Herr Kühnert, hatten Sie schon mal einen Chef, mit dem Sie befreundet waren?Kevin Kühnert: Nein, nicht so wie jetzt mit Lars Klingbeil. Ich hatte schon Chefs, zu denen sich Freundschaften entwickelt haben. Aber eben keine, wo es schon am ersten Tag des Jobs so war.
Verändert sich jetzt etwas an Ihrer Freundschaft zu Lars Klingbeil?
Nein, Freundschaften sind für mich nicht an Bedingungen geknüpft. Gute Freundschaften können nicht durch die Arbeit aus dem Gleichgewicht gebracht oder sogar zerstört werden.
Olaf Scholz hat sich als SPD-Generalsekretär den Spitznamen Scholzomat verdient, weil er in den immer gleichen Worten die Regierungspolitik verteidigt hat. Was macht Sie sicher, dass Ihnen das nicht passieren könnte?
Mir würden wohl einige Leute in meinem Umfeld ziemlich bald den Vogel zeigen, wenn ich als Generalsekretär nur noch die Regierungspolitik lobpreisen würde. Es ist aber vermutlich auch ein großer Unterschied, ob man der SPD-Generalsekretär von Gerhard Schröder ist oder der von Saskia Esken und Lars Klingbeil.
Als SPD-Generalsekretär sollen Sie das Profil der Partei schärfen, die den Kanzler stellt. Werden Sie es immer klar sagen, wenn Ihnen die Regierungspolitik von Olaf Scholz nicht sozialdemokratisch genug ist?
Ich werde es klar sagen, wenn ich Probleme sehe – und zwar zuallererst Olaf Scholz persönlich. Das, was wir heute die große Einigkeit in der SPD nennen, hat eine wichtige Voraussetzung: Kritik bringt man zuerst intern an.
Wenn das nicht hilft, legen Sie dann auch öffentlich nach?
Ich halte das für eine sehr theoretische Diskussion. Meine Grundhaltung als Generalsekretär ist: Ich bin immer solidarisch, aber kein Propagandist. Ich werde sicher nicht Jahre lang auf alle Fragen antworten: „Olaf Scholz ist super. Die SPD ist die stärkste Partei. Alles prima so.“ Reines Selbstlob überzeugt doch keinen. Die Leute erwarten ja zurecht von uns, dass wir neben der Regierungsarbeit auch zeigen, was wir als SPD für Ideen haben, die sich in der Koalition vielleicht noch nicht durchsetzen lassen. In vier Jahren steht die nächste Wahl an und dann wollen wir wieder gewinnen.
Wie viel Beinfreiheit hat Olaf Scholz also in der SPD?
Er ist ähnlich groß wie ich. Da weiß man, so viel Bein ist gar nicht da.
Und im Ernst?
Parteipolitisches Handeln und Regierungshandeln kann man nicht in eine mathematische Formel pressen. Es ist doch nicht so, als könnte man sagen: Drei Mal im Jahr darf der Kanzler die Partei ärgern. Wir alle in der SPD, Olaf Scholz wie auch die Parteiführung, müssen uns auf unser Bauch- und Fingerspitzengefühl verlassen. Die letzten zwei Jahre haben gezeigt, dass wir das mittlerweile gut hinbekommen, weil wir extrem viel mit der Partei kommunizieren. Natürlich wird es auch zu Situationen kommen, in denen die Führung anders entscheidet, als Teile der Basis es sich gewünscht hätten. Manchmal muss sehr schnell entschieden werden. Unser Job ist es dafür zu sorgen, dass es nur wenige dieser Momente gibt.
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In der Öffentlichkeit neigt Scholz zu einer ausweichenden, gelegentlich nichtssagenden Art der Kommunikation. Muss er als Kanzler seine Politik besser erklären?
Ich widerspreche. Ja, Olaf Scholz weicht wie jeder Politiker auch mal einer Frage aus. Wenn er das tut, können Sie daran ablesen, dass er einen Diskussionsprozess noch nicht abschließend bewerten kann oder möchte. Das ist auch eine Aussage und das muss für jemanden, der in so hoher Verantwortung Entscheidungen trifft, auch möglich sein. Aber Olaf Scholz legt sich als Regierungschef, übrigens im Unterschied zu seiner Vorgängerin, sehr wohl in bestimmten Fragen öffentlich klar fest: Der Kanzler hat sich klar für eine allgemeine Impfpflicht ausgesprochen. Er hat deutlich zu erkennen gegeben, dass er einen solchen Gesetzentwurf, den es noch gar nicht gibt, unterstützen will.
Scholz hat den Vorstoß zur Impfpflicht erst gemacht, als die Stimmung dazu in der Bevölkerung gekippt ist. Er stellt sich, wie früher Angela Merkel, nach taktischem Zögern an die Spitze der Bewegung.
Ich sehe es noch nicht als sicher an, dass die Impfpflicht am Ende tatsächlich kommt. Ich denke, dass an der Frage der allgemeinen Impfpflicht noch ganz viele schwierige juristische Fragen zu klären sind. Dennoch hat der Kanzler sich im Grundsatz klar zur Impfflicht bekannt. Das ist ein selbstbewusstes politisches Statement und das Gegenteil von Zögerlichkeit.
Wie stehen Sie persönlich zu der Frage?
Ich kann mir vorstellen, einer Form der allgemeinen Impfpflicht in der Corona-Pandemie zuzustimmen. Aber ich kann heute noch nicht mit Gewissheit sagen, ob es einen Vorschlag geben wird, der meine Bedenken aufzulösen vermag. Das wird stark vom konkreten Gesetzentwurf abhängen. Mir geht es dabei auch darum, wie bestimmte Fragen geregelt sind. Ich kann mir zum Beispiel überhaupt nicht vorstellen, die Einrichtung eines Impfregisters zu unterstützen.
Warum nicht?
Ich lehne eine zentrale Erfassung von Impfdaten ab. Auch wenn es auf die Daten der Corona-Impfung beschränkt ist, sehe ich die grundlegende Gefahr, dass mit einem solchem Schritt die Tür für den Zugriff auf weitere Daten geöffnet ist. Auch sehe ich nicht, wie die vollkommen überlasteten Gesundheitsämter das auch noch administrieren sollen.
Also eine Impfplicht ohne Impfregister würden Sie mittragen?
Wir bräuchten eine rechtssichere Lösung – und das kann nur eine sein, mit der die Verhältnismäßigkeit gewahrt bleibt. Wir können es uns nicht leisten, sehenden Auges per Gerichtsbeschluss korrigiert zu werden. Die Gefahr eines Vertrauensverlustes besteht ja eh schon. Vor der Bundestagswahl gab es eine vielstimmige politische Zusage, es werde eine Impfpflicht auf keinen Fall geben. Allein schon die Tatsache, dass sie jetzt von vielen maßgeblichen Personen so ernsthaft diskutiert wird, ist erklärungsbedürftig. Auch wenn es gute Gründe dafür gibt.
Ist eine politische Entschuldigung fällig, falls die Impfpflicht kommt?
Wichtiger ist, dass diejenigen, die versprochen haben, es werde keine Impfpflicht geben, erklären, warum sie ihre Einschätzung geändert haben. Nur so kann aus Verärgerung noch Verständnis werden. Der Politik geht es da ja nicht anders als der Wissenschaft. Auch da gab es in der Öffentlichkeit oft die Kritik: „Der Drosten ändert schon wieder seine Meinung.“ Die Wahrheit ist aber: Es kommen immer neue Informationen dazu, die bewertet werden müssen. Das, was die Politik als Lehre mitnehmen muss: In Pandemien oder anderen Situationen wissenschaftlicher Ungewissheit dürfen wir keine absoluten Aussagen treffen. Selbst wenn man uns dann vorwirft, wir würden ausweichen.
Olaf Scholz hat auf dem Juso-Bundeskongress dazu geraten, lieber die Union zu kritisieren als die FDP – mit der FDP regiere man jetzt ja. Nehmen Sie den „kleinen Tipp“ von Olaf Scholz, wie er es nannte, an?
Klar. Gute Tipps nehme ich immer an. Aber es muss sich niemand Sorgen machen, dass ich vergessen habe, wer der Hauptgegner im demokratischen Spektrum ist. Gleichzeitig finde ich es nicht illoyal, in der Koalition auch mal Unterschiede zur FDP kollegial zu benennen. Klar ist jedoch: Es ist und bleibt die Union, mit der die SPD um die Führung im Land kämpft.
Wie bewerten Sie den Ausgang des Mitgliederentscheids in der CDU?
Ich gratuliere Friedrich Merz zum Sieg im dritten Anlauf mit dem mahnenden Ausspruch von Bertolt Brecht: „Das große Carthago führte drei Kriege. Es war noch mächtig nach dem ersten, noch bewohnbar nach dem zweiten. Es war nicht mehr auffindbar nach dem dritten.“
In einem „Zeit“-Interview haben Sie vor rund zweieinhalb Jahren darüber nachgedacht, wie die Wirtschaft in einer langfristigen Perspektive durch Kollektivierung großer Unternehmen demokratischer werden könnte. Verfolgen Sie solche Gedankenspiele als SPD-Generalsekretär weiter – oder ist das nur was für Juso-Chefs?
So ein Interview würde ich heute wohl nicht mehr zusagen. Nicht, weil ich finde, dass man darüber nicht diskutieren kann. Sondern weil es aufgrund meines Amtes bewusst missverstanden würde – und von der politischen Konkurrenz ausgeschlachtet. Olaf Scholz würde von morgens bis abends gefragt, ob er sich denn jetzt den ach so wahnwitzigen Ideen seines Generalsekretärs anschließt. Ich bereue das Interview nicht, aber ich habe gelernt, dass der Charakter eines solches Gesprächs verschwimmt, je mehr Zeit vergeht. Es ging damals um gesellschaftliche Utopien, nicht um die Ausrichtung der SPD im nächsten Bundestagswahlkampf.
Also Sie interessieren sich schon noch für den Sozialismus in langfristiger Perspektive, aber Sie sprechen nicht mehr darüber.
Der demokratische Sozialismus ist nichts, worüber nur Jusos diskutieren. Er ist Teil des Grundsatzprogramms und der Ideengeschichte der SPD. Dabei bleibt es auch.
Hat die SPD nach den nächsten vier Regierungsjahren ihr Hartz-IV-Trauma endgültig überwunden?
Es ist nicht relevant, ob die SPD ihr Hartz-IV-Trauma überwindet. Das wäre bloß nach innen gerichtet. Es ist relevant, wie viel davon wir für die Menschen im Regierungshandeln zum besseren umkrempeln können. Das Trauma von Hartz IV ist eines von vielen Betroffenen gewesen, deren Lebensleistung mitunter entwertet wurde, die ihr Sparvermögen verloren haben und die aus ihren Wohnumfeldern rausgerissen wurden. Die SPD des Jahres 2021 bekennt sich dazu, diese Fehler heilen zu wollen und Menschen aus der Langzeitarbeitslosigkeit herausholen.
Kommt eine deutliche Erhöhung des Regelsatzes?
Ich bin fest überzeugt, dass es nicht bei den Regelsätzen, wie sie jetzt sind, bleiben kann.. Viele Hinweise aus der Fachwelt liegen dazu vor und die Ampel wird einen Vorschlag erarbeiten. Trotzdem greift die Diskussion um Regelsätze zu kurz. Das vorderste Ziel muss immer sein, dass die Leute aus der Abhängigkeit staatlicher Leistungen rauskommen und anständig bezahlte Arbeit bekommen. Das freche Märchen von den faulen Arbeitslosen ist schließlich eine dreiste Lüge.
Lars Klingbeil hat seine Zeit als Generalsekretär und auch als Parteivorsitzender mit Zeilen aus einem Song der Band Kettcar eingeläutet. Fällt Ihnen ein Song ein, der zum Motto Ihrer Generalsekretärszeit werden könnte?
Wenn ich bedenke, was wir uns als SPD vorgenommen haben, dann würde ich sagen: „Du schreibst Geschichte“ von Madsen.
Läuft es bei Ihnen jetzt dauerhaft auf eine Karriere als Berufspolitiker hinaus oder können Sie sich später einmal ein Leben ohne SPD-Amt vorstellen?
Das kann ich mir sehr gut vorstellen und ich habe da auch keine Angst vor. Aber ich habe auch keine Sehnsucht danach. Ich fange gerade erst richtig an.