21 Jahre nach dem schweren Zugunglück in BrühlKanadier sucht deutschen Ersthelfer
- Bei diesem Beitrag handelt es sich um einen Text aus unserem Archiv, der unsere Leserinnen und Leser besonders interessiert hat. Er wurde zum ersten Mal am 10. März 2021 veröffentlicht.
Brühl/Calgary – Nachts liegt Damian Robertson oft lange wach. Wenn alles still ist und er sich nicht mehr ablenken kann, sieht er die Bilder wieder vor sich: die schrecklichen Bilder von dem schweren Zugunglück, das vor 21 Jahren in Brühl passiert ist.
Vor einigen Tagen hat der heute 42-jährige Kanadier einen Aufruf über die sozialen Netzwerke gestartet mit der Bitte, ihm bei der Suche nach einem deutschen Soldaten zu helfen. Mit ihm hatte er nach dem Unglück Erste Hilfe geleistet. Diesem Soldaten möchte der Kanadier für seine Hilfsbereitschaft danken– und er möchte wissen, wie es dem Mann geht. Der Aufruf bei Facebook wurde mittlerweile mehr als 3000-mal weltweit geteilt.
Kanadier: „Unglücklicherweise nahm ich den falschen Zug“
Damian Robertson war zu dem Zeitpunkt als Soldat eigentlich im Kosovo auf Friedensmission. Doch er hatte Gelegenheit, mit einem Freund, ebenfalls Soldat, durch Europa zu reisen. Ihre Wege hatten sich getrennt, der Kanadier war allein von Köln nach Mailand unterwegs, um den Freund dort wiederzutreffen. Von dort aus wollten sie gemeinsam zurück in den Kosovo.
„Unglücklicherweise nahm ich den falschen Zug“, erinnert sich der 42-Jährige. „20 Minuten nach der Abfahrt aus Köln erlebten wir, was ich eigentlich nur von einer Achterbahnfahrt kenne“, beschreibt der Kanadier den Unfallhergang: „Die Lichter im Zug sind ausgegangen, wir sahen nur die Beleuchtung der Häuser, an denen wir vorbeifuhren. Ich erinnere mich, wie wir von den Gleisen abkamen und auf einmal ein Waggon von hinten an meinem Fenster vorbeizog. Plötzlich gab es einen Ruck, und ich knallte mit dem Kopf gegen das Fenster. Als wir endlich zum Stehen kamen, konnte ich das Fenster an meiner Seite aufbrechen, es war durch meinen Aufprall gesplittert. Ich half den Leuten, so gut es ging, aus dem Abteil heraus.“
Zugunglück von Brühl: Robertson schläft noch heute schlecht
Robertson hatte mit dem Rücken zur Fahrtrichtung gesessen, erlitt eine schwere Gehirnerschütterung, einen Bandscheibenvorfall und Schnittwunden am ganzen Körper. Als der Soldat aus dem Abteil hinausgeklettert war und die Unglücksstelle sah, verfiel er nicht in Panik: „Als Soldat war ich darauf trainiert, in so einem Moment Erste Hilfe zu leisten. Trotzdem war ich überrascht, dass ich ruhig bleiben und helfen konnte.“
Eisenbahnunfall von Brühl 2000
In der Nacht des 6. Februars 2000 kam es im Bahnhof Brühl zu dem schweren Bahnhunglück. Der von der Lok 101 092 gezogene D 203 Schweiz-Express von Amsterdam Centraal nach Basel SBB fuhr mit überhöhter Geschwindigkeit über eine in abzweigender Lage liegende Weiche und entgleiste. Dabei kamen neun Fahrgäste ums Leben.
In einem umgestürzten Waggon sah er den deutschen Soldaten, der versuchte, die Abteiltür von innen zu öffnen. „Gemeinsam schafften wir das“, erinnert sich der Kanadier. Was er in dem Abteil sah, lässt Robertson bis heute schlecht schlafen. Doch damals gab es kein Zögern, die beiden Soldaten packten an. Der Kanadier denkt immer noch an den Deutschen: „Ich möchte mich bedanken für den Mut, den er in diesem Moment zeigte. Gerade auch, weil dieses Erlebnis mein Leben so stark beeinflusst hat, hoffe ich, dass es ihm heute gut geht und er gesund ist.“ Denn Robertson leidet nicht nur unter den Folgen der Verletzungen von dem Zugunglück, sondern auch an einer posttraumatischen Belastungsstörung.
„Ich habe einen Teil von mir im Zug verloren“
Zehn bis 15 Minuten lang, so kann der Kanadier heute nur noch schätzen, gaben die beiden Männer dann ihr Bestes, um anderen Menschen zu helfen, ehe sie von den Einsatzkräften abgelöst und selbst versorgt werden konnten. „Alle Helfer und ich waren zum Ende hin voller Adrenalin und gleichzeitig geschockt. Als ich den Soldaten zum letzten Mal sah, gaben wir uns die Hand, dann verloren wir uns im Durcheinander aus den Augen.“
Robertson wurde zu einer Anlaufstelle gebracht, in der seine Wunden versorgt wurden und er duschen konnte. „Das war die schrecklichste Dusche meines Lebens“, erzählt er, „weil überall auf meinem Kopf kleine Glasscherben waren.“ Am nächsten Tag saß er schon im Flugzeug nach Mailand. Wegen der Gesundheitsprobleme schickte die Armee ihn nach Hause, drei Jahre später wurde er entlassen. „Meine Familie sagt, ich hätte einen Teil von mir in diesem Zug verloren“, so der ehemalige Soldat.
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Doch er kämpfte sich, unterstützt von seiner Familie, zurück ins Leben. Seit einigen Jahren betreibt er ein Tattoo- und Piercing-Studio in Calgary. Seine Erfahrungen als Veteran und Ersthelfer gibt er mit seiner Frau weiter an Menschen, die ebenfalls Schreckliches erlebt haben. Er und seine Familie hoffen, das Kapitel jetzt nach 21 Jahren schließen zu können. Wenn Damian Robertson endlich weiß, wie es seinem deutschen Kameraden in all den Jahren ergangen ist.