Olaf Scholz zieht erst einmal sein Jacket aus. Über hundert Leute sind gekommen, es ist heiß. Es wird ein Frage-Feuerwerk werden, das ist dem Sozialdemokraten klar. Draußen auf der Straße schreien ein paar „ungeimpfte Putin-Versteher“ (so steht es auf ihren T-Shirts) „Frieden, Freiheit, keine Corona-Diktatur“. Könnten sie haben, müssten nur zuhören, wollen sie aber nicht. Scholz spricht zu Beginn über Putins Krieg gegen die Ukraine, den Gasmangel in Deutschland, die Entlastungen der Bürger. Seine Botschaft: Niemand wird allein gelassen.
Dieser Abend ist so etwas wie eine Generalprobe für seinen mit Spannung erwarteten ersten Auftritt am nächsten Tag in der Bundespressekonferenz vor den versammelten Hauptstadtmedien. Dort wird sich zeigen, ob der 64-Jährige nach acht Monaten in seinem Amt als Bundeskanzler angekommen ist, wie sehr ihn die vielen aktuellen Krisen unter Druck setzen und ob ihn irgendein Thema in Bedrängnis bringt. Hier in Langerwisch, einem Ortsteil von Michendorf bei Potsdam in seinem Wahlkreis kann er das Gespräch mit Bürgerinnen und Bürgern als Training dafür nutzen.
Cum-Ex-Steuerskandal klebt an Scholz
Sämtliche Themen kommen zur Sprache: Waffenlieferungen, Atomlaufzeiten, Renteneintrittsalter, Bürokratie, Chinas Konflikt mit Taiwan. Nur das eine ganz persönliche Problem nicht, das trotz aller Reinigungsversuche an Scholz klebt wie Kaugummi: der Cum-Ex-Steuerskandal um die Hamburger Warburg Bank in seiner Zeit als Erster Bürgermeister der Hansestadt. In Michendorf spielt das keine Rolle. Zu weit weg von den Alltagssorgen, zu kompliziertes Thema und zu undurchsichtig, ob Scholz politische Einflussnahme vorzuwerfen sein könnte bei der Entscheidung der Hamburger Finanzverwaltung, auf Steuerrückforderungen in zweistelliger Millionenhöhe an die Bank zu verzichten. Er bestreitet das.
Aber in der Pressekonferenz in Berlin wird es breiten Raum einnehmen und Scholz zu einer harschen Reaktion provozieren. Eine Seite, die man selten an ihm zu sehen bekommt. Auch nicht, als ihn beim Bürgerabend ein Corona-Impfgegner persönlich für „millionenfache Impfschäden“ verantwortlich machen will und keine Fakten zur Kenntnis nimmt. Aber auch diese Szene ist bemerkenswert.
Gerade war der Bundeskanzler noch bei der Trauerfeier für Fußballidol Uwe Seeler in Hamburg und mit den Gedanken bei Tod und Vergänglichkeit. Jetzt ist er wieder mitten im Leben. Auch, wenn die SPD der Veranstalter ist, ein Heimspiel ist es für Scholz nicht. Das Treffen auf dem Gemeindehof wurde für alle Parteien geöffnet - „außer für die, die man nicht nennen will “, sagt der SPD-Ortsvereinsvorsitzende Volker Westphal. Die AfD bleibt außen vor. Aber Impfgegner sind gekommen.
Scholz konfrontiert Impfgegner
Scholz schlendert auf einen aufgebrachten Kritiker zu - der ist viel größer als er - und streckt ihm den Zeigefinger entgegen. Der Bundeskanzler fordert ihn auf, im Internet nicht immer nur das zu lesen, was seine falschen Behauptungen unterfüttere. Er sagt nicht Verschwörungstheorie, aber das schwingt mit. „Es ist gefährlich, sich nicht impfen zu lassen und ungefährlich, sich impfen zu lassen“, sagt Scholz, der eigentlich grundsätzlich leise spricht, jetzt ganz laut. Und das auch noch ins Mikrofon. Und dann unterläuft ihm wieder so eine Bemerkung, bei der sein Regierungssprecher Steffen Hebestreit zusammenzucken würde, aber der ist bei dieser Parteiveranstaltung ja nicht dabei. „Ich bin bisher nicht infiziert, es sei denn Sie machen das heute“, sagt Scholz dem Bürger und beschreibt ihn so als kleines Risiko.
Die anderen in Langerwisch sorgen sich mehr um Einkommen und Wohlstand, um ihre Rente, 3,29 Euro koste Butter jetzt. Manche Senioren müssten auf den billigeren Frischkäse umsteigen. Die Bürokratie sei eine unerträgliche Last geworden, in der DDR sei manches besser gewesen und Angst vor Krieg müsse man auch wieder haben. Die deutschen Waffenlieferungen an die Ukraine und der Bruch mit Russland werden kritisch gesehen. Es ist kein Zufall, dass die Band „Nah dran“ hier Friedenslieder spielt: „Die weißen Tauben sind müde, sie fliegen lange schon nicht mehr (...) Jedoch die Falken fliegen weiter und täglich kommen immer mehr.“ Scholz verteidigt auch die Waffenlieferungen selbstbewusst.
Bewusst soziale Seite der Regierung hervorgekehrt
Er war schon an diesem Ort vor einem Jahr als Kanzlerkandidat und hatte versprochen, wiederzukommen, wenn er sein Mission erfüllt habe. Volker-Gerd Westphal sagt: „Wir hatten eine Ahnung, dass es schwierig sein würde, wenn er Bundeskanzler wird, aber dass es so schwer werden würde, ahnten wir natürlich nicht.“ Was damit gemeint ist, erklärt ein anderer Genosse so: Scholz sei ein Gehetzter und die Ampelkoalition nicht das Gelbe vom Ei. Rot-Rot-Grün wäre besser gewesen. Auch Westphal sagt: „Letztes Jahr dachten wir, er würde mehr agieren als reagieren. Wir müssen die Krisen mit sozialem Ausgleich bewerkstelligen. Das ist aber nicht das oberste Ziel der FDP.“
Scholz kehrt bewusst die soziale Seite seiner Regierung hervor: 9-Euro-Ticket, 12 Euro Mindestlohn ab Oktober, 100 Euro Einmalzahlung für Familien, 200 Euro Einmalzahlung für Grundsicherungsempfänger, Hilfen für „Normalverdiener“ mit 2800 oder auch 4000 Euro, jedenfalls eine Summe, mit der man angesichts von Inflation und steigender Preise keine großen Sprünge machen kann. Viele Menschen sind nicht in der Lage, von ihrem Gehalt Rücklagen zu bilden für schlechte Zeiten. Das habe er sich von Banken sagen lassen, erklärt Scholz und spricht von einem „mulmigen Gefühl“.
Wissen könnte man das als Sozialdemokrat auch ohne Bankberatung, aber Scholz verspricht: „Damit werden wir die Bürger nicht allein lassen.“ „Da wollen wir etwas tun“, „wir werden gucken, was man steuerlich noch machen kann“, „das wird sehr schnell entschieden werden“, kündigt er an. Wann ein drittes Entlastungspaket kommt und wie, lässt er aber offen. Auch am nächsten Tag in der Bundespressekonferenz. Aber er wiederholt, dass niemand in Deutschland in diesen Krisenzeiten allein gelassen werde: „You´ll never walk alone.“ Egal, was es koste.
Sorge vor einem „Wutwinter“
„Wir werden alles dafür tun, dass die Bürgerinnen und Bürger durch diese schwierige Zeit kommen.“ Und es sei genügend Geld da, sagt der frühere Bundesfinanzminister, der sich bei der Gelegenheit für einstige Steuerentlastungen selber lobt.
Deutschland könne trotz nötiger Milliardenhilfen ab 2023 wieder zur Schuldenbremse zurückkommen. Prominente SPD-Politiker wie seine eigene Parteichefin Saskia Esken sehen das bei weitem nicht so rosig. Scholz will aber Finanzminister Christian Lindner (FDP) nicht in die Parade fahren. Die Schuldenbremse gehört zu dessen Versprechen.
Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) und Innenministerin Nancy Faeser (SPD) haben ihre Befürchtungen offen geäußert, dass es im Herbst zu massiven Demonstrationen wegen des explosiven Gemischs aus Corona-Pandemie, Inflation und Kriegsgeschehen kommen könnte, wenn die Energiepreissteigerung richtig durchschlage. Von einem „Wutwinter“ spricht Brandenburgs Verfassungsschutzchef. Scholz aber will Ruhe ausstrahlen. Auf die Frage, ob er Unruhen erwarte, antwortet er: „Nein, ich glaube nicht, dass es in diesem Land zu Unruhen in dieser skizzierten Form kommen wird. Und zwar deshalb, weil Deutschland ein Sozialstaat ist.“ Er sei sicher, dass alle Herausforderungen zu finanzieren sind.
„Schlau sind die Bürger“
Außerdem: „Schlau sind die Bürger.“ Was soviel bedeutet, dass Scholz glaubt, dass die Bürger der Regierung glauben. Daran hätte er zum Beispiel am Mittwochabend durchaus Zweifel haben können. Scholz schiebt der Vorgängerregierung Schuld an der momentanen Energie-Krise zu. „Wir arbeiten sämtliche Versäumnisse der letzten Jahre ab, die in dieser Hinsicht wirklich groß waren.“ Er tut so, als sei er nicht als Finanzminister von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) dabei gewesen.
Manchmal wirkt er geradezu keck. Ob Altkanzler Gerhard Schröder (SPD) im Konflikt zwischen Russland und der Ukraine noch einmal nützlich sein könne für die Bundesregierung - so hatte es Schröder selbst formuliert, antwortete Scholz: „Ich wüsste nicht.“ Dabei strahlt er übers ganze Gesicht. Es wäre aber „mal ein verdienstvolles Geschäft“, dafür zu sorgen, dass Russland die Einfuhr der Turbine für die Gasleitung Nord Stream 1 erlaube. Die von Siemens-Energy gewartete Turbine ist derzeit in Deutschland und wird von Moskau nicht angefordert. Das kann Moskaus Gaslobbyist Schöder dann mal versuchen.
Der wunde Punkt für Scholz ist ein anderer. Die Steueraffäre um die Hamburger Warburg Bank. Er weist erneut jede Verantwortung in seiner Zeit als Erster Bürgermeister von sich: „Es gibt keine Erkenntnisse darüber, dass es eine politische Beeinflussung gegeben hat“. Das hätten die umfangreichen Untersuchungen der vergangenen zweieinhalb Jahre gezeigt. Die meisten Fragen dazu beantwortet er immer wieder mit diesem Satz.
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In der Affäre geht es um sogenannte Cum-Ex-Geschäfte, bei denen Finanzakteure Aktienpakete rund um den Dividenden-Stichtag in einem vertrackten System so verschoben, dass ihnen Steuern erstattet wurden, die sie nie gezahlt hatten. Nach Treffen 2016 und 2017 mit den Bank-Gesellschaftern Christian Olearius und Max Warburg im Amtszimmer von Scholz hatte die Finanzverwaltung eine Steuerrückforderung in Höhe von 47 Millionen Euro gegen die Bank verjähren lassen. Weitere 43 Millionen Euro wurden 2017 erst nach Intervention des Bundesfinanzministeriums kurz vor Eintritt der Verjährung eingefordert.
Die Treffen sollen vom damaligen Bundestagsabgeordneten Johannes Kahrs mit angebahnt worden sein. Zuletzt wurde bekannt, dass in einem Schließfach des SPD-Politikers mehr als 200 000 Euro in bar gefunden wurden. Auf die Frage, was er über das Geld wisse, antwortete Scholz: „Nichts.“ Weiß er, woher das Geld kommt? „Keine Ahnung.“ Einen Journalisten warnt er, Tatsachen richtig wiederzugeben. „Bedenken Sie, wenn Sie so etwas sagen.“ Es ist eine Drohung mit juristischen Konsequenzen, zwischen den Zeilen natürlich nur.
Zum Schluss wird er noch unvermittelt gefragt, ob er angesichts der ganzen Krisen Angela Merkel vermisse? Er sei auch ganz gerne Bundeskanzler, sagt er. Und auf die Frage, ob die Ampel vier Jahre durchhalten werde, kommt ein schnelles „Ja“. Er habe sogar eine Perspektive, die darüber hinaus reiche.