Amoklauf als AlltagWarum auch 19 tote Kinder in den USA nichts ändern werden
Eric Harris und Dylan Klebold wollten sterben. Aus unterschiedlichen Gründen. Der eine war ein Psychopath, der nicht zu Gefühlen fähig war und sich unendlich langweilte. Der andere hielt sich für den einsamsten Menschen der Welt, weil es mit einem Mädchen nicht so richtig klappen wollte, wie das FBI später mitteilen sollte. In einem Punkt waren sich die Teenager aber einig: Für ihr persönliches Unglück sollten andere büßen.
Am 20. April 1999 töteten Harris und Klebold zwölf Mitschülerinnen und Mitschüler und einen Lehrer an der Columbine High School in Littleton, einem Vorort von Denver, bevor sie sich selbst erschossen. Mit Waffen, die auf sogenannten Gun Shows der National Rifle Association (NRA) ohne viel Aufwand gekauft wurden. Die Waffenlobby geriet unter Druck und schärfere nationale Waffengesetze in den USA schienen in Griffweite. Eine trauernde Nation stellte sich die Frage: Wie lange sehen wir noch dabei zu, wie wir uns gegenseitig erschießen?
Die Zeit liefert eine schonungslose Antwort: noch immer und bis auf Weiteres. Am Dienstag hat ein 18-Jähriger an der Robb Elementary School in Uvalde, Texas, 19 Kinder und zwei Lehrer getötet, bevor er von der Polizei erschossen wurde. Und 23 Jahre nach Columbine fragt der US-Präsident Joe Biden seine abermals schluchzende Nation: „Wann in Gottes Namen werden wir der Waffenlobby die Stirn bieten?“
Die Fakten
Laut einer Datenbank der „Washington Post“ sind seit der Schießerei in Columbine mehr als 300.000 Schülerinnen und Schüler Opfer von Waffengewalt geworden. Kein anderes Land kann eine solch beschämende Bilanz vorweisen. 311.000 Kinder wurden demnach bei Schießereien in Schulen verletzt oder mussten mit ansehen, wie ihre Mitschüler und Lehrer erschossen wurden. Sie suchten Schutz in verbarrikadierten Klassenzimmern, Badezimmern und zitternd unter ihren Schreibtischen.
Expertinnen und Experten sprechen mittlerweile von einer Epidemie. Die Debatte über das liberale Waffengesetz ist festgefahren – allen Amokläufen zum Trotz. Die Nachrichtenorganisation „Education Week“ führt seit 2018 Buch. Alleine in diesem Jahr kam es bereits 27-mal zu einem sogenannten School Shooting, bei dem mindestens ein Mensch erschossen oder verletzt wurde.
Seit 2013 wurden einer Statistik zufolge pro Jahr durchschnittlich 30 Personen an US-Schulen getötet. Das bisher folgenschwerste Jahr war 2018 mit 61 Todesopfern. In diesem Jahr fanden bereits 27 Menschen in der Schule ihren Tod. Und es ist erst Ende Mai. In den USA sterben Kinder mittlerweile häufiger durch Schussverletzungen als durch Autounfälle. Erstmals war das laut der US-Gesundheitsbehörde CDC 2020 der Fall. Was in Deutschland unvorstellbar klingt, wird in einem Land, in dem sich Schätzungen zufolge 400 Millionen Schusswaffen in privaten Händen befinden, zum täglichen Albtraum.
Schulen sind dabei nicht die einzigen Tatorte. Nach Auswertung der Non-Profit-Organisation Everytown for Gun Safety finden die meisten Amokläufe, nämlich rund 61 Prozent, in Privathäusern statt, in der Öffentlichkeit sind es etwa 30 Prozent. Erst vor zwölf Tagen wurden in Buffalo in einem Supermarkt zehn Menschen erschossen.
Wie groß das Waffenproblem ist, zeigt die jüngste Statistik der Gesundheitsbehörde CDC aus dem Jahr 2020: Damals beklagten die USA 120 Schusswaffentote pro Tag.
Nach Angaben der Datenbank The Gun Violence Archive, einer Non-Profit-Organisation, hat es in diesem Jahr bereits 212 „Mass Shootings“ gegeben. Anders als bei Everytown werden in dieser Zählung nur Ereignisse berücksichtigt, bei denen mehr als vier Personen durch Schusswaffen getötet oder verletzt wurden.
Gebete statt Gesetze
Dennoch scheint ein strikteres Waffengesetz in den USA in weiter Ferne. Der Ablauf nach Amokläufen ist mittlerweile eingeübt: Aufschrei, Trauer, Wut und Tatenlosigkeit. Die Republikaner schließen die Opfer und die Hinterbliebenen in ihre Gebete ein und die Demokraten schreien nach Waffengesetzen, die sie nicht durch den Senat bringen. Zuletzt wurde es gar nicht mehr versucht.
Das Thema wurde seit 2013 nicht mehr ernsthaft debattiert, nachdem im Dezember 2012 in der Sandy Hook Elementary School in Newtown 20 Kinder und sechs Mitarbeiter erschossen worden waren. Zwei Vorschläge zur Ausweitung und Verschärfung der „Background Checks“ beim Waffenkauf – Reformen, die von der amerikanischen Öffentlichkeit mit überwältigender Mehrheit unterstützt werden – wurden im März 2021 vom Repräsentantenhaus verabschiedet, liegen aber im Senat auf Eis, wo zehn republikanische Stimmen erforderlich wären, um das Gesetz überhaupt zur Abstimmung bringen zu können.
Der Einfluss der Waffenlobby
Ein Großteil republikanischer Politikerinnen und Politiker ist gegen Veränderungen. Waffen garantierten Freiheit und Sicherheit, argumentieren sie. Viele republikanische Gesetzgeber werden von der NRA, der einflussreichen Waffenlobby, finanziell unterstützt. Die Argumentation der Politikerinnen und Politiker gegen schärfere Auflagen klingt dann teilweise so, als hätten sie die Programmhefte der Waffenfanatiker auswendig gelernt.
Da heißt es dann: Es brauche noch mehr Waffen. Besonders an Schulen müssten auch Lehrkräfte Waffen tragen. Das Zahlenspiel wäre einfach: mehr „good guys“ als „bad guys“ mit einer Waffe in der Hand würden Opferzahlen minimieren. Bei den Tätern würde es sich zudem um Verrückte handeln, und die bleiben verrückt, auch wenn es weniger Waffen geben würde.
Und das Totschlagargument: Die Gründerväter wollten es so. „Da eine wohl organisierte Miliz für die Sicherheit eines freien Staates notwendig ist, darf das Recht des Volkes, Waffen zu besitzen und zu tragen, nicht beeinträchtigt werden.“ Das steht im zweiten Zusatz der US-Verfassung. Darauf gründen die Schusswaffenlobby und weite Teile der Republikaner ihren Widerstand gegen schärfere Auflagen und Kontrollen.
Daneben darf auch Gott natürlich nicht fehlen. Der texanische Senator Ted Cruz stellte unmittelbar nach dem schlimmsten „School Shooting“ in der Geschichte seines Bundestaates klar, es sei „das grundlegende, gottgegebene Recht eines jeden von uns, unser Leben zu verteidigen, unser Zuhause zu verteidigen, unsere Kinder zu verteidigen, unsere Familie zu verteidigen“. Oder anders übersetzt: Das lockere Waffengesetz, das aktuell dazu beiträgt, dass so viele Kinder sterben, muss so liberal bleiben, damit ebenjene geschützt werden können. Cruz spricht sich zudem dafür aus, dass Schulen nur einen stark kontrollierten Ein- und Ausgang haben sollten. Wer drin ist, ist drin. Stringente Argumentationsketten klingen anders.
Republikanische Politiker haben der Schusswaffenkontrolle ein geradezu elitäres Image verpasst. Demokratische Politiker hätten bewaffnete Sicherheitsteams, wollten aber trotz steigender Kriminalitätsraten Bürgern das Waffentragen erschweren, heißt es auf der Website der Schusswaffenlobby NRA.
Ausgerechnet ein paar Fahrstunden vom jüngsten Amoklauf entfernt hält die NRA im texanischen Houston am Wochenende ihre Jahresversammlung ab. Erwartet werden der Gouverneur des Staates, Greg Abbott, Senator Cruz sowie Donald Trump. Der Ex-Präsident sei überzeugt, dass es „beim zweiten Verfassungszusatz um Freiheit“ gehe, hieß es in der NRA-Ankündigung.
Waffengesetze könnten noch lockerer werden
In den USA kommt man allgemein sehr leicht an Schusswaffen. Unterschiede gibt es von Bundesstaat zu Bundesstaat, aber teilweise kann man sie sogar im Supermarkt kaufen. Auf Gun Shows der NRA muss für den Erwerb von Pistolen, Munition oder Schnellfeuergewehren nicht einmal ein Ausweis vorgezeigt werden. Wochenende für Wochenende gehen so Tausende Schusswaffen über den Tresen – ohne jede Möglichkeit zu überprüfen, wie gefährlich die Person ist, die sie fortan in der Hand hält.
Es gibt in demokratisch regierten Teilen der USA zwar striktere Waffengesetze auf Landesebene, doch auch hier droht eine Zäsur. Denn US-Waffennarren basteln bereits am nächsten Coup: am „Right to Conceal and Carry“, berichtet das unparteiische Brennan Center for Justice. In den nächsten Monaten wird der Oberste Gerichtshof über einen der wichtigsten Waffenfälle in der Geschichte des Gerichts entscheiden.
In dem Fall geht es darum, ob Waffenbesitzerinnen und -besitzer ein verfassungsmäßiges Recht haben, ihre Waffen außerhalb ihrer Häuser zu tragen, und, falls ja, ob Verbote zum verdeckten Tragen von Waffen gegen den zweiten Verfassungszusatz verstoßen. Zwei Männer im Bundesstaat New York haben gegen das dortige Gesetz geklagt, wonach man in der Öffentlichkeit Schusswaffen nur aus besonders zwingenden Gründen tragen darf. Bekommen sie recht – und danach sieht es aus –, kippen ähnliche Vorschriften in mehreren Bundesstaaten.
In der Vergangenheit konnten sich Waffenbesitzer häufig vor US-Gerichten durchsetzen. Am 11. Mai urteilte ein Berufungsgericht, ein Gesetz in Kalifornien gegen den Verkauf von halbautomatischen Gewehren an Kunden unter 21 Jahren verstoße gegen die Verfassung. Die Vereinigten Staaten von Amerika würde nicht existieren ohne das Heldentum junger Menschen, die im revolutionären Krieg für die Unabhängigkeit gekämpft hätten, erklärten die Richter.
Und solange der zweite Verfassungszusatz so fanatisch ausgelegt wird, schicken Eltern ihren Nachwuchs weiter in die Klassenzimmer, wohlwissend, dass sie es vielleicht nicht mehr lebend verlassen werden. Und dann stellt sich eine gebrochene Nation wohl bald wieder die Frage: Sind uns unsere Waffen mehr wert als unsere Kinder?