- Der Juso-Chef spricht im ausführlichen Interview über die Herausforderungen vor der Bundestagswahl und die Folgen der Corona-Krise.
Herr Kühnert, sind Sie froh, dass der SPD-Parteitag nur digital stattgefunden hat?Kevin Kühnert: Nein. Warum sollte ich?
Den Jusos ist es so erspart geblieben, für den bei Ihnen wenig geliebten Kanzlerkandidaten Olaf Scholz frenetisch zu jubeln.
Ich bin wirklich nicht froh über dieses digitale Format gewesen – auch wenn es in der Pandemie nicht anders ging und Generalsekretär Lars Klingbeil und das Team im Willy-Brandt-Haus wirklich das Beste aus der Situation gemacht haben. Aber ich habe hier in meinem Büro gesessen und den Parteitag vom Bildschirm aus verfolgt. So wünscht man sich keinen Wahlkampfauftakt. Auch Olaf Scholz hätte die wichtigste Rede des Jahres sicher lieber unter anderen Bedingungen halten wollen.
Zurück zur Frage nach den Jusos.
Da sind Sie offenbar nicht up to date: Bei der Erstellung des Wahlprogramms haben die Jusos sehr gute Erfahrungen mit Olaf Scholz gemacht und sich beispielsweise gemeinsam auf das Konzept einer Ausbildungsplatzgarantie geeinigt. Unabhängig davon wollen wir aber in der SPD ohnehin niemanden mehr als Messias preisen.
Im Moment fallen WG-Partys wegen der Pandemie ja immer noch flach. Dennoch: Wie würden Sie auf einer solchen Party erklären, dass das coolste Angebot bei dieser Wahl der Kandidat sein soll, der mit einer Mischung aus Angela Merkels „Sie kennen mich“ und dem Streberspruch „Ich kann das alles schon“ antritt?
Wollen wir in den kommenden vier Jahren bestmögliche Unterhaltung oder die besten Lösungen? Auf den mir bekannten WG-Partys sind zum Beispiel viele, die sich die explodierenden Mieten kaum noch leisten können. Olaf Scholz hat deutlich gemacht: Die SPD wird bezahlbaren Neubau schaffen, aber auch einen bundesweiten Mietenstopp überall dort durchsetzen, wo die Lage auf dem Wohnungsmarkt angespannt ist.
Hat die SPD noch etwas Überraschendes in der Hinterhand, um die schlechten Umfragen zu drehen? Gibt es noch ein Ass im Ärmel?
Im Gegensatz zu so manchen Konkurrenten liegen bei uns alle Karten auf dem Tisch. Wir werden kein weißes Kaninchen aus dem Hut zaubern. Es ist nicht die Zeit für Show.
Ist ein Bündnis von SPD, Grünen und Linken im Bund nur möglich, wenn sich die Linken zur Nato bekennen?
Es ist Blödsinn, wenn Parteien sich im Wahlkampf gegenseitig Listen mit den zehn Geboten vorhalten und sagen: Nur wenn ihr das unterschreibt, machen wir eine Koalition. Das klärt man nach der Wahl in Koalitionsverhandlungen. Alle wissen: Deutschland wird nicht aus der Nato austreten. Es scheint mir auch gesellschaftlich gerade kein bewegendes Thema zu sein. Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, dass ein Fortschrittsbündnis nochmal an solchen selbstgestellten Fallen scheitert. Die Profiteure wären erneut CDU und CSU.
Am Wochenende ist FDP-Bundesparteitag. In der SPD hoffen einige auf eine Ampelkoalition. Was verbindet Sie politisch mit Christian Lindner?
Das kann ich Ihnen nicht so recht beantworten, weil es für mich überhaupt nicht greifbar ist, was Christian Lindner politisch eigentlich antreibt. Ich erlebe die FDP mit ihm als Vorsitzendem sehr stark als Partei, die strategisch analysiert, wo es vermeintliche politische Marktlücken gibt. Und dann kommt dabei wie zum Beispiel in der Geflüchtetenpolitik ein seltsames Rumgeeiere heraus, bei dem die Partei taktierte und wenig Orientierung bot. In der Pandemie trommelt die FDP meist für mehr Öffnungen – egal, wie die Lage tatsächlich ist oder was die Bundesregierung genau tut. Mir fehlt da eine berechenbare Überzeugung. Freiheit ist ja mehr, als die Abwesenheit staatlicher Eingriffe.
Lindners rote Linie für eine Koalition ist, dass es keine Steuererhöhungen geben dürfe. Kann die SPD die Ampel da nicht gleich wieder von der Liste der Optionen streichen?
Der Teufel steckt wie so oft im Detail. Beim Ziel, Steuersenkungen für Privathaushalte zu schaffen, stimmt Christian Lindner mit der SPD zu 95 Prozent überein. Die FDP möchte für alle Haushalte in Deutschland Entlastungen, die SPD für 95 Prozent. Der Unterschied ist: Wir wollen höchste Einkommen und Vermögen gerechter beteiligen. Lindner sagt hingegen nicht, wie er die Entlastungen gegenfinanzieren will. Lindner konnte schon nach der letzten Wahl nicht überzeugend begründen, warum er nicht regieren will. Jetzt wieder eine Regierungsbeteiligung abzulehnen, weil Multimillionäre nach der Krise etwas mehr zum Gemeinwohl beitragen müssten, das kann er den Menschen im Land nicht erklären.
Thema Generationengerechtigkeit: Sollte der Staat klare Regeln setzen und festlegen: „Die über 60-Jährigen bekommen Astrazeneca, die jüngeren andere Impfstoffe.“ Schließlich ist Astrazeneca für über 60-Jährige empfohlen, für die Jüngeren aber nicht.
Ich appelliere an die Solidarität der über 60-Jährigen, sich wie empfohlen mit Astrazeneca impfen zu lassen – außer, medizinische Indikationen sprechen dagegen. Für diese Altersgruppe gibt es bei diesem Impfstoff nahezu keine Risiken. Viele Jüngere und auch ich selbst sind in der Pandemie auch zu Hause geblieben, um solidarisch die Risikogruppen zu schützen. Jetzt brauchen die Jüngeren die Solidarität der Älteren, denn in Zeiten knappen Impfstoffs sind sie vor allem auf das Vakzin von Biontech angewiesen.
Aber vorschreiben wollen Sie das nicht?
Leider hat das Hin und Her um Astrazeneca zu großer Verunsicherung bei vielen geführt. Ich respektiere es, wenn Menschen deshalb Ängste haben. Als Politik können wir werben, aber ein Ultimatum – Astrazeneca oder gar nichts –, das hielte ich für falsch. Aufklärung ist stattdessen der Schlüssel.
Muss Biontech-Impfstoff mit Priorität an Schüler gehen, sobald der Impfstoff für ab 12-Jährige zugelassen ist?
Am Ende kann das nur unter Einbeziehung von Medizinern und Ethikern entschieden werden. Für mich wäre logisch: Wenn eine Gruppe nur einen für sie zugelassenen Impfstoff hat, muss man ihr für diesen Impfstoff auch Priorität einräumen. Schüler haben gezwungenermaßen sehr viele Kontakte. Wenn ein Impfstoff für sie da ist, sollten sie rasch ein Impfangebot erhalten.
Sind Sie selbst eigentlich schon geimpft?
Nein. Wenn ich Gerechtigkeit nicht in einem gesamtgesellschaftlichen Kosmos herstellen kann, will ich das wenigstens in meinem eigenen Mikrokosmos versuchen. Ich lasse mich nicht vor meinen Eltern impfen, die vom Alter her wenige Monate an der Prioritätsgruppe drei vorbeigeschrammen. Sobald meine Mutter und mein Vater etwas im Arm haben, werde ich mich um eine Impfung bemühen.
Werden durch die Klimaschutzpolitik Urlaubsreisen mit dem Flieger künftig wieder ein Vorrecht der Reichen?
Das gilt es zu verhindern. Andere Flüge, insbesondere Inlandsstrecken und Geschäftsflüge, können übrigens leichter überflüssig gemacht werden. Daneben geht es um Fortschritt. Fluggesellschaften haben ein wirtschaftliches Interesse daran, dass viele Menschen im Urlaub ihre Dienste in Anspruch nehmen. Dadurch sollte sich Druck ergeben, in der Luftfahrtindustrie synthetische Kraftstoffe markt- und konkurrenzfähig zu machen. Leider werden die Fördergelder in diesem Segment nur schleppend abgerufen.
Der Prüfungsausschuss der FU Berlin empfiehlt laut Berichten die Aberkennung von Franziska Giffeys Doktortitel. Wenn dies geschieht: Müsste Giffey dann vom Amt der Bundesfamilienministerin zurücktreten?
In dem Verfahren um die Doktorarbeit von Franziska Giffey geht es um die Einhaltung von Regeln. Umso wichtiger ist es, sich dann auch innerhalb dieses Verfahrens an Regeln zu halten. Der Prüfungsausschuss gibt eine Empfehlung ab, dann gibt es die Möglichkeit einer Stellungnahme für die Betroffene. Das Verfahren läuft.
Ist es für die Kandidatur für das Amt als Regierende Bürgermeisterin egal, ob Giffey ihren Doktortitel verliert oder nicht?
Die SPD Berlin hat Franziska Giffey nicht wegen eines Titels zur Spitzenkandidatin gemacht, sondern weil sie für uns die richtige Kandidatin für das Amt der Regierenden Bürgermeisterin ist. Die Berliner interessiert, ob jemand die explodierenden Mieten in dieser Stadt in den Griff kriegt, die Berliner Wirtschaft nach der Pandemie wieder zum Laufen bringt und den ökologischen Umbau vorantreibt. An diesen Motiven hat sich nichts geändert.
Gewinnen Sie bei der Bundestagswahl Ihren Berliner Wahlkreis Tempelhof-Schöneberg?
Klar, ich will und ich kann meinen Wahlkreis gewinnen. Ich bin von hier, kenne die Leute, die Themen und bin top motiviert. Mit Renate Künast von den Grünen habe ich eine starke Konkurrentin. Ich freue mich auf einen fairen Wettstreit mit ihr und den anderen.
Wollen Sie nach der Bundestagswahl eine wichtige Führungsrolle in der Fraktion?
Erstmal möchte ich gerne in den Bundestag gewählt werden und dort wäre ich dann einer der Neuen, die nachweisen müssen, dass sie zu echt gewählt wurden. Ich bin kein Typ, der da breitbeinig in den Bundestag stolziert und sagt: „Platz da, hier bin ich.“