Die Bilder aus der ukrainischen Kleinstadt Butscha lassen Grausames erahnen. In den Wochen der Belagerung soll die russische Armee die Zivilbevölkerung dort Tag und Nacht terrorisiert haben. Die Zahl der Toten steigt stetig. Jüngste Meldungen aus der Hafenstadt Mariupol legen den Verdacht nahe, dass Butscha kein Einzelfall bleiben wird. Doch wann ist Töten in einem Krieg erlaubt? Und was ist ein Kriegsverbrechen?
Viele von ihnen lagen tagelang, wenn nicht Wochen dort, wo Anhänger der russischen Armee sie erschossen hatten. Zivilisten, auf dem Rückweg vom Einkauf, spazierend auf der Straße, es war ihr letzter Weg. Nachdem sich die russischen Besatzer aus der ukrainischen Kleinstadt Butscha zurückgezogen hatten, eröffnete sich der Welt ein Bild des Grauens. Die Straßen gesäumt von Leichen. Die Ukraine zählt bisher insgesamt 410 getötete Bewohner und Bewohnerinnen in dem Vorort Kiews. Russland leugnet, für die Taten verantwortlich zu sein.
Nach einem Bericht des „Spiegels“ hat der Bundesnachrichtendienst (BND) allerdings Funksprüche russischer Soldaten abgefangen, die Absprachen zum Terror in Butscha belegen sollen. Und auch Amnesty International ist sich in einem am Donnerstag veröffentlichten Bericht sicher: „Alle Belege sprechen dafür, dass wir es hier mit Kriegsverbrechen zu tun haben“, sagte Janine Uhlmannsiek, Expertin für Europa und Zentralasien. „Die schockierenden Bilder aus Butscha sind ganz offensichtlich nur die Spitze eines Eisbergs der Grausamkeit und Brutalität.“
Wenn man den Worten von Bürgermeister Wadym Boitschenko Glauben schenkt, werden auch die Bürger seiner Stadt Mariupol zum Opfer russischer Kriegsverbrechen. Seit einem Monat ist die Hafenstadt von Putins Truppen eingekesselt. Bereits 5000 Zivilisten sollen dort getötet worden sein. 210 der Toten seien Kinder, sagte Boitschenko am Mittwoch. Er spricht von mobilen Krematorien, die die Russen dafür einsetzten, tote Zivilisten zu verbrennen, um die Opferzahl niedrig zu halten. Verifizieren lassen sich diese Aussagen nicht. Doch zu Beginn des Krieges meldete das britische Verteidigungsministerium über einen möglichen Einsatz von Brennöfen, die menschliche Überreste beinahe rückstandslos beseitigen könnten.
Zurzeit sitzen 160.000 Menschen in Mariupol fest. Vor dem Krieg hatte die Stadt 430.000 Einwohner.
Das Prinzip des Unterscheidungsgrundsatzes
Ja, in Kriegen wird getötet. Doch das Töten in Kriegen unterliegt Regeln. „Grundsätzlich ist ein ganz wichtiges Prinzip des humanitären Völkerrechts der sogenannte Unterscheidungsgrundsatz“, erklärt Völkerrechtler Christian Marxsen vom Max-Planck-Institut. Er ist Experte für völkerrechtliche Gewaltverbote und internationale bewaffnete Konflikte. „Das heißt, es ist zwingend zwischen Kombattanten und Zivilisten zu unterscheiden und Kampfhandlungen dürfen nicht gegen Zivilisten gerichtet werden.“ Tötet ein Soldat also ein Mitglied der gegnerischen Truppen während einer Kampfhandlung, dann ist das – so grausam es klingt – völkerrechtlich legitimiert.
Mit dem Schutz der Zivilbevölkerung in internationalen Konflikten beschäftigen sich gleich mehrere Verträge. Eine zentrale Rolle spielen dabei die Genfer Konventionen. Hier wird festgehalten, welche Angriffe, die auch der Zivilbevölkerung schaden können, im Krieg tatsächlich erlaubt sind. Es geht vor allem um den Umstand, unter dem Zivilisten während einer Kriegshandlung verletzt oder getötet werden. Ausgeschlossen werden zivile Opfer durch die Konventionen nicht. Kampfhandlungen, die gegen militärische Einrichtungen gerichtet seien, können auch zivile Opfer zur Folge haben, erklärt Marxsen. Damit berücksichtige man „in diesem Rechtsbereich eben auch die militärische Effektivität. Das ist dann das, was man gemeinhin als Kollateralschaden bezeichnet.“
Einen solchen Fall nachzuweisen unterliegt dabei allerdings hohen Hürden. „Es können nicht ohne Weiteres große Kollateralschäden in Kauf genommen werden, sondern hier muss eben sehr sorgfältig abgewogen werden, ob der militärische Vorteil die zivilen Verluste dann auch rechtfertigt“, sagt Völkerrechtler Marxsen.
„Vorsätzliche Tötung“ von Zivilisten an der Spitze der Kriegsverbrechen
Obwohl Putins Russland einen völkerrechtswidrigen Krieg gegen die Ukraine begonnen hat, können sich auch die russischen Truppen auf die Konventionen berufen. „Russland hat eindeutig gegen das zwischenstaatliche Gewaltverbot verstoßen. Nun ist es aber so, dass das Völkerrecht auch in Konstellationen, in denen verbotenerweise Kriege geführt werden, sagt, dass der Krieg selbst dann aber nach bestimmten Regeln funktionieren soll“, erklärt Marxsen. Legitimiert werde die russische Aggression dadurch nicht. „Selbst wenn sich die Russen an das humanitäre Völkerrecht hielten, bliebe der Angriffskrieg in jedem Fall völkerrechtswidrig.“
Was schließlich ein Kriegsverbrechen an der Zivilbevölkerung nach Auffassung der Konventionen ist, klärt das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH). An der Spitze der Liste der Kriegsverbrechen steht dort die „vorsätzliche Tötung“ von Zivilisten, wie es in Butscha offenbar geschehen ist. „Es gibt sehr starke Anhaltspunkte dafür, dass hier Kriegsverbrechen begangen worden sind“, sagt Experte Marxsen. Zur rechtssicheren Bewertung der Lage müssten dazu nun umfangreiche Ermittlungen erfolgen, fordert der Völkerrechtler: „Was man sieht ist, dass es sehr naheliegt, dass in Butscha Gewalt gegen Zivilisten eingesetzt worden ist. Es scheint nicht plausibel zu sein, dass diese Gewalt tatsächlich von in irgendeiner Weise gegen militärische Ziele gerichteten Kriegshandlungen herrührt.“ Auch die großflächigen Schädigungen und Zerstörungen von ziviler Infrastruktur sprächen dafür, dass in Butscha Kriegsverbrechen begangen worden seien.
Die Statuten machen allerdings auch Unterscheidungen bei der Frage, wer Zivilist ist und wer sich nicht wie ein solcher verhält. Denn auch zivile Bevölkerung kann kriegerische Handlungen gegen den Gegner durchführen, ohne dabei dem Befehl der eigenen Armee zu folgen. „Man kann Situationen haben, in dem zum Beispiel Zivilisten ein Gewehr in die Hand nehmen und mit diesem auf die gegnerischen Soldaten schießen. Dann wäre das ein Moment, in dem Zivilisten auch zu legitimen Zielen würden, wiewohl sie nicht Teil der gegnerischen Armee sind“, sagt Marxsen. Dies „im Nachhinein festzustellen“ sei ausgesprochen schwer.
Die Beweissicherung und Aufarbeitung der Gräueltaten in Butscha wird schwer und langwierig werden. Unlängst forderte Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne), die Verantwortlichen für diese Kriegsverbrechen anzuklagen, auch wenn man zurzeit nicht wisse, „wann der Tag kommen wird“.
Signalwirkung von Prozessen „sehr wichtig“
Die ukrainische Staatsanwaltschaft hat laut Marxsen bereits damit begonnen, die Fakten zu sichern. „Auch der Internationale Strafgerichtshof hat bereits ein Ermittlungsverfahren aufgenommen. Er erhebt Beweise, sammelt Zeugenberichte“, sagt der Experte. „Der UN-Menschenrechtsrat hat eine Kommission eingesetzt, die ermitteln soll, welche menschenrechtlichen Vorschriften, aber auch Vorschriften des humanitären Völkerrechts verletzt worden sind. Es braucht die Gesamtheit der Ansätze, damit sich das Bild von den Wochen unter russischer Besatzung in Butscha verfestigt. Jetzt werden die Beweise für spätere Verfahren gesichert.“
Auf kurzfristige Erfolge bei Anklagen gegen die Täter von Butscha setzt der Völkerrechtsexperte nicht. „Aber es zeigt sich, dass das Strafrecht und insbesondere auch das internationale Strafrecht mit einer gewissen Langfristigkeit operiert.“ Auch dass Russlands Präsident Wladimir Putin irgendwann an ein internationales Tribunal überstellt wird, schließt Marxsen nicht aus – auch wenn es sehr unwahrscheinlich sei. Eine mögliche Nachfolgeregierung könnte ihn „zu einem späteren Zeitpunkt, wenn er nicht mehr Präsident ist“ ausliefern. Dass am Ende all denjenigen der Prozess gemacht wird, die Kriegsverbrechen an der ukrainischen Zivilbevölkerung vorgenommen haben, glaubt Marxsen indes nicht. „Aber die Signalwirkung, die auch von einzelnen Verfahren ausgehen kann, ist sehr wichtig.“
Verurteilung von Kriegsverbrechern bleibt Ausnahme
Bei internationalen Konflikten gibt es mehrere Instanzen, die für eine Anklage von Kriegsverbrechern in Betracht gezogen werden können. So haben die ukrainischen Strafverfolgungsbehörden die Möglichkeit, Anklage gegen Einzelpersonen zu erheben, die Kriegsverbrechen begangenen haben oder daran beteiligt waren. Auf internationaler Ebene wird für entsprechende Anklagen der Internationale Strafgerichtshof angerufen. Im Jahr 2014 hat die Ukraine die Statuten des Gerichtshofs anerkannt. Russland tut dies bis heute nicht. Einer Anklage würde dies aber trotzdem nicht im Wege stehen, denn bei Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord reicht es aus, wenn eine Kriegspartei das Gericht anerkennt. Aber auch in Drittstaaten können Kriegsverbrecher angeklagt werden. Ein passendes Beispiel dafür ereignete sich zuletzt in Deutschland, beim Prozess gegen Anwar R. Der ehemalige Oberst soll 2011 und 2012 in einem Gefängnis des Allgemeinen Geheimdienstes in der syrischen Hauptstadt Damaskus als Vernehmungschef für die grausame Folter von mindestens 4000 Menschen verantwortlich gewesen sein.
Warum Verurteilungen von Kriegsverbrechern historisch gesehen eine Ausnahme sind, erklärt sich durch die fehlende Möglichkeit, auf die Angeklagten zuzugreifen. Der Internationale Gerichtshof hat keine eigene Polizeieinheit zur Verfügung. Die Staaten müssen also gewillt sein, Angeklagte auszuliefern. Auch Zugriffe in der Ukraine oder in Drittsaaten sind so lange unmöglich, wie ein Angeklagter nicht dort einreist und dann verhaftet werden kann. Viele Kriegsverbrechen aus dem Zweiten Weltkrieg, in Myanmar oder Syrien bleiben bis heute ungesühnt. Bislang bleibt die Verurteilung vom ehemaligen Präsident der Republika Srpska in Bosnien und Herzegowina, Radovan Karadžić, und seinem damaligen Oberbefehlshaber Ratko Mladić nach Kriegsverbrechen im Jugoslawienkrieg und zehnjähriger Flucht eines der wenigen Beispiele für Erfolge der internationalen Gerichtsbarkeit.