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„Es ist herzzerreißend“Wie Kinder unter dem Krieg in der Ukraine leiden

Lesezeit 6 Minuten
Kiew: Eine Mutter tröstet ihr Kind, während Menschen an Silvester Schutz in einer U-Bahn-Station suchen.

Kiew: Eine Mutter tröstet ihr Kind, während Menschen an Silvester Schutz in einer U-Bahn-Station suchen.

Russlands Vernichtungskrieg trifft auch die Kinder in der Ukraine. Ein Mitarbeiter vom Internationalen Komitee des Roten Kreuzes berichtet.

Als am Donnerstag erneut MiG-31K-Kampfjets in Belarus aufstiegen, schrillten in der Ukraine beinahe landesweit die Sirenen. Es vergeht kaum ein Tag, an dem es keinen Luftalarm in der Ukraine gibt. „Wenn ich bei Luftalarm zur U-Bahn gehe und Schutz suche, sehe ich, wie Kinder mit ihren Puppen an der Hand ihrer Eltern von Schutzraum zu Schutzraum gehen“, sagt Achille Després vom Internationalen Komitee des Roten Kreuzes (ICRC) in Kiew. „Sie können sich nicht ausmalen, was in ihren Köpfen vorgeht, welche Erinnerungen sie daran haben werden und welche Folgen das haben wird, wenn sie erwachsen sind“, sagt er dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND).

Erlebniss werden die Kinder für den Rest des Lebens begleiten

Gerade einmal zwei Stunden vor unserem Gespräch fiel im Kiewer Stadtteil, in dem sich auch das ICRC-Büro befindet, der Strom aus. „Es ist herzzerreißend zu sehen, wie die Kinder diese unglaublich schwierige Zeit durchmachen müssen“, sagt Després. Diese Erlebnisse, fürchtet er, werden die Kinder für den Rest ihres Lebens begleiten.

Ob die russischen Kampfjets an diesem Donnerstag mit Kinschal-Raketen ausgestattet waren, ist nicht bekannt. Doch allein die Gefahr, dass innerhalb kürzester Zeit eine Rakete in Wohnhäuser einschlagen könnte, lässt viele Menschen bei Luftalarm in den sicheren U-Bahnhöfen Zuflucht suchen. „Die psychische Belastung der Menschen durch den Krieg bereitet mir große Sorgen“, sagt Després. Das ist ein Thema, das in diesem Krieg kaum Beachtung findet. Meist geht es um Frontverläufe, Panzerlieferungen, Getreideexporte. Doch praktisch jeder, der sich seit Februar in der Ukraine aufhält, so der Rotes-Kreuz-Mitarbeiter, hat sehr, sehr traumatische Erfahrungen gemacht. Das bekomme er in Gesprächen immer wieder zu spüren. „Die Auswirkungen auf die psychische Gesundheit der Kinder sind eine der schlimmsten humanitären Folgen dieses Konflikts und die Folgen werden die Ukraine noch eine lange Zeit beschäftigen.“

Zahlreiche Familien leben wegen des Krieges voneinander getrennt

Viele Eltern haben ihre Kinder ins Ausland geschickt. In manchen Familien ist die Mutter mit den Kindern in Nachbarländer oder in den Westen der Ukraine geflüchtet, während der Vater an der Front kämpft. Zahlreiche Familien lebten voneinander getrennt und das sei gerade eine harte Zeit für die Kinder, erzählt Després aus den vielen Gesprächen mit Menschen, denen das Rote Kreuz in der Ukraine hilft. „Es ist herzzerreißend zu sehen, wie die Kinder diese unglaublich schwierige Zeit durchmachen müssen.“

Mehr als 1000 Kinder wurden nach Angaben des UN-Hilfswerks Unicef seit dem 24. Februar 2022 in der Ukraine getötet oder verletzt. 3,3 Millionen Kinder seien in Not. Nach Angaben lokaler Behörden in der Region Dnipro wurden innerhalb eines Tages mehr als 50 Wohnhäuser, drei Schulen und zwei Kindergärten beschädigt. Stephanie Tremblay, Sprecherin von UN-Generalsekretär António Guterres, kritisierte Angriffe auf Zivilisten und zivile Infrastruktur scharf. „Sie müssen sofort enden“, forderte sie.

März 2022 in Kiew: Ein ukrainischer Soldat hält ein Baby, während er Menschen dabei hilft, aus der Stadt Irpin in der Ukraine zu fliehen.

März 2022 in Kiew: Ein ukrainischer Soldat hält ein Baby, während er Menschen dabei hilft, aus der Stadt Irpin in der Ukraine zu fliehen.

Seit dem Herbst verübt Russland immer wieder schwere Raketenangriffe auf die Energieinfrastruktur der Hauptstadt Kiew und anderer Großstädte der Ukraine. Zuletzt wurden die Abstände zwischen den Raketenwellen immer größer. Wenngleich die Drohnen- und Raketenschläge in den Medien kaum noch groß Erwähnung finden, komme es laut Després weiterhin immer wieder zu schweren Angriffen auf die zivile Infrastruktur. „Dies ist aus unserer Sicht absolut inakzeptabel, da das humanitäre Völkerrecht Angriffe auf Zivilisten und zivile Infrastruktur verbietet.“ Die Zerstörung der Infrastruktur bedeute für die Zivilbevölkerung großes Leid. „Den Menschen fehlt es an lebensnotwendigen Dingen wie Strom, Wasser und Wärme.“

Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko sagte der Nachrichtenagentur Reuters während des Weltwirtschaftsforums in Davos, dass die Energieinfrastruktur der Hauptstadt „jede Sekunde“ wieder zusammenbrechen könne. Es gebe ein Energiedefizit von 30 Prozent in Kiew. Immer wieder kommt es in der Hauptstadt und in anderen Teilen der Ukraine zu Stromabschaltungen. Dass jetzt Winter ist und die Temperaturen unterhalb des Gefrierpunkts liegen, verschärfe die Lage. „Bei diesen Wetterbedingungen ist ein Leben ohne Strom, ein Leben ohne Heizung fast unmöglich“, sagte Klitschko. „Wir kämpfen ums Überleben.“

„Nach jedem Angriff beginnt der Wettlauf gegen die Zeit aufs Neue
Achille Després, ICRC

Der Winter in der Ukraine ist in diesem Jahr zwar milder als in anderen Jahren, aber trotzdem liegt in vielen Teilen des Landes Schnee. Nach jedem Angriff müssen Häuser schnell repariert und ausreichend isoliert werden, damit die Bewohnerinnen und Bewohner zurück in ihre eigenen vier Wände können. „Wir haben Baumaterial bereitgestellt, damit 50.000 Familien im ganzen Land, vor allem nahe der Frontlinie, ihre Häuser wieder aufbauen konnten“, berichtet Després vom ICRC in Kiew. „Nach jedem Angriff beginnt der Wettlauf gegen die Zeit aufs Neue.“

Besonders gravierend ist die Situation laut ICRC nahe der Frontlinie. „Viele Menschen stehen vor der bitteren Wahl: entweder sie bleiben und erfrieren oder sie fliehen und müssen alles zurücklassen“, erklärt Després. Für die Einwohnerinnen und Einwohner sei das eine sehr schwierige Situation.

Je näher die Frontlinie, desto schwieriger der Zugang zu Wasser und Medizin

Nach Angaben des Internationalen Komitee vom Roten Kreuz ist die humanitäre Lage in der gesamten Ukraine sehr ernst. Je näher man an der Frontlinie sei, desto schwieriger sei es für die Menschen, Zugang zu Trinkwasser, Medikamenten und Lebensmitteln zu erhalten. „Die Frontlinien haben sich in den letzten Monaten etwas verschoben, sodass es nun mehr Orte gibt, in denen die humanitäre Lage schlimm ist“, so Després zu den letzten Entwicklungen.

Doch selbst in Städten wie Odessa, Lwiw und Kiew, die weit von den Frontlinien entfernt sind, spüren die Menschen den Krieg. „Am Wochenende wurde ich morgens von den Geräuschen der Raketen geweckt“, schildert der ICRC-Mitarbeiter die Situation in der Hauptstadt. Regelmäßig gibt es im ganzen Land Stromausfälle, weil das Stromnetz wegen der Angriffe auf die Energieinfrastruktur noch nicht repariert ist.

Zusammen mit kommunalen Versorgungsunternehmen hat das ICRC dafür gesorgt, dass 1,3 Millionen Menschen wieder an das Fernwärmenetz angeschlossen werden. Ein weiteres Problem ist die Versorgung mit Trinkwasser, weil Wasserleitungen bei den Kämpfen zerstört wurden. Die Stadt Mykolajiw im Süden der Ukraine hatte über Monate keinen Zugang zu sauberem Wasser. Dort mussten die Menschen Trinkwasser von extra eingerichteten Verteilungsstellen holen. „Ältere und verwundete Menschen sind vier- oder fünfmal am Tag dorthin gekommen, um Wasser zu holen“, berichtet Després nach seinem Besuch in Mykolajiw.

Das Rote Kreuz verteilt im ganzen Land warme Kleidung an die Menschen sowie Heizungen und Stromgeneratoren an Gemeinden und Krankenhäuser. Viele Menschen haben keine Arbeit mehr, weil Unternehmen zerbombt wurden oder keine Produkte mehr herstellen können. Die Bedürftigsten, nach den Vorgaben der Regierung, erhalten vom ICRC Bargeld ausgezahlt. Mit rund 180 Millionen Euro Finanzhilfe sind laut der Hilfsorganisation etwa 400.000 Ukrainerinnen und Ukrainer unterstützt worden.

Die Solidarität und der Zusammenhalt in der ukrainischen Bevölkerung sind laut Després sehr groß. „Viele Menschen haben mir erzählt, wie schwierig ihre Situation ist und was sie alles durchgemacht haben. Dann berichten sie aber oft, dass ihr Nachbar etwas noch viel Schlimmeres erlebt hat und sie ihm helfen.“ Das Gemeinschaftsgefühl sei einfach sehr groß. Die Menschen würden versuchen, dort wo es möglich ist, ein möglichst normales Leben zu führen. „Aber jeder weiß, dass sich die Situation innerhalb einer Sekunde ändern kann.“