„Opfer könnten wir sein“Annalena Baerbock als erstes Kabinettsmitlgied in der Ukraine
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Kiew – Eine rote Kerze zündet Annalena Baerbock an, in einer Nische der Kirche. Ein Blick zu dem Heiligenbild darüber, ein kurzes Innehalten. Als erstes Regierungsmitglied seit Beginn des Krieges ist die Außenministerin in die Ukraine gekommen.
Einen Besuch in Butscha hat sie an den Beginn ihres Aufenthalts gestellt. Nach dem Abzug der russischen Truppen waren hier mehr als 400 Leichen gefunden worden, es war einer der Wendepunkte in der Politik der Alliierten: EU und Nato öffneten sich für die Lieferung schwerer Waffen.
„Die schlimmsten Verbrechen“
Die Kirche ist hell, sie hat große Fenster, die Sonne scheint herein. Man könne glauben, in einer ganz normalen Kirche zu sein, sagt Baerbock. Sie klingt fast verwundert. Aber es sei ein Ort, an dem es „die schlimmsten Verbrechen, die man sich überhaupt nur vorstellen kann“, gegeben habe. Menschen seien beim Einkaufen ermordet, eine Mutter beim Fluchtversuch mit ihren beiden Kindern erschossen worden.
Die Ministerin spricht vom Schmerz der Hinterbliebenen, von der Fassungslosigkeit. „Man sieht Spielplätze, man sieht Supermärkte, man sieht Menschen, die zur Arbeit gehen. Und dann sieht man die schlimmsten Spuren von Verbrechen genau daneben“, sagt sie. Hinter der Ministerin ist auf einem großen Foto eine Leiche neben einem Fahrrad zu sehen, ein Hund sitzt daneben wie für eine Totenwache.
Annalena Baerbock vergleicht Butscha mit Potsdam
„Butscha ist ein Vorort von Kiew. Es ist wie Potsdam vor Berlin“, sagt Baerbock betroffen. Potsdam ist ihr Wohnort. „Diese Opfer könnten auch wir sein“, sagt sie. Und sie verspricht zu helfen, die Täter zur Verantwortung zu ziehen. Die ukrainische Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa, die die Kriegsverbrechen dokumentiert und untersucht, begleitet sie.
Ein paar Kilometer in Irpin geht es weiter, in einem weiteren Kiewer Vorort. Viele Bewohner sind während der russischen Angriffe mühsam über eine zerstörte Brücke geflohen. Nun sind die Russen weg, geblieben sind Ruinen und viele Minen. 2000 Wohnungen und 35 Hochhäuser seien zerstört, berichtet Bürgermeister Olexander Markuschyn. Baerbock besichtigt ein zerbombtes Mehrfamilienhaus. „Außenministerin eines Landes im Frieden zu sein, ist einfach. Aber eine ganz andere Sache ist es, Bürgermeister im Krieg zu sein“, stellt sie fest.
Sie trägt eine Splitterschutzweste, ihr Besuchsprogramm darf erst veröffentlicht werden, wenn die Ministerin wieder weg ist. Jederzeit könne „an jedem Ort dieses Landes eine Rakete einschlagen“, sagt sie später. Erst am Tag zuvor hat sich EU-Ratspräsident Charles Michel bei einem Besuch in der Hafenstadt Odessa vor einem Angriff Schutz suchen müssen.
In Kiew trifft Baerbock zunächst ihren Amtskollegen Dmytro Kuleba, gemeinsam mit dem niederländischen Außenminister Wopke Hoekstra. Die Niederlande und Deutschland liefern Panzerhaubitzen. Die Ausbildung der ukrainischen Soldaten werden dieser Tage starten, sagt Baerbock.
Ministerin sagt Unterstützung beim Wiederaufbau zu
Zwei Mal ist sie bereits in dem wuchtigen Ministerium gewesen, das war noch vor dem Angriff Russlands. Sie sei an diesem 24. Februar nicht sicher gewesen, ob sie in ein freies Kiew zurückkehren würde, sagt Baerbock. „Wir waren fassungslos angesichts dieser hemmungslosen Brutalität und der Entschlossenheit Russlands, nicht nur diese Stadt der Freiheit, sondern die Existenz des ganzen Landes zu vernichten.“
Der Mut, mit dem die Ukrainer dies verhindert hätten, sei „kaum zu beschreiben“. Die Ministerin sagt Unterstützung bei Wiederaufbau und Minenräumung zu und versichert, die Sanktionen gegen Russland würden erst aufgehoben, wenn die Ukraine frei sei.
Wieder und wieder hat die ukrainische Staatsführung insbesondere Deutschland aufgefordert, mehr zu helfen, vor allem mit Waffen. Wieder und wieder hat sie auf Besuche deutscher Regierungsmitglieder gedrungen, es hat Missstimmung gegeben auf beiden Seiten.
„Waffenlieferungen sind kein Selbstzweck“, sagt Baerbock. Sie seien dafür da, „dass Kriegsverbrechen nicht auch an anderen Orten stattfinden können“. Man kann das auch als Hinweis an ihre Koalitionspartner in Berlin lesen. Und auch Kanzler Olaf Scholz kann sich angesprochen fühlen: Es sei das eine, Bilder von Ermordeten zuhause in der Zeitung sehen, sagt sie. „Es ist was anderes, vor Ort zu sein, wo diese Menschen beerdigt wurden.“Am Abend eröffnet sie die deutsche Botschaft in Kiew wieder. Noch so ein Zeichen.
Präsident Wolodymyr Selenskyj empfängt Baerbock. Es sei „ein offenes, freundliches Gespräch“ gewesen, heißt es danach.