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„Krückstockmord“ von TroisdorfAngeklagter erhält 1979 die Höchststrafe

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Der alte Saal des Schwurgerichts im Bonner Landgericht

Bonn/Troisdorf – Schicksale hinter grüner Pappe: Die Familie des langjährigen Vorsitzenden des Bonner Schwurgerichts, Walter Schmitz-Justen (1921 bis 1997), hat dem Landgericht einen Schnellhefter vermacht mit Zeitungsausschnitten über einige Prozesse, die er geführt hat. Es sind zumeist tragische Geschichten zwischen Aktendeckeln zu finden.

Zum Beispiel die über den Bauarbeiter Otto F. aus Troisdorf, der im Januar 1979 von dem Richter hören muss, er sei der Mörder einer alten Frau und werde deshalb zu lebenslanger Haft verurteilt. Der Angeklagte wird bis zuletzt seine Unschuld beteuern.

Der Mordfall

Am Morgen des 19. Juli 1978, einem Donnerstag, kehrt in Troisdorf eine 71-Jährige vom Kirchgang heim und wundert sich, dass der Rollladen vor dem Schlafzimmer ihrer 81-jährigen Nachbarin Maria B. in der Pfarrer-Theiß-Straße noch heruntergelassen ist. Besorgt ruft sie deren Schwester an, zwei weitere Frauen kommen hinzu, und gemeinsam gehen sie ins Haus der Witwe.

Sie finden sie blutüberströmt und nicht mehr ansprechbar auf dem Boden neben ihrem Bett, das Nachthemd zerrissen, auf einem Tisch liegt ihr zerbrochener Krückstock. Die Frauen alarmieren die Hausärztin, die den Krankenwagen ruft.

Die Ärzte im Hospital stellen bei der Verletzten Blutergüsse, Platzwunden und einen Nasenbeinbruch fest – und schalten die Polizei ein. Bevor sie da ist, hat indes die Schwester von Maria B. bereits das Zimmer aufgeräumt, die Bettwäsche eingepackt und das Blut abgewischt.

Zwei Kripobeamte aus Siegburg kommen schließlich am frühen Nachmittag zur Wohnung der 81-Jährigen, finden dort aber keine Spur von einem mutmaßlichen Einbrecher und gehen wieder. Ein paar Tage später stirbt die Frau im Krankenhaus. Unmittelbare Todesursache: Lungenentzündung und Herz-Kreislauf-Schwäche.

Die Ermittlung

Die Polizei tritt wieder auf den Plan, arbeitet aber offenbar nicht sehr professionell, denn Richter Schmitz-Justen wirft der Kripo Siegburg ein halbes Jahr später im Schwurgerichtsprozess „haarsträubende, gravierende“ Pannen vor: „Die Fehler, die an diesem Tatort passiert sind, sind nicht entschuldbar.“

Die Bonner Mordkommission, für Todesermittlungen zuständig, ist nämlich zu spät eingeschaltet worden. Sie nimmt nach Hinweisen aus der Bevölkerung den 39 Jahre alten Arbeiter Otto F. auf einer Baustelle in Siegburg fest – der Maria B. gar nicht kennt.

Die Vernehmung

Otto F. sagt in der Vernehmung bei der Polizei immer wieder, er sei unschuldig, doch bei einer Durchsuchung stoßen die Polizeibeamten in seiner Wohnung auf das nagelneue, schwarze Portemonnaie von Maria B. Der Arbeiter behauptet, es auf der Straße in der Nähe des Tatorts aufgehoben zu haben.

Weitere Indizien: Im Zimmer der Toten entdecken die Mordermittler einen von F. gebastelten Dietrich. Und in der Toilettenschüssel liegt eine Zigarette der Marke „Peer 100“, die F. raucht. Diese wird zur wichtigsten Spur.

Das Urteil

Nach fünftägiger Hauptverhandlung im Saal 113 des Bonner Landgerichts wird dem Angeklagten in einem Indizienprozess die Höchststrafe verkündet: lebenslänglich. Er sei durch das geöffnete Flurfenster in das Haus der Witwe eingestiegen, heißt es in der Urteilsbegründung, habe sie mit zehn dumpfen Schlägen, davon mindestens einen mit ihrem Krückstock, lebensgefährlich verletzt und sie beraubt.

Das Verbrechen sei „an Scheußlichkeit nicht zu überbieten“, so formuliert es der Schwurgerichtsvorsitzende. Die Tochter des Arbeiters ergreift bei der Urteilsverkündigung weinend seine Hand: „Wir glauben an deine Unschuld, Papa, und wir halten zu dir.“ Auch der Vater weint: „Die Schweine! Ich bringe mich um, ich bin unschuldig.“#

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F. beauftragt einen neuen Anwalt, Gunter Widmaier, Sozius in der Kanzlei des Münchner Staranwalts Rolf Bossi. Er legt Revision beim Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe ein, doch im März 1980 bestätigt der Strafsenat des BGH das erstinstanzliche Urteil. Es ist damit rechtskräftig.

Otto F. bezieht eine Einzelzelle in der Justizvollzugsanstalt Rheinbach. Zweimal im Monat darf ihn seine Frau Gertrud eine halbe Stunde lang besuchen. Er arbeitet in der Gefängnisschreinerei, entdeckt sein künstlerisches Talent, malt naive Bilder in Öl und gießt Porzellanfiguren.

Der „Sozialanwalt“

Mitte der 80er Jahre kommt wieder Bewegung in den „Krückstock“-Fall, denn jetzt schaltet sich der selbst ernannte Troisdorfer „Sozialanwalt“ Günter Weigand ein. Der Mann, der sich selbst als Justizopfer sieht, mischt sich immer wieder ein, wenn er Justizirrtümer vermutet, so auch beim „Krückstockmord“-Urteil. Er recherchiert, schreibt Briefe, verteilt Flugblätter („An alle wachen und mündigen Demokraten in der Bundesrepublik Deutschland“), schaltet das Fernsehen, die überregionale und die Lokalpresse ein, empfängt Reporter in seiner Wohnung.

Und: Er lenkt den Verdacht auf einen Verwandten von Otto F. Dieser habe das Haus der Getöteten gekannt und habe auch „Peer 100“ geraucht, jene Zigaretten, von denen eine Kippe aus der Toilettenschüssel von Maria B. gefischt worden war.

Die Begnadigung

Im Jahr 1986 laufen die Vorbereitungen für ein Wiederaufnahmeverfahren an, das aber gar nicht mehr zustande kommt. Denn inzwischen sind 105 Gnadengesuche für Otto F. bei der NRW-Staatskanzlei eingegangen, die nicht ohne Wirkung bleiben: Im September 1987 begnadigt Ministerpräsident Johannes Rau den Häftling, wie üblich ohne Angabe von Gründen. Am 30. November 1987 öffnen sich für den Bauarbeiter nach neun Jahren die Gefängnistore, er ist in Freiheit.

Seine Frau hat Troisdorf verlassen und wohnt inzwischen in einem Dorf bei Königswinter. Das Paar ist sich fremd geworden, gelegentliche Besuche in der JVA haben ein Eheleben nicht ersetzen können: „Ich muss mich erst mit meiner Frau zusammenraufen“, erzählt F. zwei Reportern der Zeitung, die mit ihm nach Weihnachten 1987 sprechen.

Er hat seiner Frau Krippenfiguren mitgebracht, die er während der Haft gegossen und gebeizt hat, sie hat ihn zum Fest bekocht: am ersten Feiertag Ente, am zweiten Kaninchen. Otto F.: „Das schmeckte anders als im Knast.“

Günter Weigand brach eine Justizaffäre vom Zaun

Günter Weigand brachte es 1961 zu bundesdeutscher Berühmtheit, weil er in Münster eine Justizaffäre vom Zaun gebrochen hatte: Ein Rechtsanwalt, Seniorpartner in der Kanzlei des damaligen Münsteraner Oberbürgermeisters, war erschossen aufgefunden worden.

Ein Unglück, sagte der untersuchende Arzt, Selbstmord, sagte die Polizei, doch Weigand sprach von Mord und legte sich stur mit allen an, die in Münster etwas zu sagen hatten. Das brachte ihm mehrere Strafverfahren und schließlich die Unterbringung in der psychiatrischen Klinik Eickelborn ein – wegen Unzurechnungsfähigkeit. Nach 98 Tagen wurde er entlassen, nachdem eine erneute gutachterliche Untersuchung ergeben hatte, dass er zurechnungsfähig war.

In einem folgenden, fast ein Jahr dauernden Strafprozess wurde Weigand unter anderem wegen Beleidigung, falscher Anschuldigung und übler Nachrede zu zwei Jahren Haft verurteilt, von denen er dann fünf Monate im Siegburger Gefängnis verbrachte. Dort lernte er die Leiterin eines Troisdorfer Gymnasiums kennen, die in der Justizvollzugsanstalt Siegburg ehrenamtlich Gefangene betreute. Die beiden verliebten sich, heirateten 1969, der Theologe und Konzilsberater Karl Rahner vollzog die kirchliche Trauung.

Der Krimi-Autor und Erfinder der Figur des Privatdetektivs Wilsberg, Jürgen Kehrer, hat ein Sachbuch über die Affäre Weigand geschrieben: „Schande von Münster“, erschienen im Waxmann Verlag.