- Verkehrspolitik wird hauptsächlich von Männern gemacht. Die „Women in Mobility“ liefern einen weiblichen Blickwinkel.
- Bis ins Ausland reicht mittlerweile der Ruf der Mobilitätsfrauen.
- Ein Porträt.
Essen – Es ist spät am Abend, als Coco Heger-Mehnert wieder mal ihre Erschöpfung überwindet und zur Zoom-Konferenz ruft. Das Notebook steht aufgeklappt auf dem Küchentisch in ihrer Wohnung in Essen-Rüttenscheid. Sie und die anderen zwei Gründerinnen des Netzwerks Women in Mobility haben einiges zu besprechen. Parallel koordiniert Heger-Mehnert Termine für ein Fotoshooting, checkt den Twitter-Kanal. „Es ist ganz schön Druck auf der Pumpe“, sagt sie.
Seit fünf Jahren koordiniert Heger-Mehnert mit zwei Mitstreiterinnen die Women in Mobility (WiM), einen virtuellen Zusammenschluss von Frauen aus der Mobilitätsbranche, die keine Lust mehr hatten, die Männerdominanz tatenlos hinzunehmen. Die Idee entstand auf einer Branchenkonferenz. Heger-Mehnert lauschte mit Kollegin Sophia von Berg einem Vortrag, blickte durch die Reihen und sah ausnahmslos angegraute Haarkränze auf den Hinterköpfen älterer Männer.
„Dieser Moment hat uns aufgerüttelt“, sagt sie. „Uns war klar: So darf das nicht bleiben.“ Sie schlossen sich mit Anke Erpenbeck von den Kölner Verkehrsbetrieben zusammen, die Heger-Mehnert aus dem Job kannte. „Wir sind eine kleine lila Bewegung, die immer größer wird“, so Heger-Mehnert. Inzwischen könne man sich vor Anfragen kaum retten.
Erste Schritte auf der IAA in Frankfurt
Dabei waren die Anfänge niederschmetternd. Kurz nach der Gründung hatte Women in Mobility einen Stand auf der Internationalen Automobil-Ausstellung (IAA) in Frankfurt ergattert, wo Frauen bis dahin allenfalls als Hostessen eine Rolle spielten. Ganz allein mit dem WiM-Wimpel auf dem Tisch stand Sophia von Berg da. Nicht ein Interessent habe sich an dem Tag blicken lassen, erinnert sie sich. Nur ein Mann vom Nebenstand sei vorbeigekommen, um einen Kaffee vorbeizubringen.
Die Phase der Demütigungen ist längst vorbei. Heger-Mehnert, im Hauptberuf beim Verkehrsverbund Rhein-Ruhr tätig, sitzt in der Lounge des Düsseldorfer Motel One, wo sich die „Hub Ladies“ – wie Heger-Mehnert sie liebevoll nennt – manchmal persönlich treffen. „Ich bin die Coco“, sagt sie.
„Es ist verrückt, was in den letzten fünf Jahren passiert ist“, sagt sie. In mittlerweile zehn regionalen WiM-Hubs diskutieren 3100 Frauen die Zukunft der Mobilität aus weiblicher Sicht. „Es geht um inhaltliche Dinge, aber natürlich auch darum, mehr Frauen für die Branche zu begeistern und in Führungspositionen zu bringen.“
Frauen haben besondere Bedürfnisse im Straßenverkehr
Das Netzwerk soll aber auch die weibliche Sicht auf die Mobilitätswende etablieren. Denn Frauen, sagt Heger-Mehnert, hätten andere Bedürfnisse im Straßenverkehr. Ihre Wege führten seltener direkt zu einem Ziel: Auf der Fahrt zur Arbeit halten sie bei der Kita, dem Bäcker, auf dem Rückweg am Supermarkt und dem Fußballtrainingsplatz. Es gehe Frauen aber auch um das Sicherheitsgefühl in Tiefgaragen und an Bahnhöfen. „Für Frauen ist das Auto viel mehr Nutzfahrzeug als Statussymbol“, sagt Heger-Mehnert.
Die heute 57-Jährige hat die Grundlagen für gutes Netzwerken schon als Kind gelernt. Sie ist das fünfte von sieben Geschwistern, aufgewachsen im Taunus, in Wiesbaden und Mainz. Wenn die Kinderschar morgens aufs Gymnasium zulief, hinterließ das Eindruck. „Die Mehnert-Familie kommt“, habe es immer geheißen. Großfamilie präge eben, sagt sie, auch im positiven Sinn. „Man muss sich durchsetzen am Küchentisch.“ Als Nummer fünf habe man die Position der Vermittlerin, sagt sie. „Man nimmt sich selbst nicht so wichtig.“
Netzwerk empfindet sich als eine Art Familie
Heute empfindet sie das Netzwerk wie eine Art Familie. Zu den beiden Mitgründerinnen ist über die Jahre eine Freundschaft entstanden. Ihre Softskills aus den Zeiten turbulenter Küchendebatten sind heute eine tragende Säule für die gemeinsame Arbeit. Sie sei die gute Seele des Netzwerks, sagen die beiden Mitgründerinnen. Sie reflektiere sich selbst, überprüfe ihr Verhalten. „Durch die Zusammenarbeit mit ihr bin ich sehr gereift“, sagt von Berg, die im Bereich Verkehrsmanagement promoviert und für die DB Systel arbeitet. In Sachen soziale Medien sei Coco außerdem ein Ass, ergänzt Erpenbeck, die bei der KVB das Marketing leitet.
Eine Karriere als Mobilitätsexpertin hatte sich im Leben von Heger-Mehnert nicht angedeutet. Nach der Schule machte sie eine fotografische Ausbildung. Sie studierte BWL, dann zog sie zu ihrem Partner nach Essen. Zwei Töchter kamen zur Welt, einige Jahre später zerbrach die Beziehung. Wie viele alleinerziehende Frauen musste auch Heger-Mehnert fortan Arbeit und Kinderbetreuung koordinieren. Einen Makel sieht sie darin nicht. Im Gegenteil, dass sie all das gewuppt hat, erfüllt sie mit Stolz. Sie richtete sich neu aus, entwickelte sich zwischen Kita, Schule und Job zum „Weiterbildungsfreak“, wie sie das nennt. Zuerst Qualitätsmanagement, dann Onlinekommunikation. Der VRR fischte sie aus einer Datenbank der Arbeitsagentur. Hier ist sie nun für die Trendmarktforschung zuständig und für Antworten auf die Frage: Wie sieht aus Sicht des ÖPNV die Mobilität der Zukunft aus?
Privat decken sich Heger-Mehnerts Ideen mit denen einiger Bürgermeisterinnen oder Stadtplanerinnen, die der Dominanz des Autos in den Großstädten Einhalt gebieten wollen. Anne Hidalgo in Paris beispielsweise oder Maria Vassilakou, ehemals Stadträtin für Verkehr in Wien. „Frauen denken radikaler als ihre männlichen Amtskollegen und experimentieren gern“, sagt Heger-Mehnert. Ihre Vision: Der Mensch sollte sich die Stadt zurückerobern. Ihr Rezept: eine autofreie Innenstadt, Straßen zurückbauen, mehr Grünflächen. Heger-Mehnert blickt durch die Glasfassade der Hotellobby auf ein dichtes Geflecht aus Blechlawinen. Mehrspurig stauen sich die Autokolonnen hier auf der Kreuzung. Fahren an, bremsen, reißen nicht ab. „Man muss Autofahrern mehr Raum wegnehmen“, sagt sie.
„ÖPNV ist längst nicht mehr nur Bus und Bahn“
Letztlich aber gehe es weniger darum, ein Verkehrsmittel zu verdrängen, sondern dass unterschiedliche Angebote ineinandergreifen. „ÖPNV ist längst nicht mehr nur Bus und Bahn“, sagt sie. „Es geht um die Verschmelzung mit Carsharing, Radverleih, E-Scooter und dem motorisierten Individualverkehr.“ Die Lobbygruppen dürften nicht mehr nur für sich denken, sondern miteinander. „Alleine geht es nicht mehr.“
Sie wolle die weibliche Debattenkultur nicht romantisieren, sagt Heger-Mehnert. Auch bei den Women in Mobility könne es schon mal krachen. Aber: „Man hört einander zu, versucht die Sichtweisen des anderen zu verstehen.“ Vielleicht sei gerade auch das die große Stärke des WiM-Netzwerks. „Frauen spielen seltener den Platzhirsch. Der Sache ist das eher zuträglich.“
Bis ins Ausland reicht mittlerweile der Ruf der Mobilitätsfrauen
Einmal erst haben sich alle Hubs real getroffen. Im November 2019 in der obersten Etage des silbernen Turms der DB Systel in Frankfurt am Main. Heger-Mehnert wirkt fast selig, wenn sie von diesem Tag erzählt. Von der positiven Stimmung, dem Spirit der 185 Besucherinnen. Einer der wenigen Männer schwärmte bei Twitter: „Das war so wohltuend unaufgeregt, entspannt und doch ganz klar, kompetent und fokussiert.“
Bis ins Ausland reicht mittlerweile der Ruf der Mobilitätsfrauen. Ein Hub sitzt in London, einer in Wien, auch die Schweiz ist inzwischen dabei. Anfragen kommen aus Kanada und Portugal. „Es ist eine Dynamik entstanden, die uns auch sehr herausfordert“, sagt Heger-Mehnert und spricht von einem Kraftloch, in das sie nach dem Treffen zu stürzen drohte. Die Gründerinnen haben beschlossen, das Wachstum vorerst zu stoppen. Nun sollen Regeln für Neugründungen formuliert und eine Datenbank für Speakerinnen erstellt werden. „Ein Netzwerk muss substanziellen Gehalt liefern, sonst ist es nur heiße Luft und Zwiebackstaub.“
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Am 25. November werden die Women in Mobility mit dem Deutschen Mobilitätspreis geehrt. Schirmherr des Preises ist ausgerechnet Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer, der überzeugt die Privilegien der Autofahrer verteidigt. Spricht man Heger-Mehnert darauf an, sagt sie: „Wäre ja eine gute Gelegenheit, mit ihm mal über visionäre Verkehrspolitik zu sprechen.“