Kollektive ErleichterungFeiern und vorbereiten: Vor Biden liegen vier harte Jahre
Washington – Plötzlich sind sie da. Sie fahren hupend am Trump-Hotel auf der Pennsylvania Avenue vorbei, strömen mit Fahnen und Schildern in Richtung des Weißen Hauses und fallen sich am Black-Lives-Matter-Plaza hinter dem Lafayette Park in die Arme, den der Präsident vor fünf Monaten mit Polizeigewalt und Pfefferspray von friedlichen Demonstranten säubern ließ. „Game over!“, steht auf ihren Plakaten oder „You're fired!“, oder in Anspielung an die Namen des alten und des neuen Hausherrn hinter dem Zaun „Bye Don!“.
Monatelang war das andere Amerika fast unsichtbar gewesen. Präsident Donald Trump gab mit seinen täglichen Twittertiraden den Takt vor und lieferte mit geschickt inszenierten Auftritten vor Tausenden Anhängern überall im Land fernsehtaugliche Bilder. Sein Herausforderer Joe Biden hingegen verlegte seinen Wahlkampf wegen der Corona-Pandemie zunächst ins Netz und dann auf abgesperrte Parkplätze mit wenigen Dutzend Zuschauern.
Die Make-America-Great-Again-Fans setzten sich mit roten Kappen, mit Trump-Flaggen auf ihren Pick-Ups und manchmal auch Gewehren lautstark in Szene. Die Linksliberalen stellten kleine Schildchen in ihren Vorgärten auf. Man hätte verzweifeln können an Amerika.
Erlösung nach 89 Stunden
Aber mit der Kraft einer Urgewalt werden an diesem Samstag die Proportionen zurechtgerückt. Nach dem beispiellosen Nervenkrimi der vergangenen 89 Stunden gibt es endlich ein Wahlergebnis: Um 11.24 prognostiziert zunächst der Sender CNN und 20 Minuten später auch die rechte TV-Station Fox News: Joe Biden ist der gewählte neue Präsident der USA.
Kollektive Erleichterung und ausgelassene Freude machen sich auf den Straßen vieler Städte des Landes breit. Zehntausende füllen bald die Gegend hinter dem Weißen Haus – nicht immer mit dem wegen der Covid-Gefahr gebotenen Abstand, aber ausnahmslos mit Masken. Es wird gejubelt, getanzt und gefeiert. Überall knallen Sektkorken. Aus Lautsprecherboxen dröhnt der Partysong „YMCA“, den Trump zuletzt bei seinen Kundgebungen gespielt hatte. Die Mehrheit des Volks holt sich die gute Laune zurück.
Das könnte Sie auch interessieren:
Abends um acht Uhr dann tritt Joe Biden endlich vor die Öffentlichkeit. Genauer gesagt: Der 77-Jährige stürmt in seiner Heimatstadt Wilmington über einen blauen Steg zum Rednerpult, nachdem ihn seine künftige Stellvertreterin Kamala Harris vorgestellt hat. Rund 300 Autos hat seine Kampagne auf den Parkplatz vor einer Veranstaltungshalle gelassen.
Die Insassen stehen neben ihren Fahrzeugen, sie hupen und schwenken Fahnen und Leuchtstäbe. Der einstige Obama-Stellvertreter hat in seinem langen politischen Leben – auf den Tag genau vor 48 Jahren wurde er erstmals in den Senat gewählt – viele Reden gehalten.
Nicht alle haben gezündet. Auch im Wahlkampf wirkte Biden bisweilen unkonzentriert und kraftlos. Doch an diesem Abend legt der Nachfahre irischer Einwanderer den Auftritt seines Lebens hin.
„Ich verspreche, ein Präsident zu sein, der sich bemüht, nicht zu spalten, sondern zu einen. Ich werde mit voller Kraft arbeiten, um das Vertrauen des ganzen Volkes zu gewinnen“, eröffnet Biden seine Rede. Schon das ist ein gewaltiger Gegensatz zu allem, was man in vier Jahren vom Amtsinhaber gehört hat.
Staatsmännisch, entschlossen und mit fester Stimme trägt der künftige Präsident sein Bekenntnis zu Anstand, Respekt, Fairness, Hoffnung und Achtung der Wissenschaft vor. Er zitiert die Bibel, derzufolge jedes Ding seine Zeit hat: „Jetzt ist die Zeit zum Heilen.“ Donald Trump erwähnt er mit keinem Wort. Aber er wendet sich direkt an seine Wähler: „Ich verstehe Eure Enttäuschung heute Abend. Ich habe selbst eine Reihe Wahlen verloren“, berichtet der Mann, der schon zweimal vergeblich für das Präsidentenamt antrat: „Aber lasst uns gegenseitig eine Chance geben. Es ist Zeit, diese harsche Rhetorik beiseitezulegen und die Temperatur zu senken. Es ist Zeit, dass wir uns wieder sehen und gegenseitig zuhören.“
Der zivile Ton, die positive Grundbotschaft, der Appell an die besseren Impulse des amerikanischen Volks – das alles ist Lichtjahre entfernt von der feindseligen Sprache des narzisstischen Amtsinhabers, der derweil bei Twitter in Großbuchstaben weiter pöbelt, dass er die Wahl gewonnen habe und die Demokraten das Ergebnis fälschen würden. Der Kontrast wird extrem verstärkt durch die Frau, die in Wilmington an Bidens Seite steht: Kamala Harris ist die Tochter von Einwanderern aus Jamaika und Indien, und sie wird die erste Vizepräsidenten der USA sein.
„Es kann sein, dass ich die erste Frau in diesem Amt bin“, sagt die 56-Jährige: „Aber ich werde nicht die letzte sein.“ Jedes kleine Mädchen, das an diesem Abend zuschaue, setzt die Schwarze Senatorin hinzu, sehe, „dass unser Land ein Land der Möglichkeiten ist“.
Das klingt nach Barack Obama und seiner Botschaft der Hoffnung. Doch im Amerika des Jahres 2020 schwingt auch etwas Pathos mit. Nicht nur ist das Land von Chancengleichheit für Weiße und Schwarze noch weit entfernt. Auch die soziale Durchlässigkeit der Gesellschaft hat eher nachgelassen.
Und mehr als 70 Millionen Amerikaner haben trotz aller Ungeheuerlichkeiten nicht zuletzt deshalb Donald Trump gewählt, weil sie sich von der etablierten Politik irgendwie abgehängt oder übergangen fühlten.
Doch in Wahrheit ist das Schicksal dieser Menschen und des Landes dem einstigen Immobilienmogul und Reality-TV-Star völlig gleichgültig. Ihm geht es um sein eigenes Ego, das die Demütigung des ersten Rauswurfs eines amtierenden Präsidenten nach einer einzigen Amtszeit in 28 Jahren nicht verträgt.
Also räumt er am Samstagmittag nicht etwa seine Niederlage ein, sondern fährt auf den Golfplatz. 209 Tage seiner Amtszeit hat er dort zugebracht und damit doppelt so viel wie sein Vorgänger Obama, dem er Faulheit vorgeworfen hatte. Gleichzeitig hat Trump unter der Leitung seines Winkeladvokaten Rudy Giuliani eine Armada von Anwälten in Bewegung gesetzt, die das Ergebnis der Wahlen anfechten und möglichst annullieren soll.
Giuliani hält Pressekonferenz in Philadelphias Gewerbegebiet
Ein Auftritt der Giuliani-Truppe am Samstagvormittag gerät freilich unfreiwillig zur absurden Parabel auf Trumps gesamte Amtszeit. Großspurig hat der Präsident zu einer „bedeutenden Pressekonferenz“ seiner Juristen ins Four Seasons-Hotel in Philadelphia geladen. Das Hotel widerspricht: Tatsächlich findet das Ereignis vor der Tür einer Gartenbaufirma namens „Four Seasons“ im schäbigen Gewerbegebiet der Stadt statt.
Die angereisten Journalisten wundern sich über die Nachbarschaft: Auf der anderen Straßenseite liegt ein Beerdigungsinsitut, nebenan wirbt ein Sex-Shop um Kunden. Sein Name: „Fantasy Island“ – Phantasieinsel. Eigentlich fehlt nun nur noch, dass Pornostar Stormy Daniels, die einstige Geliebte des Präsidenten, aus der Tür tritt. Doch auch so ist die beziehungsreiche Szene schon surreal genug.
Allzu hoch schätzen Experten die Erfolgsaussichten der Trump-Klagen ohnehin nicht ein. Zwar sind die Margen, mit denen Joe Biden die wichtigen Battleground-Staaten gewonnen hat, mit jeweils 10.000 bis 40.000 Stimmen tatsächlich nicht riesig. Doch der Puffer dürfte groß genug sein, um eventuelle einzelne Unregelmäßigkeiten auszugleichen.
Ob und wo es zu Neuauszählungen kommt, ist derzeit noch offen. In Georgia ist das wahrscheinlich. In Pennsylvania liegt Biden inzwischen über der Marke, die einen solchen Prozess auslöst. Alles spricht dafür, dass Biden die alte, von Trump eingerissene, demokratische „blaue Mauer“ der Industriestaaten Michigan, Wisconsin und Pennsylvania wieder rekonstruiert und dazu im südlichen Sonnengürtel in Arizona und Georgia traditionell republikanische Staaten zu seinen Gunsten gedreht hat.
Damit dürfte der Demokrat im Electoral College Mitte Dezember eine klare Mehrheit jenseits der erforderlichen 270 Stimmen haben. Wahrscheinlich kann er am Ende wie Donald Trump vor vier Jahren 306 Wahlleute hinter sich versammeln.
Doch leicht wird das Regieren für den Demokraten trotzdem nicht. Nicht nur bleibt Trump laut Verfassung noch zehn Wochen bis zum 20. Januar im Amt. Auch danach wird der Trumpismus nicht aus dem Land verschwunden sein, das unter der Corona-Pandemie und einem schweren Wirtschaftseinbruch leidet. Biden trete das wohl schwerste Erbe seit Franklin D. Roosevelt an, der 1933 während er Weltwirtschaftskrise ins Weiße Haus einzog, urteilt die „Washington Post“.
Und wie Roosevelt, dem sein verbitterter republikanischer Vorgänger Herbert Hoover alle erdenklichen Steine in den Weg legte, kann auch Biden nicht mit einer konstruktiven Amtsübergabe rechnen. Bereits an seinen ersten Tagen im Amt, berichten amerikanische Medien, wolle er ins Pariser Klimaschutzabkommen und die Weltgesundheitsorganisation zurückkehren, die Einreisesperre für Bürger aus muslimischen Staaten aufheben und ein Programm zum Schutz von Immigranten, die als Kindern nach USA kamen, wieder in Kraft setzen.
Das alles kann er mit präsidialen Dekreten. Doch für echte Reformen in der Steuer- oder Gesundheitspolitk braucht er die Zustimmung des Senats. Ob es den Demokraten gelingt, dort die bisherige Mehrheit der Republikaner zu brechen, hängt von zwei Nachwahlen Anfang Januar ab.
Mit einem amtierenden Präsidenten, der das Oval Office nicht räumen will, und Republikanern im Kongress, die sich keineswegs als Verlierer fühlen, stehen dem Land spannungsreiche Wochen bevor. Seit Tagen sind die Geschäfte in der Innenstadt von Washington verbarrikadiert. Am Samstagabend knallte es tatsächlich. Doch es war nur ein Feuerwerk.