Blessem – Das Schlimmste ist die Ungewissheit. Und die Gerüchte. Nicht zu wissen, was noch alles kommen wird. Hält der Staudamm der Steinbachtalsperre? Halten die Dämme bei Lommersum und Niederberg? Die wenigen Menschen, die nach der Evakuierung der Ortschaft Blessem am Donnerstagabend trotz aller Warnungen am Freitag nach Blessem zurückgekehrt sind, um nach ihrem Hab und Gut zu schauen, haben den riesigen Krater, den die Erft mit ihrer ganzen Wucht in die Radmacherstraße gerissen hat, noch gar nicht gesehen. Das Wasser steht noch knöchelhoch auf der Straße. Auf dem Rest von dem, was von ihr noch übrig ist.
„Das ist hier innerhalb von ein paar Stunden explodiert.“ Michael Vieth steht vor dem Blessemer Eck, dem Treffpunkt des Ortes, 100 Meter vor ihm klafft ein Loch. Dort, wo die Radmacherstraße einen Rechtsknick zur Burg machte. Ein gewaltiger Erdrutsch hat drei Häuser auf der linken Seite in sich zusammensacken lassen, andere stehen noch zur Hälfte, die Wucht hat etliche Autos in den Abgrund gezogen.
Was Michael Vieth zu diesem Zeitpunkt nicht weiß: Auch die Burg ist zur Hälfte eingestürzt. Am Freitagmittag habe es geheißen, es sollten alle gehen, sagt er. „Viele wollten gar nicht, weil keiner geglaubt hat, dass es so schlimm kommt. Dann hat man plötzlich gesehen, wie lebensbedrohlich die Lage wirklich ist.“
„Wie im schlimmsten Spielberg-Film. Ein absoluter Alptraum“
Die Radmacherstraße sei an dieser Stelle der tiefste Teil des Ortes. Das Wasser habe mindestens 1,50 Meter hochgestanden. „Der leibliche Vater meines Ziehsohns musste sich in die Schaufel eines Radladers setzen. So haben sie ihn im letzten Moment hier rausgeholt“, sagt Vieth. Wie viele Menschen in den Trümmern ihr Leben verloren haben, könne niemand sagen. „Wenn jetzt auch noch die Steinbachtalsperre in Euskirchen ihren Geist aufgibt, stürzt das Wasser in die Swist und von dort in die Erft. Dann kommt hier die nächste große Welle. Man kommt sich vor wie in dem schlimmsten Spielberg-Film. Das ist ein Alptraum, ein absoluter Alptraum.“
Frank Rock, Landrat des Rhein-Erft-Kreises, hat am Nachmittag auch noch keine konkreten Zahlen über Tote und Vermisste. Es habe kaum Zeit gegeben, die Menschen zu warnen: „Es ist eine katastrophale Lage, wie wir sie hier noch nie hatten.“
Den ganzen Tag über kreisen Hubschrauber über Blessem. 30 Rettungsboote sind im Einsatz, auch Taucher suchen nach Vermissten. Die Ursache des Erdrutsches ist noch unklar, doch scheint es wahrscheinlich, dass die innerhalb von wenigen Stunden stark anschwellende Erft eine Kiesgrube unterspült hatte und dass dieses Ereignis den gewaltigen Erdrutsch auslöste.
Aus dem Krater ist ein durchdringender gleichbleibender Piepton zu hören. Ein silberner Kleinwagen droht, aus einer völlig zerstörten Garage neben einem halb abgerissenen Haus in das Loch zu kippen. Zwischen der Autobahn und der Kiesgrube wird das ganze Ausmaß der Katastrophe sichtbar. Die Erft hat einen Teil der Autobahn unterspült, Lärmschutzwand und Standstreifen sind komplett weggebrochen.
Zum Kraterrand wagt sich niemand über das durchsumpfte Feld. Die Böschung kann jederzeit nachgeben.
Er habe sich immer schon gewundert, dass das Kieswerk die Grube habe erweitern dürfen, sagt Michael Vieth. Das habe er niemals für möglich gehalten. „Wenn die mal in Bewegung kommt, wird der halbe Ort reingesaugt. Ich kann das nicht begreifen, dass man so etwas zugelassen hat. Die Grube ist bis zur Autobahn ausgebaut worden. Wenn die unterspült wird, ist die Autobahn weg.“
Harald Schnitzler kann nicht mehr. Erschöpft hockt er vor dem Haus seines Bruders, das Gesicht dreckverschmiert, den Tränen nah. Die Nacht zum Freitag hat er bei Verwandten verbracht. „Man hat mich mit dem Tieflader rausgeholt. Ich wollte noch retten, was zu retten ist. Das Wasser ist von allen Seiten gekommen, erst von der Straße, dann vom Garten. Ich stand bis zum Bauch im Wasser. Mein Auto ist zerstört. Mein Bruder sucht es noch, der war auf der Luxemburger Straße, die Kleine holen. Als der wiederkam, war hier kein Mensch mehr.“
Schnitzler hat noch am Donnerstag zwölf Stunden gegen das Hochwasser angekämpft. Im Chemiewerk in Hürth das Wasser rausgepumpt. Von der Feuerwehr sei er reingerufen worden. „Um fünf Uhr nachmittags hat man mich nach Hause gefahren. Da kam mir schon die Bundeswehr entgegen. Wir konnten nur noch den alten Leuten helfen und dann nichts wie raus hier.“ „Dieses Riesenloch wird uns mindestens noch ein halbes Jahr beschäftigen.“ Karl Berger steht vor seinem Geburtshaus mitten im Ort, unweit vom Blessemer Eck auf der Frauenthaler Straße. Als Vorsitzender der Bürgerforums Blessem-Frauenthal e.V. zwingt er sich, nach vorn zu schauen. 1961 habe die Erft den Ort schon einmal heimgesucht. „Aber das war nichts gegen diese Katastrophe.“ Berger hat vier Brüder. „Einer ist schon verstorben“, sagt er. „Wir Drei wohnen hier schon immer zusammen.“ Der Jüngste habe auf dem Eschenweg ein Fertighaus gebaut. „Der bekommt als Erster das Wasser.“ Dann sei es bei seinem anderen Bruder durch den Garten reingelaufen, habe alles zerstört. „Der hatte einen großen Koi-Teich mit 25 Tieren, über Jahre gezogen. Fünf oder sechs haben wir im Garten schwimmen sehen, aber bei dem Ölfilm auf dem Wasser brauchen wir uns nicht viel Hoffnung machen“, sagt er. Karl hat lange ausgeharrt, in seinem Haus auf der Klarastraße: „Ich bin ganz spät raus hier.“
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Jetzt könne man nur hoffen, dass die Dämme halten und das ganze Aufräumen einen Sinn hat. Auf dem Weg durch die Nachbarorte schleppen Menschen Sandsäcke, die mit allem herangefahren werden, was Räder hat. Im Ortskern von Lechenich packen alle an. Schaufeln, was das Zeug hält, dichten Hauseingänge und Kellerschächte ab. In den ersten Straßen steht schon das Wasser. Jeder Sandsack ist ein Sack voll Hoffnung, dass der Ort verschont bleiben möge.
Das Schlimmste ist die Ungewissheit. An diesem schwarzen Freitag. Nicht nur in Blessem.