134 Seiten hat das Wahlprogramm, das die Grünen-Vorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck sechs Monate vor der Bundestagswahl vorgelegt haben. Sie wollen damit die Bundestagswahl gewinnen und ins Kanzleramt einziehen. Habeck bezeichnet es als „Vitaminspritze für dieses Land“. Noch ist es ein Entwurf, über den die Partei nun anfängt zu debattieren. Im Juni soll das Programm beschlossen werden, das die Grünen auch „Einladung“ nennen.
Grünen-Wahlprogramm: Die zentralen Punkte
Rahmen: „Deutschland. Alles ist drin.“ So haben die Grünen ihr Programm überschrieben. Das klingt wie ein Werbeslogan und ist schön vieldeutig. Sämtliche Themen abgearbeitet, Vielfalt des Landes, grüne Bundeskanzler – alles drin.
Anspruch: Die Grünen versichern: Sie wollen nicht bestimmen, sondern überzeugen. Man wolle diskutieren und Bürger an Entscheidungen beteiligen. Verbotspartei? „Wir begreifen es als unsere Aufgabe, bessere Regeln zu schaffen, nicht den besseren Menschen“, heißt es. Ausdrücklich adressieren die Grünen auch Berufsgruppen, die nicht als Grünen-affin gelten, wie Handwerker oder Stahlarbeiter.
Abgrenzung: Distanz zur aktuellen Bundesregierung wird deutlich formuliert: „Nach einer Ära der politischen Kurzfristigkeit bringen wir den langen Atem.“ Macht verpflichte zu „sauberer Politik“, heißt es auch – da kommt die Maskenaffäre der Union zum Tragen. Die „soziale Marktwirtschaft“ der CDU erweitern die Grünen zur „sozialökologischen Marktwirtschaft“. Der FDP nehmen sie einen anderen Begriff: „Wahlen sind ein Moment der Freiheit. Nutzen Sie ihn – für die Freiheit.“
Klima: Das Gründungsthema der Grünen steht an erster Stelle. Das Ziel ist als Weg formuliert, wie nach langen Kämpfen im Grundsatzprogramm: „Wir lenken all unsere Kraft darauf, Maßnahmen auf den Weg zu bringen, die uns auf den 1,5-Grad-Pfad führen.“ Bis 2030 soll der CO₂-Ausstoß in Deutschland im Vergleich zu 1990 um 70 Prozent sinken, statt wie derzeit geplant um 55 Prozent.
Grüne: CO₂-Preis soll 2023 steigen
Der CO₂-Preis solle dafür bereits 2023 auf 60 Euro pro Tonne steigen. Als Ausgleich soll die EEG-Umlage sinken und ein Energiegeld an alle Bürger gezahlt werden. Der Kohleausstieg soll nicht bis 2038 erfolgen, sondern schon 2030. Für Neubauten sollen Solarzellen auf dem Dach zum Standard werden. Eine Million solarzellenbestückte Dächer sind das Ziel für die nächste Wahlperiode. Für den Bau von Windrädern dürfe es keine „Verhinderungsplanungen, etwa über exzessive Mindestabstände zu Siedlungen“ geben. Kommunen sollen an den Einnahmen von Windanlagen und anderen erneuerbaren Energien beteiligt werden. Angekündigt wird ein Stopp der Erdgaspipeline Nord Stream 2. Diese zementiere die Abhängigkeit von klimaschädlicher Energie und sei geopolitisch nicht sinnvoll.
Verkehr: Durch den Ausbau des Bahnnetzes sollen Kurzstreckenflüge bis 2030 überflüssig werden. Ein Mobilpass soll deutschlandweit in 120 Verkehrsverbünden die lokalen Tickets ersetzen. Auf Autobahnen soll ein Tempolimit von 130 gelten. Der Lkw-Abbiegeassistent soll zur Pflicht werden. Ab 2030 sollen Neuwagen mit Verbrennungsmotor verboten werden. Angedeutet wird ein Ende der Steuerfreiheit des Flugbenzins Kerosin. „Umweltschädliche Subventionen im Flugverkehr sind abzubauen.“ Die Lkw-Maut soll sich am CO₂-Ausstoß orientieren.
Agrar und Umwelt: Angekündigt wird ein Verbot von Glyphosat und die Einführung einer Pestizidabgabe. Lebensmitteldiscountern mit Dumingpreisen drohen die Grünen mit dem Wettbewerbsrecht. Den Ausbau der Oder und den weiteren Ausbau der Elbe lehnen die Grünen ab. Auch To-go-Kaffeebecher kommen im Grünen-Programm vor: Bis 2025 soll für sie Mehrweg zum Standard werden. Das Flaschenpfandsystem soll reformiert werden: Jede Flasche soll in jeden Automaten passen. Pfand auch auf Handys, Tablets und Akkus – damit sie recycelt werden können. Tierschutzorganisationen sollen ein Verbandsklagerecht erhalten, außerdem soll ein Bundestierschutzbeauftragter eingeführt werden.
Essen: Die Vegetarier werden bedacht: Milchalternativen etwa aus Soja oder Reis sollen wie Milch nur noch mit dem halbierten Mehrwertsteuersatz belegt werden. Lebensmittelhandel und -produzenten sollen verpflichtet werden, Lebensmittel, die nicht mehr verkauft werden, aber noch gut sind, weiterzugeben, statt sie wegzuwerfen.
Wirtschaft: Eine Investitionsoffensive ist ein Kernstück des Programms: 50 Milliarden Euro pro Jahr sollen etwa in schnelles Internet, Forschung und Infrastrukturausbau fließen. Der steuerliche Verlustrücktrag soll ausgedehnt werden – der Unionswirtschaftsflügel wird das gerne hören.
Unternehmensgründer sollen einen Zuschuss von bis zu 25.000 Euro bekommen, um fehlendes Eigenkapital auszugleichen. Für die Autobranche und andere Bereiche im Umbau sind Transformationsfonds vorgesehen. Explizit weisen die Grünen darauf hin, dass es in der Stahl-, Zement- und Chemiebranche Hunderttausende Arbeitsplätze gebe.
Die Lehre aus dem Wirecard-Skandal: Unternehmen müssen nach sechs Jahren den Wirtschaftsprüfer wechseln. Um Bankenpleiten zu verhindern, sollen große Banken entflochten und das Investment- vom Kredit- und Einlagengeschäft getrennt werden.
Arbeit: Den Mindestlohn wollen die Grünen sofort auf 12 Euro anheben. Hartz IV wird durch eine Garantiesicherung ersetzt, bei der die Regelsätze schrittweise erhöht werden und Sanktionen wegfallen. Die sachgrundlose Befristung von Arbeitsverträgen wird beendet. Öffentliche Aufträge sollen nur noch an Unternehmen vergeben werden, die Tarifverträge haben oder mindestens Tariflöhne zahlen.
Anspruch auf Arbeitslosengeld soll es nach vier Monaten sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung geben. Minijobs sollen sozialversicherungspflichtig werden, Ausnahmen gibt es weiter für Studierende, Schüler und Rentner. Für Beschäftigte in der Pflege soll die 35-Stunden-Woche gelten. In Transformationsbranchen soll es ein Recht auf Weiterbildung inklusive Weiterbildungsgeld geben sowie ein Qualifizierungskurzarbeitergeld.
Rente: Das Rentenniveau soll nicht unter 48 Prozent sinken. Selbstständige und Abgeordnete sollen in die Rentenversicherung aufgenommen werden. Statt Riester-Rente soll es einen öffentlich verwalteten Bürgerfonds geben, in den alle einzahlen, die nicht widersprechen. Das gesetzliche Rentenalter soll bei 67 Jahren bleiben, es soll aber einfacher werden, länger zu arbeiten.
Steuern: Der Grundfreibetrag der Einkommenssteuer wird erhöht. Der Spitzensteuersatz steigt: Ab einem Einkommen von 100.000 Euro für Alleinstehende und 200.000 Euro für Paare greift ein neuer Steuersatz von 45 Prozent. Ab 250.000/500.000 Euro steigt der Satz auf 48 Prozent. Große Vermögen von über 2 Millionen Euro sollen mit einem Prozent Steuer belastet werden, für Betriebsvermögen soll es Ausnahmen geben. Um Steuerflucht zu verhindern, soll eine Besteuerung nach Nationalität eingeführt werden. Das Ehegattensplitting im Steuerrecht soll für alle neuen Ehen abgeschafft werden.
Familien und Kinder: Kindergeld, Kinderzuschlag, Sozialgeld und Bildungszuschüsse sollen zu einer festen Kindergrundsicherung zusammengefasst werden. Für Kinder in Hartz-IV-Familien gibt es einen Schullaptop. Das Elterngeld soll auf 24 Monate ausgeweitet und bis zum 14. Lebensjahr des Kindes genommen werden können. Kinderkrankengeld soll es 15 Tage lang geben, 30 Tage für Alleinerziehende. Die Kosten für künstliche Befruchtung sollen auch für Lebenspartner ohne Trauschein erstattet werden. Das Wahlalter soll auf 16 Jahre gesenkt werden. Für Kitas ist ein neuer Betreuungsschlüssel geplant: ein Erzieher für vier unter Dreijährige und neun über Dreijährige gleichzeitig. Jedes Grundschulkind soll einen Anspruch auf Ganztagsbetreuung haben.
Bildung: Durch eine Grundgesetzänderung soll der Bund mehr Möglichkeiten bekommen, in der Bildungspolitik mitzuwirken, die bisher reine Ländersache ist. Eine Ausbildungsgarantie soll sicherstellen, dass niemand abschlusslos bleibt. Auszubildende sollen mindestens 80 Prozent der durchschnittlichen tariflichen Ausbildungsvergütungen bekommen.
Bei der Studien- und Ausbildungsförderung Bafög soll es künftig einen Garantiebetrag geben, der durch einen individuellen Zuschuss ergänzt werden kann. Auch für Weiterbildung soll es Bafög geben. Studiengebühren werden abgelehnt.
Gesundheit: Die Krankenhausfinanzierung soll umgestellt werden und sich nicht mehr nur an der Fallzahl, sondern auch am „gesellschaftlichen Auftrag“ orientieren. „Welche Angebote es vor Ort gibt, darf nicht davon abhängen, was sich rentiert, sondern soll sich danach richten, was nötig ist“, heißt es. In der Pflege sollen die Eigenanteile der Betreuten sinken und gedeckelt werden. Die Summen bleiben offen. Pflegeanbieter sollen nur dann noch Geld von der Pflegeversicherung bekommen, wenn sie nach Tarif bezahlen.
Wohnen: Bei krisenbedingten Einkommensausfällen soll die staatliche Kreditanstalt für Wiederaufbau Mietzahlungen sicherstellen. Eine Million zusätzliche Sozialwohnungen sollen innerhalb von zehn Jahren entstehen. Bundeseigene Wohnungen sollen nicht mehr an private Investoren verkauft werden. Mieterhöhungen sollen auf 2,5 Prozent im Jahr innerhalb des Mietspiegels begrenzt werden. Um Geldwäsche zu verhindern, soll der Immobilienkauf mit Bargeld verboten werden. Maklerprovisionen sollen auf 2 Prozent beschränkt werden.
Frauen: Mindestens ein Drittel der Vorstandssitze in börsennotierten Unternehmen soll an Frauen gehen. Für Aufsichtsräte ist ein Frauenanteil von 40 Prozent zumindest empfohlen. Für den höheren diplomatischen Dienst wird eine 50-Prozent-Quote angesetzt. Auch Vorstände sollen in Elternzeit gehen können, dafür soll das Aktienrecht geändert werden. An einem Paritätsgesetz für den Bundestag halten die Grünen fest, obwohl Regelungen in zwei Bundesländern gerichtlich gekippt wurden. Der Paragraf 219a, der Ärzten verbietet, über ihr Leistungsangebot Schwangerschaftsabbruch zu informieren, soll abgeschafft werden.
Zuwanderung und Einbürgerung: Wer in Deutschland geboren wird, soll den deutschen Pass bekommen, wenn ein Elternteil rechtmäßig und ständig hier lebt. Nach fünf Jahren Aufenthalt in Deutschland soll jeder einen Antrag auf Einbürgerung stellen können. Der Zwang, sich für eine Staatsbürgerschaft zu entscheiden, soll wegfallen.
Flüchtlingspolitik: An den EU-Außengrenzen sollen Flüchtende kontrolliert werden. Eine EU-Agentur bestimmt dann den Aufnahmestaat. Aufnahmeländer werden aus einem EU-Fonds unterstützt. Bei zusätzlichem Bedarf werden Länder ohne Aufnahmebereitschaft zur Kasse gebeten. Wer keinen rechtlichen Aufenthaltstitel, aber einen Job hat und gut integriert ist, soll bleiben dürfen. Asylverfahren sollen gestrafft werden, Asylsuchende sollen nicht mehr 18, sondern nur noch sechs Monate in Erstaufnahmeeinrichtungen bleiben.
Arbeitsverbot und Wohnsitzauflagen sollen abgeschafft werden. Statt Länder als sichere Herkunftsländer einzustufen, wollen die Grünen Rücknahmeabkommen vereinbaren, mit Sicherheitsgarantien für Abgeschobene. Abschiebungen bezeichnen die Grünen als letztes Mittel. Wer kein Asyl bekomme und im Herkunftsland nicht gefährdet sei, müsse „zügig wieder ausreisen„. Einen Abschiebestopp soll es für Syrien und Afghanistan geben.
Sicherheit: Die Polizei braucht mehr Personal, finden die Grünen. Gefordert wird eine Kennzeichnungspflicht für Bundespolizisten. Studien zu Rechtsextremismus und Rassismus bei den Sicherheitskräften seien überfällig. Der Verfassungsschutz soll geteilt werden – in ein Bundesamt für Gefahrenerkennung und Spionageabwehr und ein wissenschaftliches Institut zum Schutz der Verfassung.
Angekündigt wird ein NSU-Archiv, das Rechtsterror auswerten soll. „Jede Form politisch motivierter Gewalt gefährdet unseren Rechtsstaat„, heißt es auch. Die größte Gefahr seien Rechtsextremismus und Islamismus. Die anlasslose Vorratsdatenspeicherung wird abgelehnt. Sinnvoll sei eine zielgerichtete Überwachung.
Europa und Außenpolitik: Bei der Europawahl sollen die Wähler auch den Präsidenten der EU-Kommission bestimmen können. Im Europäischen Rat sollen Mehrheitsentscheidungen die Einstimmigkeit ersetzen. In den UN zielen die Grünen auf Abschaffung des Vetorechts der Sicherheitsratsmitglieder. Eigene Passagen widmen die Grünen den USA, Russland, China, der Türkei, Israel und Palästina und Afrika.
Bundeswehr: Die Grünen plädieren für ausreichende Ausstattung der Soldaten. Ein Nein zu bewaffneten Drohnen wird allenfalls indirekt formuliert. Das Nato-Ziel, die Militärausgaben auf 2 Prozent des BIP zu erhöhen, bezeichnen die Grünen als willkürlich. Es müsse ein neues Ziel bestimmt werden – und zwar abhängig von den Aufgaben. Auslandseinsätze gibt es auch mit den Grünen im Rahmen von UN-Missionen.
Rauch und Reise: „Gebt das Hanf frei“ – der Spruch des langjährigen Grünen-Politikers Hans-Christian Ströbele hat Kultstatus. Die Grünen kündigen eine Aufhebung des Cannabisverbots an. Der Verkauf soll in lizenzierten Fachgeschäften möglich sein. Ein Jedermannsrecht wie in Skandinavien soll das Kurzzeitzelten künftig überall in öffentlichen Gebieten ermöglichen.
Wie das alles bezahlt werden soll
Finanzierung: Was das alles kosten wird, wird nicht genau aufgeführt. An einigen Stellen finden sich Hinweise zur Finanzierung, etwa durch die höheren Steuersätze. Einnahmen erhofft man sich auch durch Bekämpfung von Steuerflucht. 10 Milliarden Euro pro Jahr soll die Streichung von klimaschädlichen Subventionen, etwa dem Steuerprivileg für Dienstwagen, bringen. Öffentlich private Partnerschaften – viele Jahre das Zauberwort bei Investitionen – sollen zurückgefahren und im Straßenbau sogar verboten werden, um Geld zu sparen.
Außerdem soll die Schuldenbremse so reformiert werden, dass Schulden für Investitionen möglich werden. Dafür – und auch für die geplante Vermögenssteuer – sind allerdings Grundgesetzänderungen nötig. Diese bedürfen Zwei-Drittel-Mehrheiten in Bundestag wie Bundesrat, also auch in der künftigen Konstellation voraussichtlich der Zustimmung von Teilen der Opposition.