BundeskabinettKarl Lauterbach hat sein Ministerium nicht richtig im Griff
Berlin – Es ist eine unschöne Szene. Olaf Scholz war am Wochenende zum NRW-Wahlkampfauftakt nach Essen gekommen. Der Kanzler, der gerne leise spricht, kann sich kaum gegen ein Grüppchen von Corona-Leugnern durchsetzen, die laut skandieren: „Scholz muss weg!“
Dann platzt ihm der Kragen. Seine Stimme tönt laut und emotional: „Schreit ruhig“, ruft er von der Bühne. „Denn das ist doch, wofür wir kämpfen und wofür die Bürgerinnen und Bürger in der Ukraine kämpfen: Dass man seine Meinung laut sagen kann, ohne Angst haben zu müssen.“
Seine Botschaft an die Protestler: Liebe Leute, wir haben wirklich größere Probleme als eure Angst vor Impfungen und Masken.
Ohne politische Führung
Das stimmt. Und doch gibt Scholz als Kanzler in der Koalition genau jenen Kräften nach, die alle Corona-Schutzmaßnahmen lieber heute als morgen loswerden möchten. Seinen Gesundheitsminister Karl Lauterbach hat er bislang in allen Konflikten im Regen stehen lassen – ohne selbst beim Thema Corona die politische Führung zu übernehmen.
Nun steht die Beziehung von Scholz und Lauterbach bestenfalls auf dem Status: Es ist kompliziert. Scholz wollte den wortgewaltigen Professor und Talkshowkönig eigentlich nicht an seinem Kabinettstisch sitzen haben. Und wer sich öffentlich für ein Amt ins Gespräch bringt und dann auch noch mehrfach darüber spricht, bekommt selten den Zuschlag.
Scholz verabscheut diese Art von Redseligkeit. Doch an dem SPD-Politiker, der in der Corona-Krise mit seinen Einschätzungen so oft richtig lag und sich in der Bevölkerung wegen seines Sachverstands ein hohes Ansehen erarbeitet hatte, kam er nicht vorbei.
Große Unterschiede zwischen Scholz und Lauterbach
Die Unterschiede zwischen den beiden Sozialdemokraten könnten nicht größer sein: Scholz war schon immer ein gut vernetzter Pragmatiker, was seine politischen Inhalte und was seinen Umgang mit Macht betrifft. Lauterbach hingegen ist seit jeher ein Überzeugungstäter und Einzelgänger. Während Scholz ein Küchenkabinett um sich versammelte, mit dem er seit Jahren vertraut zusammenarbeitet und das er mit ins Kanzleramt genommen hat, kam Lauterbach alleine in sein Ministerium. Ein Haus, das sein Vorgänger Jens Spahn auf sich zugeschnitten hatte. Es gab von Anfang an Zweifel, ob Lauterbach auch ein gut organisierter durchsetzungsstarker Minister sein könnte, der ein Ressort mit immerhin rund 1000 Mitarbeitern führen kann. Vorgaben und Entscheidungen der Führungsebene sind dem Vernehmen nach bis heute Mangelware. „Lauterbach redet nicht viel mit seinen Leuten“, ist aus dem Ministerium zu hören.
Die Omikron-Welle bestimmt den Start der Amtszeit von Scholz und Lauterbach. Ein halbes Jahr später sehen beide nicht gut aus. Ihre einzige eindeutige Gemeinsamkeit in der Corona-Politik: Sie sprechen sich für eine allgemeine Impfpflicht aus. Doch Scholz versäumte es, sich dafür in der Ampel auch stark zu machen oder einen Kompromiss mit der Union auszuloten. Lauterbach wiederum kündigte erst einen eigenen Gesetzentwurf an und ruderte zurück, nachdem er vom Kanzleramt zurückgepfiffen worden war. Also lassen sie es laufen.
Und doch gibt es auf einmal einen Erfolg – ausgerechnet beim heiß umkämpften Thema Impfpflicht. Die beiden Abgeordnetengruppen, die die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht befürworten, haben sich am Dienstagabend auf einen Kompromiss geeinigt. Er sieht nach Informationen des RedaktionsNetzwerks Deutschland (RND) eine Impfpflicht ab dem 60. Lebensjahr vor. Sanktionen sind erst ab Oktober vorgesehen.
Impfpflicht ab 50 Jahren war nicht durchsetzbar
Zudem ist eine Beratungspflicht für alle ab 18 Jahren geplant. Im Juni soll es einen ersten Bericht der Bundesregierung über den Impffortschritt geben. Ist er positiv, kann den Planungen zufolge mit einfacher Mehrheit des Bundestags die Impfpflicht wieder aufgehoben werden.
Bis zu diesem Dienstagabend hatte alles nach einem Scheitern ausgesehen. Der Antrag für eine allgemeine Impfpflicht ab 18 Jahren, den unter anderem Scholz, Lauterbach sowie Wirtschaftsminister Robert Habeck und Außenministerin Annalena Baerbock (beide Grüne) unterschrieben haben, hat erkennbar keine Mehrheit. Auch eine Impfpflicht ab 50 Jahren war nicht durchsetzbar. Dem Vernehmen nach standen die Liberalen auf der Bremse für einen Kompromiss.
Lauterbach, der selten die Fassung verliert, explodierte in dieser Woche geradezu, machte im kleinen Kreis seinem extremen Ärger Luft, er fühlte sich von der FDP verraten. Jedoch: Es hätte in den vergangenen drei Monaten genug Gelegenheiten gegeben, in Ruhe einen Kompromiss zu suchen. Die Zeit wurde aber nicht genutzt.
Den Krankenkassen droht ein Defizit von 17 Milliarden Euro
Dass Lauterbach sein Amt und das Ministerium tatsächlich nicht richtig im Griff hat, zeigt sich auch auf anderen Feldern. Beispiel: die Versuche, ein Sparpaket für die Krankenkassen auf den Weg zu bringen. Denn es droht 2023 ein bisher nie dagewesenes Defizit von rund 17 Milliarden Euro. Das Paket Lauterbachs enthält jedoch auch einige Punkte, die gar nicht im Koalitionsvertrag stehen, etwa die Absenkung der Mehrwertsteuer auf Arzneimittel. Andere Entlastungen, die explizit im Koalitionsvertrag vereinbart sind, lässt er hingegen weg.
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Daraufhin schreitet das Kanzleramt ein: Es verbietet Lauterbach, mit diesem Entwurf in die sogenannte Ressortabstimmung zu gehen. Bisher hat der Minister keinen neuen Vorschlag vorgelegt.
Es kommt noch dicker: Obwohl klar war, dass das Infektionsschutzgesetz ersatzlos am 20. März ausläuft, kümmert sich offensichtlich zunächst niemand in der Koalition um eine Verlängerung. Auch Lauterbach nicht – obwohl er für dieses Gesetz zuständig ist. Anfang März versuchen die Fraktionen eine Klärung, doch sie beißen bei der FDP auf Granit. Die Liberalen haben intern die Devise ausgegeben, der 20. März solle zum Freedom Day werden.
FDP lehnt selbst Abstandsgebote ab
Keine Maskenpflicht, keine Zutrittsregeln, keine Obergrenzen bei Veranstaltungen. Selbst Abstandsgebote lehnt die FDP mit dem Argument ab, damit könnten ja durch die Hintertür doch wieder Begrenzungen eingeführt werden.
Erst wenige Tage vor dem Ablauf des Gesetzes schaltet sich Lauterbach ein und versucht, mit FDP-Justizminister Marco Buschmann einen Kompromiss zu erreichen. Doch auch er kommt nicht voran – und er hat keinerlei Druckmittel. Lauterbach schafft es zumindest, eine Verlängerung bis 2. April und die sogenannte Hotspotregelung herauszuhandeln. Von einer flächendeckenden Aufrechterhaltung von „Basisschutzmaßnahmen“, wie es die Ministerpräsidentenkonferenz Mitte Februar gefordert hatte, ist keine Rede mehr. Es sei zum Mäusemelken, hieß es danach bei den Grünen: „Lauterbach hat sich von der FDP über den Tisch ziehen lassen.“
Die Ministerpräsidenten reagierten erbost, über alle Parteien hinweg. „Einen solchen Umgang mit den Ländern hat es noch nie gegeben“, wetterte Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) stellvertretend für alle
Grundfalscher Kompromiss aus Lauterbachs Sicht
Als das Ergebnis bekannt wird, ist das Echo verheerend. Die Infektionszahlen sind auf einem Rekordniveau, auch die Auslastung der Krankenhäuser steigt. Lauterbach steht vor einem Dilemma: Mit Rücksicht auf den Fortbestand der Ampel muss er einen Kompromiss verteidigen, den er für grundfalsch hält. Gleichzeitig hält er es für erforderlich, die Bevölkerung weiter zur Achtsamkeit aufzurufen, was er geradezu mit Inbrunst tut. Ausgerechnet Lauterbach, der bisher in der Bevölkerung ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit genießt, steht plötzlich als jemand da, der anders handelt, als er spricht.
Auch sein Versuch, möglichst alle Länder dazu zu bewegen, die Hotspotregelung zu nutzen, scheitert. Lediglich Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern greifen zu. Doch bei den Ländern überwiegt die Sorge, mit flächendeckenden Schutzvorschriften vor den Gerichten zu scheitern – was vom Ampelkoalitionspartner FDP befeuert wird. Dagegen kommt Lauterbach nicht an.
Auf ein Machtwort des Kanzlers kann er nicht hoffen.