Symbole der UnendlichkeitEin Besuch im Atelier des Rhöndorfer Bildhauers Dirk Wilhelm
Bad Honnef – Es riecht nach Stein, der gerade bearbeitet worden ist. Staub liegt in der Luft, wie feine Punkte von Materie, die im Sommer in der Sonne tanzen. Marmor und Alabaster sind auf Arbeitstischen abgelegt worden, an der Wand hängen Papiere, Skizzen zumeist, und ein gerahmter Zeitungsausschnitt, dazu in einem Buch ein handgeschriebener Satz: „Eine Haltung, die ich nicht in mir habe, kann ich nicht in Stein gestalten.“ Er sagt viel darüber aus, wie der Bildhauer Dirk Wilhelm arbeitet.
Wir sind in seinem Atelier in der Villa Riese in Rhöndorf, 1929/30 für Friedrich Borgelt erbaut, den Gründer der ersten privaten Krankenversicherung. Mitte der 1930er Jahre zog hier die Familie des Drogisten Max Riese ein, der seit 1904 das Patent für die „Penaten Creme“ besaß, die er in seiner Fabrik nebenan herstellte. 1986 übernahm der US-Konzern Johnson & Johnson die Firma und schloss im Jahr 2000 den Rhöndorfer Standort. Seit 2007 lebt Dirk Wilhelm mit seinem Mann in der Villa.
Das Atelier im Keller hat er sich in der ehemaligen Küche eingerichtet; von dort führte zu Rieses Zeiten ein Speiseaufzug ins Esszimmer im Parterre und weiter in die oberen Gemächer, wo ihm Bedienstete auf Tabletts die Schüsseln und Teller mit den Speisen für die Herrschaften entnahmen. Ein Kohleofen in einer Ecke der Werkstatt erinnert noch an die alte Funktion dieses Raums.
Großen Respekt beim Umgang mit dem Material
Dirk Wilhelm bearbeitet gerade ein Stück weißen Stein, den er zu einem Ampersand umformt, dem &-Zeichen, das, stellt man es auf den Kopf oder legt es auf die Seite, wie eine ins Unendliche führende Schleife aussieht. Als Bildhauer haut er im wahrsten Sinn aus dem Urstoff etwas weg, entweder mit dem Meißel, dem Drucklufthammer, der Raspel oder der Feile. Dabei geht er mit großem Respekt vor dem Material, Marmor oder Alabaster, sehr vorsichtig zu Werke, um es nicht zu zerstören.
Das Symbol der Unendlichkeit ist in vielen seiner Schöpfungen zu finden. Etwa in der schneckenförmigen „Evolute“. Dieser Begriff meint in der Mathematik eine Kurve, auf der sich der Mittelpunkt des Krümmungskreises befindet. Das untere Ende von Wilhelms „Evolute“ rollt sich wie eine Schnecke ein, das obere weist ins Ungefähre. Die durchsichtig wie Glas wirkende Alabasterskulptur wird seit 2015 von der Bonner Beethoven Akademie an die Preisträger des „Internationalen Beethovenpreises für Menschenrechte, Frieden, Freiheit, Armutsbekämpfung und Inklusion“ überreicht. 2021 ist die portugiesische Pianistin Maria Joâo Pieres damit ausgezeichnet worden. Die Verleihung wurde aus Termingründen aber auf den 26. Januar dieses Jahres verschoben. In einem Konzert im Kursaal von Bad Honnef wird Pieres die Trophäe entgegennehmen.
Herausragend ist Wilhelms Arbeit für Papst Franziskus, ein 60 Zentimeter hohes Kreuz aus einem Stück Marmor, geformt wie ein ewiges, in sich geschlossenes Band. Ein Text des Schriftstellers Navid Kermani war ihm dabei Inspirationsquelle. Der muslimische Intellektuelle denkt in dem Essay „Ungläubiges Staunen“ über christliche Symbolik nach, also auch über das Kreuz. An einer Wand in Dirk Wilhelms Atelier hängt ein altes Kreuz, das er in einem Altbau gefunden hat. Die Arme des Heilands sind abgebrochen, warum auch immer. „Beim Kreuz mit zwei Balken habe ich gedacht: Das kann nicht universell sein“, sagt Wilhelm. Die Arme des Gekreuzigten sollten sich vielmehr nach oben öffnen. 2016 sei er nachts mit der Idee aufgewacht und habe sie skizziert.
Zur Person
Dirk Wilhelm wurde 1969 geboren und studierte Bildhauerei an der Alanus Hochschule in Alfter und Metallgestaltung an der Hochschule für Kunst und Design Burg Giebichenstein in Halle/Saale. Seit 1995 ist er als Bildhauer selbstständig. Seine Werke sind unter anderem in der Continuum Galerie im Wintermühlenhof in Königswinter zu sehen. (dbr)
Zwei Jahre später überreichte er die Skulptur, geschaffen aus Marmor aus den Steinbrüchen von Pietrasanta, einer Kleinstadt am Fuße der norditalienischen Alpen, bei einer Generalaudienz auf dem Petersplatz in Rom an den Papst. Wilhelm könnte sich das Kreuz, dann vielleicht zwei bis drei Meter hoch, durchaus in einer Kirche vorstellen, wo es den Raum hätte, sich für den Betrachter zu entfalten.
„Avento“ erstes Werk für den öffentlichen Raum
Vor Corona hat sich der Rhöndorfer drei bis vier Monate im Jahr in Pietrasanta aufgehalten, und dort, wo schon der Stein für Michelangelos „David“ gebrochen wurde, nach dem passenden Material für sich gesucht und es auch vor Ort bearbeitet. In Pietrasanta fand er auch den drei mal drei Meter großen Block für seine Großskulptur „Avento“, die seit 2013 auf dem Kreisel am Drieschweg steht: Neun Steine bilden ein Quadrat, aus dem wiederum auf der einen Seite ein auf der Spitze stehendes Quadrat und auf der anderen Seite eine tellerförmige Vertiefung herausgehauen wurde – Wilhelms erstes Werk für den öffentlichen Raum, gefördert von einer Bürgerinitiative, wirkt bei aller Schwere schwebend.
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In der Corona-Zeit hat er sich in sein Atelier zurückgezogen, Neues ausprobiert und sich der kleinen Form zugewandt. Entstanden ist etwa eine Art EU-Flagge, auf der England fehlt: Brexit. Oder in einem goldenen Fußball steckt eine Infusionsspritze. Die Botschaft: Überall Lockdown, nur im hoch bezahlten Profifußball gehen die Spiele weiter. Das ist, um auf den oben zitierten Satz zurückzukommen, die Haltung, die er nicht in sich hat und deshalb nicht in Stein gestalten kann.