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Kapitol-SturmEin Anschlag auf Amerikas demokratische Herzkammer

Lesezeit 6 Minuten
Sturm Kapitol 070121

Trump-Anhänger auf den Stufen des Kapitols in Washington

Stolz treten sie aus der unscheinbaren Tür neben der großen Freitreppe auf der Ostseite des Kuppelbaus. Sie schwenken ihre Fahnen, recken die Arme in die Höhe und grölen. "Wir haben die Auszählung gestoppt", ruft einer stolz. Die Umstehenden klatschen. "Wir kämpfen für Trump!", skandieren sie. Für die Zuschauer draußen sind die Frauen und Männer, die ihnen entgegenkommen, patriotische Helden. Sie haben die Institution gestürmt, die sie laut ihren wilden Verschwörungserzählungen mit der formalen Bestätigung des Ergebnisses der Präsidentschaftswahl ihrer Stimmen berauben will: das Washingtoner Kapitol. Dabei sehen nicht alle hier in der Menge wie Randalierer und Gewalttäter aus.

Neben bärtigen Muskelmännern mit Baseballschlägern und uniformierten Mitgliedern rechtsextremer Milizen haben sich auch scheinbar normale Ehepaare und Familien versammelt. Sie alle haben bei der Präsidentschaftswahl für Donald Trump gestimmt. Und sie alle sind fest überzeugt, dass die Auszählung manipuliert wurde.

George W. Bush spricht von „Bananenrepublik“

Gut eine Stunde zuvor haben sich rund um das ehrwürdige Parlament der USA surreale Szenen ereignet, von denen Ex-Präsident George W. Bush später sagen wird, dass sie in einer Bananenrepublik hätten spielen können. Der Senat im Nordflügel des Kapitols debattierte gerade das Ansinnen mehrerer republikanischer Mitglieder, ganz im Sinne von Donald Trump, das Wahlergebnis des Bundesstaats Arizona nicht anzuerkennen. Energisch hatte Mehrheitsführer Mitch McConnell, bislang ein eiserner Vollstrecker des präsidialen Willens, vor dem Vorhaben gewarnt: Eine Umkehr des Wahlergebnisses, mahnte er, werde die amerikanische Demokratie "in eine Todesspirale" schicken.

Die dunkle Metapher sollte eine ungeahnte Bedeutung bekommen. Kurz darauf nämlich kam Unruhe im Sitzungssaal auf, und Vizepräsident Mike Pence wurde eilig vom Secret Service aus dem Raum geführt. Nicht alle Anwesenden begriffen sofort, was sich abspielte, als sie wie ihre Kollegen im Repräsentantenhaus aufgefordert wurden, sich auf den Boden zu legen und Gasmasken anzulegen, während Polizisten die Türe mit einem Möbelstück verrammelten.

Hunderte gewaltbereite Trump-Fans hatten die Absperrgitter rings um das Kapitol einfach überrannt, Fenster und Türen des Gebäudes eingeschlagen und waren eingedrungen. Rasch strömten sie mit Trump- und Konföderiertenflaggen die Treppen herauf, posierten in der berühmten Rotunde für Selfies und stürmten Büros von Abgeordneten und Senatoren. Ein Randalierer riss das Namensschild von Nancy Pelosi von der Wand, drang in ihr Büro ein, legte die Füße auf den Schreibtisch und ließ sich so fotografieren. Es kam zu Rangeleien mit der völlig überforderten Polizei, eine Frau kam unter bislang ungeklärten Umständen bei einem Schußwechsel ums Leben. Drei weitere Menschen starben durch medizinische Notfälle. Zwischenzeitlich wurden die umliegenden Bürogebäude evakuiert, nachdem in der Nähe zwei Rohrbomben und Molotow-Cocktails gefunden wurden.

Normalerweise herrschen im Kapitol strengste Einlasskontrollen, es wimmelt vor Sicherheitskräften, und schon das Ablegen eines Zettels auf der Balustrade der Pressetribüne kann zu einem strengen Verweis führen. Weshalb die Polizei von der Aktion offenbar völlig überrascht wurde, sich auch Stunden später völlig passiv verhält, und gerade mal 15 Eindringlinge festnimmt, kann auch Washingtons Bürgermeisterin Muriel Bowser in einem Interview mit dem Sender CNN nicht erklären. Angeblich hatte sie die Nationalgarde zur Hilfe rufen wollen, war jedoch bei Präsident Trump abgeblitzt. Erst später soll Vizepräsident Pence den Einsatz der Militäreinheit veranlasst haben.

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Dabei war der der Sturm auf das Kapitol keineswegs aus heiterem Himmel gekommen. Seit Tagen schon hatte Trump über seine Wahlniederlage gewütet und bei Twitter für den Mittwoch zu einer großen Protestkundgebung nach Washington geladen. "Seid dabei. Es wird wild!", hatte er vielsagend geschrieben. Und genauso ging es auch am Mittwochmorgen auf einer Wiese südlich des Weißen Hauses los. Seit dem Morgengrauen hatten sich dort einige Tausend hartgesottene Trump-Fans versammelt, die sich weder von den kühlen Temperaturen, noch vom starken Wind und der einstündigen Verspätung ihres Idols abhielten ließen, das um zwölf Uhr hinter einer Panzerglasscheibe ans Rednerpult trat.

Trump spricht erneut von vermeintlichen Wahlmanipulationen

In einer einstündigen Rede trug Trump eine lange Liste vermeintlicher Wahlmanipulationen auf, die sämtlich von den regionalen Verantwortlichen widerlegt und von den Gerichten nicht als Klagegründe zugelassen worden waren. Wenn sich die Bürger nicht wehrten, würden sie von einem "illegitimen Präsidenten Joe Biden" regiert werden, wiegelte Trump die Menge auf: "Wir werden niemals einlenken, wir werden niemals aufgeben!", schickte er die Meute auf den Marsch zum Kapitol.

"Das sind die Konsequenzen eines demagogischen Präsidenten und seiner Unterstützer", machte Chuck Schumer, der demokratische Minderheitsführer im Senat, später denn auch den Regierungschef persönlich für den Aufstand verantwortlich: "Das war vor allem Präsident Trumps Mob. Das ist seine Verantwortung und seine Schande." Ganz ähnlich formulierte das ein ehemaliger enger Vertrauter des Präsidenten, sein Ex-Verteidigungsminister James Mattis: "Der heutige gewalttätige Anschlag auf das Kapitol, ein Versuch, die amerikanische Demokratie den Regeln der Mafia zu unterwerfen, wurde von Trump angefacht", urteilte der Ex-General.

Eindringlich hatte der neugewählte Präsident Joe Biden seinen Vorgänger wähend der Ausschreitungen aufgefordert, mit einer Fernsehansprache dem Treiben ein Ende zu bereiten. Doch Trump meldete sich nur mit einer kurzen Videobotschaft zu Wort, in der er zwar um einen friedlichen Abzug bat, gleichzeitig aber erklärte: "Ich verstehe Euren Schmerz. Wir hatten eine Wahl, die uns gestohlen worden ist."

Besetzung des Parlaments dauert vier Stunden

Es dauerte fast vier Stunden, bis die Besetzung des Parlaments beendet war und die Polizei die Eindringlinge sanft und ohne den sonst üblichen Einsatz von Schlagstöcken oder Wasserwerfern zurückdrängen konnte. In der Zwischenzeit hat Bürgermeisterin Bowser aus Sorge vor weiteren Ausschreitungen eine nächtliche Ausgangssperre für ganz Washington verhängt, an die sich aber nicht alle Trump-Anhänger halten.

Um 20 Uhr abends kommen Senat und Abgeordnetenhaus wieder zusammen. In den ersten Reden ist viel von der Widerstandsfähigkeit der amerikanischen Demokratie die Rede, die sich von äußeren und inneren Feinden nicht besiegen lasse. Das hindert sechs republikanische Senatoren und Dutzende Trump-treue Abgeordnete aber nicht daran, ihre Revolte gegen die Anerkennung der Biden-Stimmen fortzusetzen. Es besteht kein Zweifel daran, dass sie am Ende von der Mehrheit beider Häuser überstimmt werden. Auch Trumps Hoffnung, sein Stellvertreter Pence könne einfach Trump statt Biden zum Wahlsieger ausrufen, wird sich kaum erfüllen. Pence hat klargemacht, dass er dafür keine rechtliche Handhabe sieht.

Finstere Wochen liegen vor den Amerikanern

Trotzdem liegen nach diesem dramatischen Tag zwei finstere Wochen vor den Amerikanern. Nicht nur ist unklar, wie angesichts der akuten Gefahrenlage Joe Biden am 20. Januar auf der verwüsteten Tribüne vor dem Kapitol vereidigt werden kann. Vor allem wächst die Sorge vor noch schlimmeren destruktiven Aktionen des tief frustrierten Präsidenten. Der Sender CNN und die New York Times zitieren übereinstimmend eine Person aus dem engen Umfeld, die erklärt, der Präsidenten sei "nicht mehr bei Sinnen". Hinter vorgehaltener Hand wird angeblich die Möglichkeit diskutiert, ihn für amtsunfähig zu erklären.

Doch das müsste das Kabinett machen, in dem Trump eine Reihe loyaler Lakaien versammelt hat. Immerhin greift der Kurznachrichtendienst Twitter zu einer Sofortmaßnahme und sperrt den Account des Chefpöblers im Weißen Haus, der sich "Gesetz und Ordnung" auf die Fahnen geschrieben hat, tatsächlich aber Anarchie und Chaos fördert – allerdings zunächst nur für zwölf Stunden.