„Viele empfinden Verlust und Schuldgefühle“Was Krieg und Flucht für Kinder bedeutet
Die Schrecken des Krieges und der Flucht haben sich in den Köpfen der Kinder und Jugendlichen, die zu uns kommen, eingebrannt. Areej Zindler leitet die Flüchtlingsambulanz am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Im RND-Interview spricht die Psychiaterin darüber, warum es nicht falsch ist, Kampfszenen nachzuspielen.
Frau Dr. Zindler, was sind das für Geschichten, mit denen die Menschen zu Ihnen kommen?
Dr. Areej Zindler: Viele empfinden Verlust und Schuldgefühle. Sie haben Angst und sind verunsichert. Hinzu kommen Schwierigkeiten mit der Sprache und Fragen zur Schule oder zur medizinischen Versorgung. Es ist also ein ganzer Rucksack voll.
Kinder empfinden Schuld?
Ja. Sie empfinden das bezogen auf die Menschen, die zurückbleiben mussten, vor allem die Väter. Manche Kinder denken: Hätte ich Papa häufiger gesagt, er solle mitkommen, hätte ich mehr geweint, wäre ich nur netter gewesen, dann wäre Papa vielleicht bei uns geblieben.
Sind alle Kinder und Jugendlichen, die zu Ihnen kommen, traumatisiert?
Nein. Also Menschen, die ein Trauma erlebt haben, sind traumatisiert. Aber sie haben nicht alle behandlungsbedürftige Traumafolgestörungen. Sie sind also traumatisiert, aber nicht krank. Die meisten Geflüchteten brauchen jemanden, der mit ihnen diesen Rucksack aufmacht, sortiert und schaut: Welche Stelle ist für welche Last zuständig? Darum müssen die Familien dorthin vermittelt werden, wo sie Unterstützung bekommen.
Ganz viele Menschen möchten helfen, spüren aber auch eine Überforderung. Was können etwa Ehrenamtler tun?
Zunächst sollten sie sich fragen: Was kann ich leisten? Sie sind ja keine Therapeuten. Aber sie können nach Institutionen suchen, die helfen können. Es muss nicht immer hochspezialisiert sein.
Ein Platz im Kindergarten, in der Schule – kann das betroffenen Kindern schon substanziell helfen?
Auf jeden Fall. Struktur ist ganz wichtig, und zwar aus mehreren Gründen. Zum einen gibt sie Sicherheit. Das kennen wir Erwachsenen, die nicht traumatisiert oder krank sind, doch auch. Fehlt es uns an Struktur, geht es uns nicht gut. Die Sicherheit ist aber nur ein Aspekt. Ein weiterer ist, dass es Familien hilft, wenn sie nicht die ganze Zeit zusammen sind. Denn die Eltern sind ja selbst meist psychisch belastet und versuchen sich zusammenzureißen, ebenso wie die Kinder. Es ist also für alle eine gute Zeit, wenn die Kinder mit anderen Kindern unbeschwert spielen und die Eltern einmal für sich sein können.
Worauf müssen Pädagoginnen und Pädagogen achten, wenn sie mit geflüchteten Kindern und Jugendlichen arbeiten?
Ein Gespräch mit den Eltern, gerne auch mit Dolmetscher, ist sehr wichtig. Wenn ein deutsches Kind zur Kita geht, sprechen die Erzieherinnen und Erzieher ja auch mit den Eltern über das Kind, über Allergien oder andere Bedürfnisse. Bei geflüchteten Kindern fehlen diese Informationen ganz oft. So ein Gespräch baut Vertrauen auf, und das Kind merkt: Die Erzieherin hat mit meiner Mama gesprochen, und die Mama ist damit einverstanden, dass ich jetzt hier bin. Es darf mir also gut gehen. Im Verlauf muss man dann auch gucken, ob es zu irgendwelchen Auffälligkeiten kommt.
Was für Auffälligkeiten sind das?
Zum Beispiel ständige Müdigkeit. Die Frage ist nur, welche Ursache dahintersteckt. Ist das Kind traumatisiert und deshalb ständig müde? Das ist zum Glück nur bei etwa einem Viertel der Kinder vielleicht der Fall. Bei den meisten Kindern muss man eher gucken: Gibt es Regeln? Wann gehen die Kinder ins Bett? Leben sie vielleicht in einer Sammelunterkunft? Kann das Kind, kann die Mutter zur Ruhe kommen? Das sind Fragen, die mit den Eltern besprochen werden müssen.
Sie sagen, ein Viertel. Ist das geschätzt, oder gibt es Zahlen dazu?
Studien zeigen im Allgemeinen, dass etwa ein Drittel bis ein Viertel der geflüchteten Kinder und Jugendlichen Auffälligkeiten haben und psychosoziale Unterstützung brauchen.
Woran erkennt man eine Traumatisierung, die professionell begleitet werden muss?
Trauma äußert sich abhängig vom Alter. Unter normalen Umständen muss sich ein zweijähriges Kind eigentlich einigermaßen von der Mutter trennen können, es muss einigermaßen schlafen und essen können und soziale Kontakte mit Gleichaltrigen eingehen können. Wenn hier Störungen auftreten oder sie bereits erworbene Entwicklungsfähigkeiten verlieren, etwa aufhören zu sprechen, dann kann – nicht muss – es ein Hinweis darauf sein, dass das Kind traumatisiert ist.
Und wie sieht es mit Zeichnungen und Rollenspielen aus, die Tod und Krieg zeigen?
Erwachsene verstecken ihre Innenwelt eher. Kinder projizieren sie nach außen, indem sie sie reinszenieren. Sie spielen also. Aber auch das muss kein Zeichen von Trauma sein, sondern zeigt: Ihre Innenwelt ist damit beschäftigt und verarbeitet.
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Ist es also gut, wenn sie Kampfszenen und Tod nachspielen?
Wichtig ist, die Kinder nicht zu stoppen, aber auch nicht dazu zu animieren. Die Frage ist, wie die Außenwelt reagiert. Wenn die Erzieherin auf das Kriegsspiel ängstlich reagiert oder es sanktioniert, kann es das Kind verunsichern. In Fällen, wo die Erzieherin unsicher ist, sollte sie unbedingt professionelle Hilfe holen, also sich beraten lassen.
In Einrichtungen herrscht oft Verunsicherung etwa darüber, wie viel Raum der Krieg einnehmen darf, wann Kinder getriggert werden …
Je nachdem wie alt die Kinder sind, kann man das Kriegsspielen auch zum Thema machen. Und gleichzeitig muss man schauen, ob das etwas ist, was ständig passiert. Oder spielt das Kind zum Beispiel deshalb Krieg, weil es Langeweile hat oder nicht in die Gruppe integriert ist. Es geht also darum, das Ganze pädagogisch aufzufangen. Die Kernfrage ist immer: Gefährdet das Kind mit diesem Verhalten sich und/oder andere?
Dabei geht es aber nicht nur um körperliche Unversehrtheit, oder?
Nein, es geht nicht nur um die akute Gefährdung, es geht zum Beispiel auch um die Entwicklung. Spielt ein Kind die ganze Zeit, dass ein anderer Mensch umgebracht wird, hat das Kind für Exploration, für altersgerechte Entwicklung, keine Zeit und Energie. Seine Innenwelt ist okkupiert von diesem Kriegsgeschehen. Dann gefährdet es seine Entwicklung, und dann muss man therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen.
Und woran erkennen wir bei Jugendlichen Handlungsbedarf?
Traumatisierte Kinder und Jugendliche haben oft Schlafstörungen, Albträume, depressive Symptome, sozialen Rückzug, sie berichten auch von Flashbacks und Angst, und viele sagen, sie haben Konzentrationsstörungen. Viele kommen zu uns und sagen: Ich bin dumm geworden! In der Schule kann ich nichts mehr.
Ist es denn dann so hilfreich, sie sofort in die Schule zu schicken? Da kommt ja neben der Sprachbarriere der Leistungsdruck hinzu.
Aber was wäre die Alternative? Das wäre dann gar keine Schule. Und das ist schlecht. Die beste Lösung wäre, es gäbe keinen Krieg, und sie sind einfach zu Hause. Weil das nicht geht, ist alles, was wir machen können, ein Kompromiss. Darum würde ich trotz aller Nachteile immer sagen: Schickt die Kinder in die Schule! Das stellt aber Kitas und Schulen auch vor enorme Herausforderungen. Die können sie nur meistern, wenn sie Unterstützung bekommen.
Was brauchen die Einrichtungen, um den Kindern annähernd gerecht werden zu können?
Geld, personelle Ressourcen und Aufklärung. Sie können nicht mit dem normalen Personal weitermachen, wenn in einer Klasse ein oder zwei Kinder sind, die sehr viel mehr brauchen. Die pädagogischen Fachkräfte brauchen außerdem viel mehr Fortbildung. Sie müssen wissen, wie sie mit psychisch belasteten Kindern umgehen können. Sie sollen keine Therapeuten werden, aber sie benötigen die Kompetenzen, um schwierige Situationen zu meistern, etwa wenn ein Jugendlicher plötzlich dissoziiert. Und sie brauchen die richtigen Ansprechpartner. Ständig rufen uns Lehrer an, weil sie Angst haben, etwas Falsches zu machen.
Haben wir vielleicht eine falsche Vorstellung von Trauma und dem Umgang damit?
Bei Trauma denken viele an Retraumatisierung und machen sich sehr viele Gedanken. Aber auch beim Umgang mit Geflüchteten gelten die ganz normalen Regeln für den gesunden Menschenverstand.
Und die wären?
Zunächst frage ich nicht drauf los, sondern warte, ob die Person von sich aus das Erlebte anspricht. Wenn sie das tut, wird es etwas schwieriger. Dann sollte ich nicht abblocken, aber auch nicht zu sehr ausfragen. Es geht um den Mittelweg. Als Lehrerin könnte man zum Beispiel sagen: Das sind schlimme Dinge, die du erlebt hast. Ich kann mir vorstellen, dass dich diese Dinge belasten. Was glaubst du, was könnte dir helfen? Dieser letzte Satz ist ganz wichtig, denn Trauma verursacht Hilflosigkeit. Darum sage ich den Jugendlichen nicht, was ich glaube, was ihnen helfen könnte, sondern ich frage sie, was ihnen helfen könnte. Damit sie Selbstwirksamkeit spüren und selber entscheiden können.
Wie könnte das in der Schule umgesetzt werden?
Je nach Alter der Schüler kann man die Seele zum Thema in der Klasse machen. Kinder wissen, woran man Verletzungen am Körper erkennt, aber woran erkennen wir, wenn die Seele belastet ist? Das wissen die wenigsten. Es sind ja auch andere Menschen, die belastet sind – nicht nur Kinder mit Kriegserfahrungen. Und noch immer werden viele Kinder mit ihrer Not alleingelassen. Sprechen wir aber mit allen über die Seele, würde nicht nur das ukrainische Kind zum Thema werden und davon profitieren, sondern die Klasse als Gemeinschaft.