1920er JahreAls die politische Mitte in Rösrath verschwand
Rösrath – Politische Polarisierung, auch zwischen den Ortsteilen, und rasante Veränderungen der Mehrheitsverhältnisse prägten die Rösrather Kommunalpolitik in den 1920er Jahren. Die turbulenten Entwicklungen auf gesamtstaatlicher Ebene waren auch vor Ort spürbar – mit lokalen Besonderheiten. So sorgte die konfessionelle Spaltung und die Sozialstruktur auch für deutliche politische Unterschiede zwischen den Ortsteilen.
Zu Beginn der Weimarer Republik hatte die Zentrumspartei im überwiegend katholischen Ortsteil Rösrath eine heute unvorstellbare Hochburg – bei der Reichstagswahl im Januar 1919 erhielt sie dort 79 Prozent der Stimmen. Spiegelbildlich war die Situation der SPD in Forsbach, das von überwiegend evangelischen Arbeitern geprägt war, sie erhielt dort 73,5 Prozent. Im ebenfalls vorwiegend evangelischen, aber stärker bürgerlichen Hoffnungsthal war die liberale DDP besonders stark, sie kam dort auf 26,7 Prozent.
Serie
Die „Goldenen 20er Jahre“ stehen für Wirtschaftsaufschwung, für die Blüte von Kultur und Wissenschaft in Deutschland. Für Lebenslust, Dekadenz und Tanz auf dem Vulkan – bis zum Ausbruch der Weltwirtschaftskrise. Das ist genau 100 Jahre her. In Berlin steppte der Bär: Doch wie sah es zur gleichen Zeit in den Dörfern des Bergischen Landes aus? Darum geht es in unserer Serie „Die 20er im Bergischen“.
Bei den Einwohnerzahlen waren die Gewichte zwischen den Ortsteilen deutlich anders verteilt als heute: Zu Beginn der 1920er Jahre lebten in Hoffnungsthal circa 47 Prozent der Einwohner, in Rösrath circa 30 Prozent und in Forsbach 23 Prozent. Mehr als 60 Prozent der Einwohner in der Gemeinde waren evangelisch. 100 Jahre später dagegen ist der Ortsteil Rösrath der bei weitem einwohnerreichste, die einstige konfessionelle Prägung spielt eine viel geringere Rolle.
Zu Beginn der Weimarer Republik jedoch führte die protestantische Dominanz dazu, dass die SPD bei der Reichstagswahl 1919 in der Gesamtgemeinde mit 43 Prozent die deutlich stärkste Partei wurde, das Zentrum folgte mit 28,6 Prozent und die DDP mit 16 Prozent.
Radikale politische Mächte gaben Ton an
Die drei Parteien, die im Reichstag zunächst die sogenannte Weimarer Koalition bildeten, kamen in Rösrath also zusammen auf 87,6 Prozent. Im Lauf der 1920er Jahre ging der Einfluss der gemäßigten Parteien aber stark zurück, radikale Kräfte auf der Linken und Rechten gaben zunehmend den Ton an. Dieser Trend zeichnete sich schon zehn Monate nach der Reichstagswahl, bei der ersten Rösrather Gemeinderatswahl im November 1919, ab.
Die Mehrheitssozialdemokraten von der SPD kamen nur noch auf 37,3 Prozent, der Anteil des Zentrums betrug nur noch 24,9 Prozent, die DDP lag bei 14,7 Prozent. Dagegen legten die im rechten Spektrum verorteten Parteien DVP und DNVP zu, ihr Wahlbündnis „Bürgerliche Partei“ kam auf 17,8 Prozent. Die von der SPD abgespaltene USPD erreichte 5,1 Prozent. Im Gemeinderat gingen Zentrum und Bürgerliche Partei daraufhin ein Bündnis ein, hatten aber keine Mehrheit, das Zentrum suchte daher in wichtigen Fragen eine Verständigung mit der SPD.
Inflation im Herbst 1923 stürzte Einwohner in Not
Die politischen Wirren und Putschversuche auf nationaler Ebene, aber auch die soziale Krise der folgenden Jahre sorgten für deutliche Veränderungen der politischen Landschaft auch in Rösrath. Der Stillstand des Wohnungsbaus während des Ersten Weltkriegs trug zu einem dramatischen Wohnungsmangel in Rösrath bei, die Inflation vom Herbst 1923 und die Massenarbeitslosigkeit stürzten viele Einwohner in blanke Not. Bei der Reichstags- und Kommunalwahl im Mai 1924 erlitt die Rösrather SPD daraufhin katastrophale Verluste, sie kam nur noch auf 12,6 Prozent (Reichstag) und 17 Prozent (Gemeinderat).
Gewinner war die inzwischen gegründete KPD, die 21,9 und 20,4 Prozent erhielt. Das Zentrum blieb bei den beiden Wahlen mit 26,4 und 22 Prozent weitgehend stabil, während sich der DDP-Stimmenanteil halbierte. Im rechten Wählermilieu setzten sich radikale Kräfte gegenüber gemäßigt konservativen Parteien durch, bei der Reichstagswahl konnte die DNVP ihren Stimmenanteil mehr als verdoppeln und erzielte 10,9 Prozent.
Die „Einheitsliste/
Unparteiische Liste Rösrath“ wurde stärkste Kraft
Im Gemeinderat kam die Liste „Bürger heraus, keine Ausgabe ohne Deckung!“ mit 32,6 Prozent auf Platz eins. Überdurchschnittlichen Zuspruch erhielt sie in den protestantisch geprägten Ortsteilen Hoffnungsthal (40,1 Prozent) und Forsbach (35,6 Prozent).
Motor Industrie
Entscheidend für die Entwicklung Rösraths seit dem 19. Jahrhundert war das Stahl- und Walzwerk der Gebrüder Reusch in Hoffnungsthal. In den Hochzeiten waren dort Hunderte von Arbeitskräften beschäftigt. So erklärt sich, dass Hoffnungsthal in den 1920er Jahren der bevölkerungsreichste Ortsteil war. Im Lauf der Jahrzehnte verschoben sich jedoch die Gewichte: Heute dominiert der Ortsteil Rösrath. (tr)
Am Ende der 1920er Jahre, bei der Kommunalwahl im November 1929, ergab sich ein ähnliches Bild. Auffällig war, dass viele Wähler einer völlig neuen Gruppierung, der „Einheitsliste/Unparteiische Liste Rösrath“ ihr Vertrauen schenkten, diese wurde mit 19,9 Prozent stärkste Kraft und erhielt vier von 18 Mandaten. Während zwei Listen auf je einen Sitz kamen, gingen je drei Mandate an Zentrum und KPD, ebenso an Bürgerblock und SPD. Wobei die SPD deutlich weniger Stimmen als der Bürgerblock hatte und nur aufgrund des Auszählverfahrens und mit Haaresbreite auf drei Sitze kam.
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Dies führte zur Anfechtung der Wahl und einem Rechtsstreit, am Ende wurde das knappe Ergebnis jedoch bestätigt. Der spätere Erfolg der Nationalsozialisten war 1929 zwar noch nicht an Zahlen ablesbar, Vorzeichen waren aber die durchaus hasserfüllte Polarisierung, der Vertrauensverlust gemäßigter Parteien und der plötzliche Erfolg neu formierter Gruppierungen.