Berlin – Der harte Lockdown ist beschlossen. An Schulen sollen die Kontakte deutlich eingeschränkt werden, große Teile des Einzelhandels werden ab Mittwoch geschlossen und Friseure auch.
Eigentlich alles wie im Frühjahr, könnte man meinen, wenn da nicht Weihnachten wäre. Könnten uns die Lockerungen über die Festtage infektionsmäßig das Genick brechen und was kommt eigentlich danach?
Das sind die großen Fragen im Talk bei Anne Will unter dem Motto: „Harter Lockdown – Schafft Deutschland so die Pandemiewende”
„Es ist 5 vor 12″ – das hat Bayerns Ministerpräsident Markus Söder an diesem Sonntag wieder einmal formuliert. „Wir in der Intensivmedizin sagen, es ist 5 nach 12″, sagt hingegen Uwe Janssens, Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin. Seit Wochen seien die Infektionszahlen hoch.
Einen harten Lockdown brauche es jetzt, um Menschenleben zu retten – und er rechnet mit Einschränkungen von mehreren Monaten. „Ich glaube, die ehrliche Botschaft braucht jetzt die Bevölkerung.”
„Der Mittwoch war jetzt das schnellste”
Armin Laschet, Ministerpräsident Nordrhein-Westfalen lobt schon jetzt eine klare und ehrliche Entscheidung der Ministerpräsidenten und Ministerpräsidentinnen. Auf die Frage, ob das alles vielleicht etwas spät kam, verweist er auch auf die Empfehlungen der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina Anfang Dezember. Zudem brauche es Zeit zur Umsetzung und auch für die Beteiligung der Parlamente. „Der Mittwoch war jetzt das schnellste”, sagt der CDU-Politiker.
„Wir haben sehr, sehr, sehr viel Zeit verloren”, findet hingegen die Journalistin und künftige stellvertretende Leiterin des RND-Hauptstadtbüros, Kristina Dunz. Sie zählt die vielen Treffen der Ministerpräsidenten und -präsidentinnen auf, bei denen sie hätten handeln können. “Jetzt kommen ein paar Maßnahmen sehr kurzfristig.”
„Uns bleibt gar nichts anderes übrig”
Laschets Kollegin, Manuela Schwesig aus Mecklenburg-Vorpommern, betont, dass sich alle an die Beschränkungen auch halten müssten. Gleichzeitig bemängelt die SPD-Politikerin den fehlenden Fokus auf Familien und Alten-und Pflegeheimen als Infektionsherde. „Niemand von uns sitzt mit Maske auf dem Sofa.”
Dass der Lockdown jetzt kommen muss, ist auch dem Professor für Philosophie und ehemaligen Staatsminister, Julian Nida-Rümelin, klar. Er kritisiert jedoch, dass Gesundheitsämter, aber auch Schulen nicht genug vorbereitet worden seien. „In der Situation in der wir jetzt sind, bleibt uns gar nichts anderes übrig.” Doch ein Lockdown sei nicht besonders effektiv: „Es ist das letzte Mittel, dass man ergreift.”
Wer darf an Weihnachten nun unter den Baum?
Und das sogenannte letzte Mittel wird auch schnell wieder gelockert. An Weihnachten dürfen sich mehr Menschen treffen. Wie viele, darüber herrscht aber erst mal Verwirrung. Dunz hat nachgerechnet und kommt auf fast 20 Personen, die dann gemeinsam die Feiertage verbringen könnten.
Da schaut Ministerin Schwesig doch etwas irritiert aus der Schalte aus Schwerin: „Ich finde jetzt echt, wir sollten die Leute in der Öffentlichkeit nicht durcheinander bringen.” Es seien auf jeden Fall weniger, als den Menschen zuvor in Aussicht gestellt wurde.
Der gelernte Jurist Laschet schaut dann lieber noch mal nach: Erlaubt sind ein Hausstand plus vier Personen, Kinder unter 14 Jahren nicht mit eingerechnet. Es entsteht der Eindruck: Das alles hat weniger mit Dunzs Rechenkünsten, als mit einer uneindeutigen Regelung zu tun. Denn Mediziner Janssens ist immer noch verwirrt.
„Das verwindet man im Leben nicht”
Doch wie viele nun erlaubt sind, das spielt ja eigentlich auch gar keine Rolle: „Jede Begegnung, die nicht stattfindet, ist gut”, sagt Laschet. Das hat auch etwas mit Verantwortung zu tun. Dunz war selbst bereits im Oktober infiziert, erfuhr davon aber erst nach einem Treffen mit der Familie. Wenn man jetzt für diese drei Tage locker lasse und müsse am Ende damit leben, dass sich die Oma infiziert habe und das Ganze einen schweren Verlauf nimmt. Ob man das Risiko eingeht, diese Frage müsse sich jede Person stellen.
Dunz hat eine einfache Antwort: „Das verwindet man im Leben nicht.” In ihrem Falle blieb die Mutter verschont, nur die Schwester war infiziert. Aber der Abgrund, der sich damals auftat, als noch Unsicherheit herrschte „das wird bleiben”, sagt sie.
Janssens bringt es auf den Punkt: „Liebe heißt auch, den anderen zu schützen.” Doch wenn sich alle an die neuen Regeln halten und auch über Weihnachten weniger Menschen sehen, was kommt dann? Wieder lockern und dann die nächste Welle?
„Die Vorstellung, der Lockdown ist die Lösung, ist falsifiziert”, findet Philosoph Nida-Rümelin. Es brauche eine nachhaltige Strategie für Europa und man müsse nun differenziert hinschauen, und die die besonders betroffen sind, auch besonders schützen – etwa nach dem Vorbild Tübingens, wo besondere Schutzmaßnahmen für Ältere und Schnelltests für Pflegepersonal längst Standard sind.
Nida-Rümelin fordert Tracking-App
Die Rückverfolgung von Infektionsketten müsse gewährleistet werden und er sage das ungern: „Wir brauchen eine Tracking-App.” Eine, die nicht nur Bluetooth, sondern auch GPS nutzt, um Bewegungsprofile nachzuvollziehen. „Es gibt Widerstand dagegen, den ich verstehen kann”, sagt er. Doch man nehme so weitreichende Grundrechtseinschränkungen hin und lasse ein Grundrecht, das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, unangetastet. „Das ist aber nicht verhältnismäßig.”
Das könnte Sie auch interessieren:
Die Einschränkung eines Grundrechts einzutauschen gegen hohe Todeszahlen und Einschränkungen des täglichen Lebens – das hört sich einfach an. Bis dahin braucht es viel Diskussion und ein Weihnachten, bei dem man leicht verwirrt die maximal zulässige Personenzahl ausrechnet und dann besser doch auf Kontakte verzichtet. Währenddessen hat die Politik Zeit zu handeln und sich neue Strategien zu überlegen.
Das ist auch weiterhin bitter nötig, macht dieser Abend deutlich.