München – Der Bundeskanzler persönlich vermeldete an diesem Donnerstag den aktuellen Stand in der hitzig diskutierten Frage der Atomkraft-Laufzeitverlängerung über das derzeitige Enddatum 31.12. 2022 hinaus: Angesichts drohender Gasknappheit wegen russischer Liefersenkungen habe die Bundesregierung habe gesetzlich dafür gesorgt, dass die Gasspeicher aufgefüllt werden, Kohlekraftwerke wieder ans Netz gehen können - „und wir prüfen, ob es Sinn macht und erforderlich ist, die drei vorhandenen Atomkraftwerke noch etwas länger laufen zu lassen“, so Olaf Scholz. „Das wird bald festgestellt werden können, wenn die entsprechenden Untersuchungen abgeschlossen sind.“
Zuvor hatte das Wirtschaftsministerium erklärt, nach einer ersten Analyse der Stromversorgungssicherheit bei reduzierten Gaslieferungen und der Sicherheitsrisiken der Kraftwerke im März seien die Stromnetzbetreiber nun mit einer zweiten Prüfung beauftragt worden, ob Blackouts drohen - unter zusätzlich verschärften Bedingungen. Im ersten Durchgang seien die Sicherheitsrisiken im Vergleich zum energiepolitischen Nutzen zu hoch eingestuft worden, um die Laufzeit zu verlängern, hieß es. Die „Risiko-Nutzen-Abwägung“ erfolge nach dem zweiten „Stresstest“ dann erneut. Dem Vernehmen nach soll das Ende August geschehen.
Auch „Streckbetrieb“ juristisch heikel
Für die Gegner möglicher Laufzeitverlängerungen gibt es jedoch weitere Aspekte, die in die Abwägung gehören - nicht zuletzt die rechtlichen Probleme. Darauf wiesen an diesem Donnerstag der Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND), Greenpeace und das Umweltinstitut München bei einer gemeinsamen Pressekonferenz in München hin.
Selbst der sogenannte „Streckbetrieb“, den Scholz zuletzt als womöglich sinnvoll bezeichnet hatte und in dem bereits eingesetzter Brennstäbe länger verwendet werden, sei juristisch heikel. Das geht aus einem Gutachten des Rechtsanwalts Ulrich Wollenteit hervor, das er im Auftrag von Greenpeace erstellt hat. „Im Moment gibt das geltende Atomgesetz einen Streckbetrieb nicht her“, erläuterte er.
Bis zum 31. Dezember müssen die drei verbliebenen Kraftwerke Emsland, Isar 2 und Neckarwestheim 2 laut Atomgesetz vom Netz gehen. Das Gesetz zu ändern, hält Wollenteit jedoch für ein „riskantes Unterfangen“, weil so Konflikte mit dem Grundgesetz entstünden: „Ich warne dringend davor“.
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Das Bundesverfassungsgericht fordere eine Risikoabwägung für die Nutzung von Atomkraft. Diese sei aber laut Verfassungsgericht nur gegeben, wenn die Beurteilung anhand von aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen erfolge. Ohne technische Nachrüstungen verstoße eine neue Genehmigung gegen die Verfassung.
Hinzu kämen europarechtliche Pflichten: Der Europäische Gerichtshof hat in einem Urteil aus dem Juli 2019 beschlossen, dass die Laufzeitverlängerung zweier belgischer AKWs einer grenzüberschreitenden Umweltprüfung bedarf. Deshalb geht das Greenpeace-Gutachten davon aus, dass auch ein Weiterbetrieb in Deutschland eine solche Prüfung erfordere.
Physikerin kritisiert magelnde Sicherheitskultur
Die Physikerin Oda Becker kritisierte in München außerdem „eine mangelnde Sicherheitskultur und einen Kompetenzverlust“ aufgrund der geplanten baldigen Abschaltung. Nach internationalen Recht müssten AKW alle zehn Jahre umfangreich auf ihre Sicherheit untersucht werden. Für die drei deutschen Kraftwerke gab es zuletzt 2009 eine umfängliche Sicherheitsprüfung gegeben, weil die turnusmäßige Begutachtung vor drei Jahren wegen der geplanten Abschaltung erlassen wurde.
Dabei seien bereits Mängel bekannt: etwa verformte Brennelemente bei Isar 2 und Risse in den Dampferzeugern von Neckarwestheim und Emsland. „Für die drei noch betriebenen Atomkraftwerke besteht das Risiko eines Unfalls“, warnte die Physikerin.