Wer wird Nato-Generalsekretärin oder -sekretär? Hinter den Kulissen wächst Nervosität: Die Weltlage ist ernst, das Bündnis muss sich bald entscheiden. Genannt werden unter anderem Kaja Kallas, Ben Wallace und Ursula von der Leyen.
Im Westen was NeuesWer übernimmt das Amt des Nato-Generalsekretärs?
Klar ist bislang nur eins: Die Zeit drängt.
Wenn die 30 Nato-Staaten nicht bald die Nachfolge im Amt des Generalsekretärs regeln, droht der Allianz in einem heiklen Moment der Auseinandersetzung mit Russland eine peinliche Debatte um sich selbst.
„Wir können schlecht 30 Staats-und Regierungschefs zum Nato-Gipfel am 11. Juli in Vilnius zusammenrufen, ohne Klarheit darüber zu haben, wer die Allianz künftig führen wird“, sagt ein Insider aus der Zentrale in Brüssel.
Ein Problemlöser will aufhören – und schafft damit ein Problem
Das Problem schafft jetzt ausgerechnet ein eigentlich als exzellenter Problemlöser bekannter Mann. Der Norweger Jens Stoltenberg (63), Nato-Generalsekretär seit 2014, will endlich aufhören.
Bereits dreimal hat Stoltenberg seine Amtszeit auf Drängen der 30 Mitgliedsstaaten verlängert – zuletzt im vorigen Jahr, wegen des russischen Überfalls auf die Ukraine. An die zum 30. September 2022 auslaufende Amtszeit wurde kurzerhand noch ein Jahr drangehängt.
Vielen Nato-Regierungen wäre es recht, wenn er ewig weiter machte. Der 63-Jährige Sozialdemokrat aus Europas hohem Norden ist zwar kein Entertainer. Politisch aber machte er nichts falsch, auch nicht in extrem schwierigen Momenten.
Schicksalsjahr 2024
Am 15. November 2022 zum Beispiel, als Geschosse von bis heute ungeklärter Herkunft auf einem polnischen Acker bei Przewodów zwei Zivilisten töteten, rief die Ukraine schon einen Überfall Russlands auf Polen aus. Stoltenberg indessen fragte nach Fakten und Beweisen – und kühlte alle spontanen Aufregungen herunter.
Stets hielt der Norweger den zeitweise dramatisch auseinanderstrebenden Laden zusammen. Dank Stoltenberg überstand die Allianz nach viel Rumpelei auch die für sie bislang bedrohlichsten Jahre: die mit Donald Trump im Weißen Haus.
Trump schert sich weiterhin nicht um die Nato. Vor wenigen Tagen, bei einem Treffen amerikanischer Konservativer, tönte der Ex-Präsident, er brauche nach einer möglichen Wiederwahl zum US-Präsidenten „nur einen Tag“, um den Krieg in der Ukraine zu Ende zu bringen. Trump deutete an, man könne Moskau ein paar ukrainische Gebiete anbieten und betonte: „Ich habe ein sehr gutes Verhältnis zu Wladimir Putin.“
Muss Putin also nur noch bis zur US-Wahl am 5. November 2024 kämpfen? In der Brüsseler Nato-Zentrale sieht man bereits einen politischen Zwei-Fronten-Krieg heraufziehen. „2024 wird ein Schicksalsjahr“, heißt es in Brüssel. Nach dem russischen Imperalismus, der sich in der Ukraine gewalttätig Bahn gebrochen habe, müsse womöglich erneut auch der amerikanische Neonationalismus eingedämmt werden, gegen den sich Stoltenberg jahrelang stoisch stemmte.
Wer aber soll das künftig machen? Und wem könnte das glücken?
Der Ball liegt im Feld der Europäer. Seit Jahrzehnten legt die Allianz die Führung ihrer politischen Zentrale in Brüssel in europäische Hände. Das militärische Oberkommando im 80 Kilometer entfernten Mons dagegen ging stets an einen US-General. Diese Aufteilung folgt keiner festen Regel, ist aber allseits akzeptierte Praxis.
Für den höchsten militärischen Posten – Supreme Allied Commander Europe – hatte US-Präsident Joe Biden im Sommer vorigen Jahres Christopher Cavoli ausgewählt, einen Mann, der in der Allianz als Glücksfall gilt. Der studierte Biologe spricht drei Fremdsprachen, darunter Russisch. Fans sehen den US-General als Intellektuellen in Uniform und als kluge Antwort auf Putin.
Jetzt fehlt nur noch ein kluges Konzept für die oberste zivile Führung des Bündnisses.
Was muss der ideale Kandidat oder die ideale Kandidatin mitbringen? Es gibt in der Allianz ein paar unausgesprochene Einstellungsvoraussetzungen. Erwünscht ist vor allem Regierungserfahrung. Allgemeine politische Integrationskraft ist für den Job wichtiger als eine fachliche Ausrichtung aufs Militärische. Gern gesehen sind frühere Regierungschefs. Von diesem Kaliber waren der Norweger Stoltenberg, und sein Vorgänger, der Däne Anders Fogh Rasmussen.
Es wird konkreter und strittiger
Diesmal kommt ein Aspekt hinzu, den die Nato nicht mehr ignorieren kann, nachdem sie sich seit dem Jahr 1952 in 13 Fällen ununterbrochen für einen Mann an ihrer Spitze entschieden hat. Die Zeit wäre reif für eine Frau an der Spitze. Auch über diese allgemeine Überlegung besteht Einigkeit.
Seit aber hinter den Kulissen konkrete Namen gehandelt werden, wachsen die Spannungen. Die Debatten werden strittiger, bleiben aber bislang sorgsam gedämmt. Offiziell gehen in den 30 Mitgliedsstaaten und im Nato-Hauptquartier in Brüssel alle Beteiligten auf Tauchstation. Kenner der internen Prozesse scherzen, dies sei „der intransparenteste Personalauswahlprozess der freien Welt“.
Mit jeder Person sind, wie drei Beispiele zeigen, immer auch Botschaften verknüpft: bündnispolitische und sogar weltpolitische.
Kaja Kallas: Die 45 Jahre alte Premierministerin von Estland wäre die erste Generalsekretärin in der Geschichte der Allianz und die erste Vertreterin der baltischen Staaten. Letzteres allerdings löst hier und da auch zwiespältige Gefühle aus.
Die einen betonen, eine Baltin zu nehmen, sei ein ideales Zeichen der Festigkeit gegenüber Moskau: Seht her, hier kommt die Vertreterin eines eigentlich schwachen demokratischen Staates, der sich aber wundersam sicher fühlen kann – wegen der starken Nato. Kallas, schwärmen manche, könne weltweit zur Jeanne d“Arc eines regelbasierten Miteinanders werden, vielleicht gar zur Vorkämpferin eines globalen Neo-Idealismus im 21. Jahrhundert.
Andere sind skeptisch. Man wisse nicht, raunen Kritiker, ob die Estin, deren Mutter einst von den Sowjets nach Sibirien verschleppt wurde, nicht mit allzu großer Feindseligkeit und Härte auf Moskau blicke. Beseelt zu sein von einer historischen Mission sei gut, zu großer Eifer berge aber auch Risiken und Nebenwirkungen.
Immerhin aber werden Kallas bessere Chancen gegeben als anderen potenziellen Nato-Generalsekretärinnen, etwa der slowakischen Präsidentin Zuzana Caputova und der litauischen Premierministerin Ingrida Simonyte. Kallas hat offenbar auch bessere Karten als Chrystia Freeland, die heutige Finanz- und frühere Außenministerin Kanadas. Freeland wäre gut qualifiziert. Sie hat zudem ein Herz für Europa, vielleicht auch wegen ihrer ukrainischen Vorfahren. Doch würde neben dem US-General Cavoli, der das militärische Kommando führt, eine Kanadierin politisch das Sagen bekommen, würde sich in Europa das Gefühl ausbreiten, die Allianz werde nunmehr komplett von Leuten aus Übersee organisiert.
Ben Wallace: Der 52-jährige britischer Verteidigungsminister wäre rein sachlich und fachlich der ideale Mann für den Posten des Nato-Generalsekretärs. Mit dem Krieg in der Ukraine ist er bis in kleinste Details hinein bestens vertraut. Kein Premier störte in letzter Zeit seine Kreise. Geräuschlos wurde Wallace immer wieder ins Kabinett berufen, von Boris Johnson, Liz Truss und Rishi Sunak.
Das Problem von Wallace ist eins, für das er nichts kann: Als Brite erregt er Widerwillen bei den EU-Staaten innerhalb der Nato. Mühsam hatten sich die EU-Europäer in letzter Zeit auf neue Strukturen verständigt, um Rüstung und Militärhilfen für die Ukraine zu verbessern. Vor allem den Franzosen widerstrebt es, diese Strukturen nun unter das Kommando eines Politikers zu stellen, dessen Land die EU verlassen hat. Eher käme wohl der Niederländer Mark Rutte (56) zum Zuge,
Ursula von der Leyen: Die 64-jährige Deutsche wird neuerdings wieder gehandelt – auch wenn ihr Umfeld jede Spekulationen über einen Wechsel der EU-Kommissionspräsidentin zur Nato als „Blödsinn“ abtut. Im Moment des geplanten Ausscheidens Stoltenbergs stünde von der Leyen noch nicht zur Verfügung, der Wechsel ließe sich aber 2024 machen. Der Norweger müsste noch ein allerletztes Mal verlängern. Für den Fall, dass der US-Präsident ihn darum bittet, würde er es wohl machen.
Joe Biden hat Gefallen gefunden an von der Leyen. Das jüngste Treffen mit „Mrs. President“, wie er sie anredete, am vorigen Freitagabend im Weißen Haus, drehte sich offiziell um Handelsfragen. Hinter verschlossenen Türen ging es aber auch um den weiteren Weg durch die gegenwärtige Weltkrise.
Von der Leyen hat es im Kriegsjahr 2022 geschafft, die EU mehr denn je auf militärische Notwendigkeiten auszurichten. Ihre Integrationskraft gilt in Washington als enorm. Von der Leyens Büroleiter Björn Seibert und Bidens Sicherheitsberater Jake Sullivan sind verblüffend eng vernetzt, etwa bei der Abstimmung von Sanktionspolitik.
Antwort auf Kissingers Frage: Wen rufe ich an, wenn ich Europa anrufen will?
In früheren Jahrzehnten stöhnte Amerikas Außenpolitik-Altmeister Henry Kissinger: „Wen rufe ich an, wenn ich Europa anrufen will?“ Von der Leyen gibt auf diese alte Frage eine neue Antwort. In ihrer Unterstützung für Kiew war sie oft klarer als Berlin. Und für Biden ist die Deutsche die Frau, die gerade den europäischen Teil der Wagenburg aus Demokratien baut, die der US-Präsident sich weltweit wünscht.
Wollen Kallas oder Wallace ein Kräftemessen wagen? Ein EU-Abgeordneter, der von der Leyen seit Langem kennt, winkt ab: Die Kommissionspräsidentin habe das Spiel vielleicht schon längst entschieden, ohne dass es jemand mitbekommen habe. Ihre jüngsten Reisetermine ließen sich auch lesen als Bewerbungsrunde und als Versuch, Estland, Großbritannien und Kanada zu integrieren, schnell und dezent.
Auf der Liste fehlt nur Emmanuel Macron
In Tallinn feierte die Kommissionspräsidentin Estlands „Independence Day“. In Ottawa lobte sie mit großem Schwung das Engagement der Kanadier für die Ukraine. In London traf sie neben dem Premier auch den König. Und im deutschen Meseberg wurde sie von Olaf Scholz freundlich zu einer Klausurtagung der Ampelkoalition gelotst.
Auf der Liste der letzten 14 Tage fehlt nur Emmanuel Macron. Doch auch auf den kann sich von der Leye verlassen. Der Franzose hatte sie schon einmal aus dem Hut gezaubert, im Juli 2019, bei der für alle Welt überraschenden Nominierung als EU-Kommissionspräsidentin.