„Coronavirus überlagert alles“Palliativmediziner sieht seine Patienten benachteiligt
- Das beherrschende Thema Corona lenkt ab von der Tatsache, dass es auch noch andere schwer kranke Menschen gibt.
- Der Bensberger Onkologe und Palliativmediziner Dr. Dirk Hennesser vom Vinzenz-Pallotti-Hospital äußert die Sorge, dass diese Patienten derzeit akut vernachlässigt werden.
- Ein Interview.
Bergisch Gladbach – Seit mehr als 20 Jahren betreuen Sie Patienten mit Tumor- und anderen schwersten Erkrankungen. Welche Veränderungen zeigen sich seit Ausbruch der Corona-Krise?
Hennesser In der öffentlichen Wahrnehmung gibt es nur noch Menschen, die entweder gesund sind oder sich mit dem Coronavirus angesteckt haben. Zwischen diesen beiden Polen, die aber die Realität verzerren, gibt es eigentlich nichts anderes mehr. Meine Patienten werden dadurch total verunsichert. Manche würden sogar ihre Krebstherapie abbrechen, weil sie Angst haben, rauszugehen und sich anzustecken. Das ist kontraproduktiv.
Warum?
Weil eine Krebsbehandlung ja immer auch eine sinnvolle Vorsorge ist, um grundsätzlich Abwehrkräfte wieder zu stärken, insbesondere wenn es sich dabei um die inzwischen häufig eingesetzte Immun- oder Antikörpertherapie handelt. Nach Auswertung der Daten aus China sind es auch nicht die Tumorpatienten, sondern mehrheitlich Menschen mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Nierenerkrankungen oder Diabetes, die unter schweren Verläufen bei einer Corona-Infektion leiden.
Was kritisieren Sie konkret?
Ich empfinde es als unverhältnismäßig, wenn ich für meine Patienten in der Radiologie um ein CT kämpfen muss, ein Großteil der Bettenkapazität in manchen Hospizen möglichen Corona-Patienten vorbehalten bleiben soll und ich mir außerdem Sorgen um verlässliche Blut- und Medikamentenlieferungen machen muss. Alles steht still und wartet auf die große Welle. In dieser Hybris aber, dass der Coronavirus alles andere überlagert, sehe ich ein großes Problem, weil plötzlich Menschen mit anderen schweren Erkrankungen nicht mehr gesehen werden. Man kann doch nicht einfach per Dekret die Behandlung anderer Erkrankungen herunterfahren. Ganz aktuell sollen sogar Vorsorgeuntersuchungen von Brust- und Darmkrebs ausgesetzt werden. Da sehe ich bereits die nächste Welle auf uns zukommen: nämlich die zu spät erkannter Tumore. Und auch eine Hüft-Operation kann für jemanden lebensnotwendig sein, der dadurch wieder mobil wird.
Was schlagen Sie vor?
Jedenfalls nicht alles lahm zu legen. Schon jetzt werde ich täglich von meinen Patienten gefragt: Muss ich jetzt sterben, weil meine Versorgung nicht mehr gewährleistet ist? Das ist in meinen Augen entwürdigend und entwertet das Leben eines Menschen, der an einer lebensverkürzenden Krankheit leidet.
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Sie sprechen jetzt von Ihrer Arbeit im Hospiz und auf der Palliativstation?
Ja, unter den Patienten herrschen Unsicherheit, ob die Pflege aufrecht erhalten bleibt, und Angst, dass es zu Lieferengpässen zum Beispiel von Schmerzmitteln kommen kann. Hier müssen wir gegensteuern und beruhigend auf die Patienten einwirken. Dieses unkalkulierbare Virus lässt sich nun mal nicht kontrollieren. Alles herunterzufahren kann aber nicht die Lösung sein.
Wie läuft der Betrieb bei Ihnen derzeit weiter?
Natürlich halten wir uns auf der Palliativ- und Hospizstation an alle Regeln, um unsere Patienten zu schützen. Dazu gehört auch, dass die vielen Ehrenamtlichen und auch die Klink-Clowns im Moment nicht mehr kommen. Dafür ist das Pflegeteam umso motivierter. Es entspricht unserem Selbstverständnis, jeden zunächst einmal als Menschen und nicht als potenzielle Infektionsquelle wahrzunehmen. Diese Aufgabe ist im Moment wichtiger denn je.
Sind Besuche erlaubt?
Niemand muss alleine sterben – auch nicht in Zeiten von Corona. Es gibt ja keinen amtlich verordneten Besucherstopp. Allerdings weisen wir Angehörige bei Neuaufnahmen darauf hin, dass keine größeren Gruppen zulässig sind. Es ist undenkbar, die Menschen im Hospiz in der Endphase ihres Lebens sich selbst zu überlassen. Die Würde jedes Patienten steht über der Angst vor Corona.
Hauptsächlich sterben Menschen mit Vorerkrankungen oder sehr alte Menschen – an oder mit dem Virus, je nach Lesart. Wie sehen Sie das?
Das kann man so einfach nicht sagen. Wenn Menschen sehr alt sind, versterben sie meistens an Infektionen unterschiedlicher Art. Ich glaube, dass wir in Deutschland am Ende des Jahres insgesamt keine höhere Sterberate haben werden als in anderen Jahren. Es darf außerdem Mut machen, dass wahrscheinlich viele Menschen den Virus längst unbemerkt oder mit leichten Symptomen durchgemacht haben und nie getestet wurden. Damit sinkt der Anteil der schweren Verläufe schon statistisch sehr deutlich.
Was wünschen Sie sich von den Politikern in der Krise?
Dass sie sich mehr von Ärzten beraten lassen, die täglichen Umgang mit Patienten haben, und nicht nur von eher wissenschaftlich tätigen Virologen. Und anstelle von Verboten auch mal Ermutigendes zu vermitteln. Es wäre so einfach zu sagen: Geht in den Wald, bewegt euch viel an der frischen Luft und treibt – bei allem gebotenen Abstand – viel Sport! Das ist so wichtig für das Immunsystem.
Außerdem mahne ich zur Besonnenheit und dazu, auf die Realität zu schauen und nicht auf eigene Umfragewerte zu schielen. Es kann nicht sein, dass der Politiker am meisten Gehör findet, der in den Medien das schlimmste Szenario mit noch drastischeren Maßnahmen überbietet.