Interview zur Corona-Krise„Kindern zuhören und ihre Bedürfnisse wahrnehmen“
- Die Bergisch Gladbacher Kinder- und Jugendpsychotherapeutin Juliane Weyer-Lichy beobachtet seit Beginn der Coronavirus-Pandemie viele stressbedingte Probleme bei ihren Klienten.
- Sie rät Eltern, offen mit ihren Kindern über die Folgen der Pandemie für ihr eigenes Leben zu sprechen.
- Weyer-Lichy hat auch Tipps, wie Familien mit dem coronabedingten Stress umgehen können. Ein Interview.
Welchen Gedanken hören Sie seit Beginn der Pandemie häufig von ihren Patienten?
Viele Kinder finden es schade, dass sie ihre Freunde nicht mehr sehen können. Manche sagen: „Ich würde gerne Karneval feiern.“ Sie finden es doof, dass solche Dinge nicht gehen im Moment.
Verstehen die, warum das so ist?
Ja, absolut. Kinder im Kindergarten verstehen schon, dass Corona krank macht. Man darf nicht außer Acht lassen: unsere Kinder verstehen oft mehr als wir denken. Deswegen ist es so wichtig, dass wir offen mit ihnen sprechen und die Dinge klar vermitteln – natürlich in einem altersentsprechenden Maße.
Wie hat sich Ihre Arbeit seit Beginn der Pandemie verändert?
Ich persönlich habe das Gefühl, dass der Stress, den die Pandemie auslöst, viele Symptomatiken verstärkt. Ich habe mehr Patienten, die unter Erschöpfung leiden und mehr alltägliche Entlastung und Ruhe brauchen.
Hat man nicht mehr Ruhe, wenn man den ganzen Tag zuhause ist – etwa im Lockdown oder in Quarantäne?
Es gibt verschiedene Stressfaktoren, die hierbei ausgelöst werden und auf verschiedene Arten auf die Kinder und Jugendlichen wirken. Für ihre Entwicklung ist es aber wichtig, dass sie ein Gefühl der Sicherheit und Klarheit haben. Durch den Lockdown ist ein neuer Stressfaktor dazugekommen. Und Stress sorgt für Verunsicherung.
Das könnte Sie auch interessieren:
Wie genau wird die erzeugt?
Im Leben von Kindern und Jugendlichen gibt es drei Mittelpunkte: Das sind die Schule, Freizeit und das familiäre Leben. Die Einschränkungen im Lockdown haben auf alle drei Bereiche eingewirkt. Das erzeugt Verunsicherung.
Inwiefern?
Nehmen wir die Schule, den größten Lebensmittelpunkt von Kindern und Jugendlichen. Das Schulsystem ist im Lockdown sehr undurchsichtig gewesen. Immer wieder gab es neue Regelungen. Wie eine Schule ihren Bildungsauftrag umsetzt, war Ländersache. Dadurch gab es keine klare Leitlinie. Welche Art von Bildung die Kinder und Jugendlichen während dieser Zeit erfahren haben, war dann eben vom Lehrer abhängig und davon, wie gut er sich beispielsweise mit digitalen Medien auskannte. Ich hatte den Eindruck, dass die Kinder dadurch teilweise Aufgaben lösen mussten, die ihrem Entwicklungsstand nicht gerecht waren. Auch das löst Stress aus.
Welche Auswirkungen gab es im Freizeitbereich?
Hier war die Isolation ein großer Stressfaktor. Kinder brauchen Freiheit und soziale Kontakte. Wenn die wegfallen, erzeugt das ebenfalls Stress. Außerdem war auch der Bewegungsdrang, den Kinder natürlicherweise haben, stark eingeschränkt. Und der ist in Stresssituationen noch einmal höher.
Zur Person
Juliane Weyer-Lichy (37) hat soziale Arbeit studiert. Nach ihrem Studium hat sie in einer pädagogischen Einrichtung für sexuell delinquente Jugendliche gearbeitet und anschließend die Ausbildung zur Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin absolviert. Seit 2019 hat sie eine eigene Praxis in Bergisch Gladbach.
Das klingt stressig.
Das war es auch. Und natürlich nicht nur für die Kinder. Auch die Eltern waren überfordert und besonderem Stress ausgesetzt. Die haben auch Ängste ausstehen müssen.
Damit sind wir bei den Auswirkungen im familiären Bereich. Wie machen die sich bemerkbar?
Durch den zusätzlichen Stress liegt die Frustrationstoleranzgrenze niedriger. Das führt dazu, dass die Aggression steigt und man manchmal aus Wut Dinge sagt, die man so nicht meint. Als Erwachsene haben wir gelernt, uns in solchen Situationen von Gesagtem abzugrenzen. Kindern haben diese Fähigkeit noch nicht.
Welche Folgen kann das haben?
Kinder nehmen solche Aussagen sehr persönlich und bauen diese auch ins Selbstbild ein. Dadurch kann sich der Selbstwert erniedrigen. Deshalb ist es wichtig, dass man den Kindern in so einer Situation klar sagt: „Du, ich habe das eben gesagt, weil ich gereizt und gestresst bin war. Das war nicht so gemeint.“
Das klingt so, als habe die Pandemie durchweg negative Auswirkungen auf Kinder und Familien.
Das würde ich so nicht sagen. Es gibt immer zwei Seiten einer Medaille. Trotz allem Stress und der Belastung gab es ja auch positive Momente. Familien sind wieder enger zusammengerückt, haben wieder miteinander gespielt und geredet.
Vor ein paar Tagen sind die Sankt Martins-Umzüge ausgefallen. Nikolaus und Weihnachten stehen vor der Tür. Wie kann man diese Feste trotz Pandemie mit den Kindern feiern, wenn so vieles anders ist?
Indem man kreative Wege findet, die Feste anders zu gestalten. Statt einem Martins-Umzug kann man etwa ein Lagerfeuer mit Stockbrot machen. Hierbei ist es wichtig, den Kindern zu erklären, warum das jetzt so ist. Gleichzeitig sollte man auch kommunizieren: es kommen auch wieder andere Zeiten.
Was kann man sonst noch tun, um Stress zu vermeiden?
Man kann etwa dem erhöhten Bewegungsdrang begegnen, indem man viel rausgeht und Zeit in der Natur verbringt. Für Ruhe sorgen auch kleine Rituale vor dem Einschlafen: Vorlesen, ein Hörbuch hören oder eine Traumreise machen. Es gibt auch Yoga-Videos für Kinder. Es ist außerdem wichtig, sich immer wieder bewusst zu machen, dass die Kinder vielleicht mehr unter der Situation leiden als wir das von außen sehen können. Man sollte ihnen mit Verständnis begegnen, ihnen zuhören und ihre Bedürfnisse wahrnehmen.
Und was können die Erwachsenen für sich tun?
Genau das Gleiche. Eltern haben auch höheren Stress. Hier hilft es, sich so oft es möglich ist, Erholungsinseln zu schaffen und sich selbst Gutes zu tun.
Manche Eltern sorgen sich um die Auswirkungen der Maskenpflicht auf die Psyche der Kinder. Geht davon tatsächlich eine Gefahr aus?
Die meisten Kinder verstehen schon, dass die Maske sie schützt. Natürlich sollte man die Maske nicht zu lange tragen, aber das gilt für uns Erwachsene ja auch. Ansonsten kann die Psyche eines Kindes die Maskenpflicht schon gut verarbeiten.
Und wie steht es mit der Pandemie?
Sie muss sich nicht zwangsweise auf die Psyche der Kinder auswirken. Wenn man Krisen im jungen Alter gut übersteht, geht man sogar eher gestärkt daraus hervor.