Rückblick 2021: Bei diesem Bericht handelt es sich um einen Text aus dem Archiv, der unsere Leserinnen und Leser besonders interessiert hat. Er wurde zum ersten Mal am 29. August 2021 veröffentlicht.
Der Schwurgerichtssaal des Bonner Landgerichts, das 1850 errichtet worden ist, wird saniert; er steht unter Denkmalschutz.
Aus diesem Anlass blickt Dieter Brockschnieder auf spektakuläre Verfahren zurück, die in dem Saal stattgefunden haben. Heute: der Strafprozess um den „Schneemord“.
Bonn/Much – Das war der Moment, an dem es Wilhelm Nacken nicht mehr aushielt. Zehn Tage hatte er als Nebenkläger im Schwurgerichtssaal 113 des Bonner Landgerichts den Mördern seines Sohnes Ulrich gegenübergesessen, hatte ihnen in die Augen geblickt, hatte ihre Aussagen gehört, in denen sich die Angeklagten, 26 und 23 Jahre alt, gegenseitig belasteten.
Den beiden wurde vorgeworfen, am 2. Januar 1971 in einem Erlenwäldchen an der Landstraße 352 zwischen Wohlfahrt und Neunkirchen den 18-jährigen Elektromonteur Ulrich Nacken grausam ermordet zu haben. Ein Jahr nach der Tat, am 10. Januar 1972, begann der Prozess vor dem Schwurgericht unter Vorsitz von Landgerichtsdirektor Walter Schmitz-Justen. Mit auf der Anklagebank saß ein Komplize, der sich unter anderem wegen Beihilfe zum Straßenraub verantworten musste.
Bus zum Gerichtssaal umfunktioniert
Am 19. Januar 1972 fuhr die Kammer mit allen Beteiligten in einem Bus, der zum Gerichtssaal umfunktioniert worden war, von Bonn zum Tatort. Zwölf Polizisten des Polizeipostens Eitorf unter dem Kommando von Oberkommissar Fred Merklinghaus, mehrere Diensthundeführer und vier Justizwachtmeister sicherten den Termin. Zahlreiche Schaulustige aus den umliegenden Ortschaften hatten sich eingefunden, die sich mit Kommentaren nicht zurückhielten: „So wie Ulrich Nacken muss es denen auch ergehen“, grummelte eine 61-Jährige mit Blick auf die Angeklagten.
Der Tag war kalt, die Polizisten trugen Ledermäntel, der Schwurgerichtsvorsitzende hatte den Kragen seines Wintermantels hochgeklappt und einen Hut aufgesetzt. Möglichst detailgenau wollte das Gericht hier an der Landstraße dem Leidensweg des jungen Mannes nachspüren.
In Köln das Auto geraubt
Die drei Angeklagten hatten ausgiebig Silvester gefeiert, als ihnen am Neujahrstag 1971 vor einer Diskothek in der Pfeilstraße in Köln Ulrich Nacken begegnete, der einen Wagen besaß. Er solle sie zum Hauptbahnhof fahren, forderten sie, doch der 18-Jährige antwortete: „Saufbolde fahre ich nicht. Verschwindet!“
Das war sein Todesurteil. Die drei Arbeiter packten Nacken, einen gutmütigen jungen Mann in Pepitajacke, auf den Beifahrersitz und steuerten ihr Ziel, eine Unterkunft in Köln-Poll, an. Damit Nacken nicht sah, wohin es ging, steckten sie ihn auf einem Parkplatz in den Kofferraum. In Poll stieg der Komplize, völlig betrunken und müde, aus und wankte in sein Zimmer.
Die anderen beiden kamen auf die Idee, wenn sie schon mal ein Auto hätten, wollten sie es nutzen und die Freundin des 26-Jährigen in Betzdorf besuchen.
Angeklagten banden Ulrich Nacken nackt bei zehn Grad an Baum fest
Warum sie auf der Fahrt dorthin den Weg über die L 352 nahmen, ist nicht bekannt. Irgendwann müssen die beiden Angeklagten geplant haben, ihren Gefangenen als unliebsamen Zeugen loszuwerden. Sie stoppten an dem Waldstück, ließen Ulrich Nacken aus dem Kofferraum klettern. Was dann geschah, hatte der ältere Angeklagte bei einer Aussage im Saal 113 des Landgerichts so erklärt: „Es kam mir vor, als ob der Teufel in mir wäre.“
Der Kölner stand noch gebückt am Pkw, als die Täter sofort mit dem Griff eines Messers zuschlugen und ihn traten. „Warum, warum?“, schrie er verzweifelt, das Gesicht blutverschmiert. Dann musste er sich bei zehn Grad Kälte bis auf Unterhose und Socken ausziehen, seine Peiniger fesselten ihm Hände und Füße, banden ihn mit einem Elektrokabel an einen Baum, nahmen seine Kleidung – angeblich war der Komplize scharf auf die Pepitajacke gewesen – und verschwanden mit dem Kleinwagen.
Gedenkstein an der L 352
Unmittelbar nach der Tat stellten zwei Bauern an der Stelle, an der Ulrich Nacken starb, ein Kreuz aus Birkenholz auf, das an seinen Tod erinnerte. Doch es verwitterte bald. Im Sommer 2010 ließ die Gummersbacherin Bettina Szostak, die selbst Opfer unterlassener Hilfeleistung geworden war, einen Gedenkstein für Ulrich Nacken an der Landesstraße 352 errichten. (dbr)
Ulrich Nacken konnte sich nach Stunden befreien und hüpfte im Zickzack durch 15 Zentimeter hohen Schnee etwa 300 Meter bis zur Landstraße, als er ein Auto hörte. Mit letzter Kraft sprang er, halb nackt und mit gefesselten Armen, in die Höhe, um den Fahrer und seine zwei Begleiter auf sich aufmerksam zu machen.
Der Innenarchitekt am Steuer aber stoppte nicht. Er sei bei diesigem Wetter mit Abblendlicht gefahren und habe das Verhalten der Gestalt in der weißen Unterhose für „einen verspäteten Silvesterscherz“ gehalten, sagte der Zeuge sichtlich erschüttert bei dem Ortstermin aus. Der damals 39-Jährige, der wie seine Beifahrer vom gleichen Gericht wegen unterlassener Hilfeleistung zu 1000 Mark Geldstrafe verurteilt worden war, war der Letzte, der Nacken lebend gesehen hatte.
Denn kurz danach brach der 18-Jährige zusammen, kroch noch 30 Meter bis zum Straßengraben, wo er liegenblieb und erfror. Das Opfer „hat seinen Tod bei vollem Bewusstsein erlebt“, erklärte der Bonner Gerichtsmediziner Christian Rittner am vierten Verhandlungstag.
Ein schlichtes Birkenkreuz am Wegrand errichtet
An all diese Szenen erinnerte das Gericht am Tatort; begutachtet wurden unter anderem Spuren an Leuchtpfählen an der Landstraße, an denen Ulrich Nacken vergeblich versucht hatte, die Fußfesseln zu lösen. Richter, Staatsanwalt, Verteidiger und die Angeklagten gingen auch an der Stelle vorbei, an der zwei Bauern wenige Tage nach der Tat ein mit Tannenzweigen geschmücktes schlichtes Birkenkreuz errichtet hatten: „Hier starb am 2. 1. 1971 Ulrich Nacken aus Köln durch Mörderhand“, stand auf einem Schild.
Das zu sehen, das mitzuerleben, war zu viel für den Nebenkläger Wilhelm Nacken: Plötzlich stürzte sich der kräftige Postobersekretär mit den Worten „Ich schlage dich tot“ auf den älteren Angeklagten und riss ihn nieder. Der Bonner Justizwachtmeister Karl-Heinz Kamps, der den Mann an einer Knebelkette gehalten hatte, wurde mitgerissen und erlitt eine Kratzwunde am Hals.
Erst jetzt begriffen die Polizisten, was los war, zu dritt zogen sie den rasenden Vater zurück. Der brach schließlich weinend in den Armen seines Bruders Josef, der ebenfalls jeden Verhandlungstag verfolgt hatte, zusammen. Wilhelm Nacken war nicht das erste Mal aus der Fassung geraten. Als im Schwurgerichtssaal ein Brief des 26 Jahre alten Angeklagten aus der Untersuchungshaft an seine Freundin verlesen worden war, in dem er geschrieben hatte: „Ich wünschte, ich wäre tot“, rief der Nebenkläger: „Häng dich doch auf, du Lump!“
Schwurgerichtsvorsitzender Walter Schmitz-Justen, ein erfahrener Strafrichter, den Kollegen ehrfürchtig „der Meister“ nannten, führte die Verhandlung fair, aber mit ungewohnter Schärfe, auch weil die Angeklagten sich vor Gericht ebenso gefühlskalt zeigten wie bei der Tat. Denn nachdem sie Ulrich Nacken zurückgelassen hatten, fuhren sie mit seinem Auto nach Köln zurück, legten sich seelenruhig schlafen und feierten am nächsten Tag mit ihren Freundinnen zum vierten Mal den Jahreswechsel – bis einer meinte, man müsse mal nach ihrem Opfer schauen.
Höchste Freiheitsstraße des Bonner Landgerichts
Die höchste Freiheitsstrafe, die das Landgericht Bonn je verhängte, wurde Ende der 50er Jahre verkündet: Das Schwurgericht verurteilte zwei Brüder und ihren Vetter zu insgesamt 300 Jahren Zuchthaus.
Das „Automördertrio“ hatte vom März 1957 bis August 1958 im Kreis Ahrweiler und im Landkreis Bonn die Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzt. Die drei Männer fuhren mit ihrem Auto durch die Gegend und schossen aus purem Vergnügen und Nervenkitzel auf wehrlose Menschen. Dabei verübten die Täter nicht nur Morde, sie begingen auch Brandstiftungen, Diebstähle, Raub und Vergewaltigungen. (dbr)
Doch es war zu spät. Der Tote war gegen 5 Uhr am Morgen des 2. Januar 1971 von einem Zeitungsboten entdeckt worden, der die Polizei alarmierte. Kripobeamte fahndeten nach Nackens Wagen, den sie in dem Waldstück bei Wohlfahrt vermuteten, als sie das Auto gegen 12 Uhr plötzlich auf der Landstraße entdeckten, kein Schnee auf dem Dach, die Scheiben innen beschlagen. Die Täter mussten also in der Nähe sein. Der 26-Jährige lief den Polizisten direkt in die Arme, der 23-Jährige wurde wenig später im Gebüsch festgenommen. Im Verhör legten sie Geständnisse ab.
Am 27. Januar 1972 verkündete das Schwurgericht sein Urteil: lebenslang wegen Mordes für die beiden Hauptangeklagten, viereinhalb Jahre für ihren Komplizen wegen Beihilfe zum Straßenraub in Tateinheit mit räuberischer Erpressung. Die Angeklagten hätten ein altes Auto, „ein blechernes Nichts“, für das Leben eines Menschen eingetauscht, stellte der Vorsitzende Richter fest.
Über den Vater des Toten, der nach dem Zusammenbruch wegen Krankheit der Urteilsverkündung ferngeblieben war, sagte Schmitz-Justen: „Wir alle haben gesehen, was das Leid aus einem Vater gemacht hat.“