- 75 Jahre nach ihrer Gründung ist die Zukunft der CDU ungewiss wie selten.
- NRW-Regierungschef Armin Laschet über die Wucht der Pandemie, Lockdowns – und den Corona-Effekt im Rennen um Parteivorsitz und Kanzlerschaft.
Herr Laschet, wollen Sie immer noch CDU-Chef werden, oder ist Ihnen angesichts von Corona- Krise und Schlachthofchaos die Lust vergangen?
Armin Laschet: Ich beschäftige mich im Moment, seit Wochen und Monaten Tag und Nacht, mit der Bewältigung einer nie da gewesenen Krise, nicht mit parteipolitischen Fragen. An meiner Kandidatur für den Parteivorsitz hat sich nichts geändert. Das steht derzeit nicht im Vordergrund.
Als Sie sich entschieden haben, für den CDU-Vorsitz zu kandidieren, müssen Sie sich überlegt haben, wie Sie Ihre 75-jährige Partei neu aufstellen wollen.
Als Deutschland 1945 in Trümmern lag, haben sich die Gründer der Partei an zentralen Werten orientiert. Sie kombinierten die Freiheit des Einzelnen mit sozialer Verantwortung. Das gilt auch heute: Wir müssen den Zusammenhalt der Gesellschaft, die wirtschaftliche Kompetenz und die sozialen Aspekte, soziale Gerechtigkeit, verbinden mit den Antworten auf die modernen Herausforderungen wie die Digitalisierung und den Kampf gegen den Klimawandel.
Warum sollte Ihnen die CDU-Führung besser gelingen als Ihren Konkurrenten Friedrich Merz und Norbert Röttgen?
Als Regierungschef in dem größten Land in Deutschland führe ich jeden Tag – konkret, praktisch. Wir zeigen mit der CDU Nordrhein-Westfalen, wie man Wahlen gewinnen kann in einem lange von der SPD regierten Land und wie man in einer Koalition gut und vertrauensvoll zusammenarbeitet, um das Beste für ein Land zu bewirken. Wir haben neue Akzente in der Wirtschaftspolitik, für den Mittelstand, für Entfesselung, für das Industrieland, gesetzt. Und bei der inneren Sicherheit stehen wir für null Toleranz gegenüber Kriminellen. Das ist auch in einem liberalen Rechtsstaat möglich. Das ist unser Maßstab.
Ihr Akzent in der Corona-Krise war die frühe Forderung nach Lockerungen. Waren Sie zu voreilig?
Nein. Die Infektionszahlen sind in Nordrhein-Westfalen seit Beginn der Öffnungen im April um 75 Prozent kontinuierlich gesunken. Diese positive Entwicklung und die Zahlen geben unserer Linie recht. Wir sind vorangegangen, verantwortungsvoll. Und alle 16 Länder gehen heute einen ähnlichen Weg. Es sind harte und weitreichende Entscheidungen, wenn ein Lockdown nötig ist, mit vielen Einschränkungen für Hunderttausende Menschen. Man muss jeden Tag aufs Neue hinterfragen, ob und welche Grundrechtseinschränkungen angemessen und verantwortbar sind. Und man muss die Folgen in allen Bereichen einbeziehen und in den Blick nehmen: Viele Menschen haben gesundheitliche Probleme bekommen, weil sie nicht mehr zum Arzt gegangen sind oder eine Reha nicht stattfinden konnte. In Altenheimen sind Menschen gestorben, weil sie vereinsamt sind und den Lebenswillen verloren haben. Das kann und darf verantwortungsvollePolitik nicht einfach wegwischen.
Die Infektionsexplosion im Tönnies- Schlachthof lässt Sie nicht zweifeln?
Niemand behauptet ernsthaft, dass dieses Infektionsgeschehen auf Lockerungen zurückzuführen ist. Denn die Sache ist ja auch klar: Schlachtbetriebe musstennicht geöffnet werden – sie waren die ganze Zeit offen. Jetzt setzen wir den wirksamen Kampf zur Eindämmung der Pandemie fort. Hätte man in Gütersloh und Warendorf schneller handeln müssen? Die Behörden haben unmittelbar gehandelt und die erforderlichen Maßnahmen ergriffen. Die erste Phase des Lockdowns trat sofort in Kraft: Schulen und Kitas wurden unverzüglich geschlossen. Zugleich haben wir 7000 Menschen präventiv in Quarantäne genommen, selbst diejenigen ,die nicht positiv auf das Coronavirus getestet waren. Zum Schutz der Bevölkerung und um ein Überspringen der Infektionen zu verhindern, haben wir unter Einbeziehung aller Aspekte am Dienstag die zweite Stufe des Lockdowns umgesetzt, alles sehr geordnet und nach Plan. Die Maßnahmen bedeuten massive Einschränkungen für über 600 000 Menschen, für Familien, für die Kinder. Das muss verantwortungsvoll geschehen.
Hat die Politik Fleischunternehmen zu lange Leine gelassen?
Die Arbeitsbedingungen in den Schlachthöfen waren bekannt. Rot-Grün hat die Werkverträge eingeführt, die zum Problem geworden sind. Unser GesundheitsministerKarl-Josef Laumann hat sich hier als Einziger mit wirklichemNachdruck für eine Änderung eingesetzt. Aber für eine gesetzliche Änderung gab es keine Mehrheit, das muss man nüchtern einräumen. Hier liegt vielleicht eine Chance der Pandemie: Sie richtet das Brennglas auf verschiedene Problembereiche in Deutschland. Dazu zählen die viel zu langsam vorangetriebene Digitalisierung, eine teilweise mangelhafte Vorsorge im Gesundheitswesen und die Abhängigkeit von anderen Ländern wie China etwa bei medizinischer Schutzausrüstung oder Medikamenten. Dazu zählen auch die Arbeitsbedingungen in Branchen wie der Fleischindustrie. Was Arbeitsminister Hubertus Heil jetzt dazu vorgelegt hat, ist der richtige Weg: Werkverträge in der Fleischindustrie müssen abgeschafft werden. Ich hoffe, dass das so schnell wie möglich passiert.
Wie gehen Sie mit den Unternehmern um? Ist Tönnies haftbar zu machen?
Es wird derzeit sehr genau geprüft, ob und gegen welche Regeln das Unternehmen verstoßen hat und wo es in Haftung genommen werden kann. Ich sehe Tönnies in Verantwortung.
Tönnies hat offenbar auch an die CDU gespendet. Können Sie da neutral urteilen?
Es geht hier um die Gesundheit von Menschen und um unwürdige Arbeitsbedingungen. Entscheidungen erfolgen auf Basis dieser Sachlage unter Einbeziehung von Experten. Es ist völlig überflüssig zu erwähnen, dass mögliche Zuwendungen, an wen auch immer, keine Rolle spielen.
Sollte man den Umgang mit Urlaubern aus Lockdown-Regionen bundeseinheitlich regeln?
Die Menschen aus den betroffenen Kreisen dürfen nicht stigmatisiert werden. Sie sind Opfer der Lage. Sie haben sich monatelang an die Regeln gehalten. Unser Rat für alle Urlauber ist, sich testen zu lassen.Wer dabei negativ getestet wird, sollte in den Urlaub fahren können und in seiner Urlaubsregion auch aufgenommen werden. Für Bayern hat das Ministerpräsident Markus Söder zugesagt.
Das Gespräch führte Daniela Vates