufer“, sagt Vongehr. „Gute Noten fallen nicht vom Himmel, dafür müssen alle etwas tun, aber mit einem Lernpaten, quasi einem großen Bruder oder einer großen Schwester, die um die Ecke wohnen und auch Orientierung geben, ist das leichter.“ Aus Tandems werden mitunter Freundschaften.
Lernen im Tandem
Tandem 1: Tim Kallies hilft Joumana Chahin (Jg. 10) und deren Bruder Khalil (Jg. 9) seit 2018. Nein, Lehrer will Tim auf keinen Fall werden, „da müsste ich ja Noten vergeben. Das belastet die Beziehung doch sehr.“ Er hat in Eckenhagen Abi gemacht und studiert Psychologie in Köln. Mit Khalil und Joumana macht er Mathe, Deutsch und Englisch. Joumana steht vor dem Abschluss der 10. Klasse: „Tim kann gut erklären“, sagt sie, „er ist wie ein großer Bruder.“ Tim denkt gern an das leckere Essen, das er bei der Arbeit bekommt.
Tandem 2: Minji Mandakh (Jg. 9) aus der Mongolei paukt Mathe mit Anna Maurinskaia. Sie machen zusammen Hausaufgaben oder lernen Vokabeln. Anna ist wie ihr Bruder Daniil erst vor zwei Jahren aus Kaliningrad gekommen. Anna und Minji interessieren sich beide für Musik und Anime-Filme. Anna zeichnet gern dazu, ihr Lieblingsfach ist Kunst. Minji, das Mathe-As, möchte einmal Medizin oder Zahnmedizin studieren. „Ich gebe gerne Nachhilfe, weil ich weiß, wie es ist, wenn die Eltern einem nicht helfen können. Mir hat das Projekt sehr geholfen. Ich möchte anderen etwas zurückgeben.“
Tandem 3: Gina Marie Schulte (Jg. 12) macht nächstes Jahr Abi und hilft dem Siebtklässler Daniil Maurinskii. Der ist gut in Mathe, braucht aber Hilfe in Deutsch. Sie wohnt in Reichshof-Windfus, er in Hahnbuche. Sie bearbeiten Aufgaben, die Daniil über die Lernplattform erhält. Pädagogik wird nicht Ginas Hauptberuf: „Ich möchte gerne Immobilienwirtschaft studieren.“ (mmö)
Verantwortung und Geduld gehören dazu. Auch weil Schüler und Eltern immer wieder motiviert werden müssen. „Die Antragstellung ist oft eine große Hürde. Dort zu vermitteln, ist für mich inzwischen Routine“, sagt Reinhild Vongehr. „Seit ich bei der Gemeinde angestellt bin, bekomme ich von allen Seiten Unterstützung. Vom Jobcenter bis hin zu den Schulen im Umkreis, bis nach Olpe. Auch von den eigenen Kollegen, die das Angebot gerade zur Zeit sehr schätzen.“
Das könnte Sie auch interessieren:
Für sie selbst ist das Projekt „Ausgleich und Hobby“, sagt Vongehr. „Es holt mich vom Schreibtisch in die Familien. Im Gegenzug hole ich einige Kinder ein bisschen weiter rein in solide Berufe. Und ein selbstbestimmtes Leben.“