Nord Stream 1 und 2Sollen Lecks „Verwirrung im Westen stiften“?
Carlo Masala weiß auch nicht, wie es zu den Löchern in den Ostseepipelines 1 und 2 auf dem Grund des Meeres unweit der dänischen Insel Bornholm gekommen ist. Aber der Politikwissenschaftler von der Universität der Bundeswehr in München hat eine Vermutung. „Ich gehe mal davon aus, dass es die Russen gewesen sind“, sagte er am Mittwoch dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Ziel sei vermutlich, „Verwirrung im Westen zu stiften“.
„Ein Anschlag würde aus russischer Perspektive zwar keinen Sinn machen, weil er nicht nachhaltig wäre“, sagte Masala weiter. „Es wäre aber ein Zeichen an den Westen: Wenn wir das können, dann können wir auch Eure Unterseekabel hacken. Meine Empfehlung wäre deshalb, die Unterseekabel zu beobachten und zu schützen.“
Lecks haben im Kontexts des Ukraine-Kriegs Konsequenzen
Was der Politologe sagt, passt ins Bild. Niemand kann bisher genau sagen, was mit den Pipelines geschah, an denen zu Wochenbeginn drei Lecks sichtbar wurden. Die Welt tappt im Dunkeln. Das Ereignis hat aber im Lichte des russischen Angriffs auf die Ukraine schon jetzt Konsequenzen.
Da sind zunächst die wirtschaftlichen Folgen. Hier zeigen die Schäden an den Nord Stream-Leitungen längst Wirkung. Der für den europäischen Markt maßgebliche Vertrag zur Lieferung im Oktober (Dutch TTF) lag am Mittwochnachmittag bei 196 Euro pro Megawattstunde. Bis Anfang der Woche waren die Notierungen nach ihrem Hoch Ende August kontinuierlich zurückgegangen – am Montag notierte Dutch TTF noch bei 173 Euro.
Die Aufschläge bedeuten, dass Händler wieder auf eine sich verschärfende Versorgungslage setzen. Die Hauptrollen in diesen Szenarien spielen dabei die Erdgas-Pipelines in der Nordsee. Von Norwegen führen drei Stränge gen Süden. Einer endet in Großbritannien. Ein weiterer führt nach Deutschland. Der dritte verzweigt sich, um in Belgien und Frankreich auf Land zu treffen.
„Echtes Albtraumszenario“ bei Ausweitung
Für die hiesige Versorgung ist das norwegische Gas essenziell. Nach den Daten der Bundesnetzagentur kam in den vergangenen Tagen zeitweise fast die Hälfte der Gasimporte aus dem skandinavischen Land. Die übrigen Mengen wurden vornehmlich über Leitungen aus Belgien und den Niederlanden gepumpt. Dabei war ein größerer Teil LNG-Gas, das nicht über Pipelines, sondern verflüssigt von Schiffen angelandet wurde.
Die Energieexperten von Deutsche Bank Research bezeichneten es in einer Mitteilung als „echtes Albtraumszenario“, wenn sich Sabotage-Akte auf andere Pipelines ausweiten würden. Agenturberichten zufolge will die norwegische Regierung die Sicherheitsvorkehrungen für ihre Infrastruktur nun erhöhen.
Weitere Ausfälle würden sich nach Ansicht von Analysten zwar nicht unmittelbar auf die hiesige Versorgung auswirken. Aber das Auffüllen der Gasspeicher in ganz Europa würde sich massiv erschweren. In der EU sind die unteririschen Reservoirs zu knapp 88 Prozent gefüllt. In Deutschland waren es am Montag 91,4 Prozent. Und selbst bei 100 Prozent würden die Vorräte im Winter maximal für zwei Monate ausreichen.
Hurrikan führt zu Verteuerung von LNG
Aus diesem Grund wird LNG für Deutschland und die EU immer wichtiger. Das erhöht weltweit den Preisdruck für verflüssigtes Erdgas. An der New Yorker Rohstoffbörse gingen die Notierungen für asiatische LNG-Lieferungen im November zeitweise um 13 Prozent in die Höhe. Asiatisches Flüssiggas war in den vergangenen Wochen verstärkt nach Europa geschifft worden.
Im globalen Handel kommt nun noch eine weitere Komplikation hinzu: Der Hurrikan „Ian“ hat dazu geführt, dass die Gewinnung von Erdgas im Golf von Mexiko in den vergangenen Tagen aus Sicherheitsgründen vielfach gestoppt wurde – auch aus diesem Grund hat sich LNG aus den USA in den vergangenen Tagen bereits verteuert.
Das Fazit der Netzagentur im Lagebericht vom Mittwoch lautete: „Die Großhandelspreise schwanken stark, bewegen sich aber weiterhin auf sehr hohem Niveau. Unternehmen und private Verbraucher müssen sich auf deutlich steigende Gaspreise einstellen.“ Neben den wirtschaftlichen sind da die politischen Folgen der Ereignisse, über die bei der Europäischen Union und der Nato in Brüssel ebenso debattiert wurde wie im Berliner Regierungsviertel.
EU kann kritische Infrastruktur nicht schützen
Mit ihren gut 450 Millionen Einwohnern gehört die EU zu den größten Wirtschaftsräumen der Welt. Doch die Lecks an den Pipelines zeigen: Die EU hat es immer noch nicht geschafft, gemeinsame Instrumente zu entwickeln, um die kritische Infrastruktur zu schützen. Diese Frage dürfte am Freitag heiß debattiert werden. Dann treffen sich die Energieminister der EU-Staaten. Bei dem Treffen sollte es eigentlich um die hohen Energiepreise in Europa gehen. Die Vorgänge in der Ostsee haben die Tagesordnung indes durcheinandergewirbelt.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kündigte am Mittwoch ebenso wie der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell Vergeltung für die möglichen Sabotage-Akte an. Die CDU-Politikerin erklärte: „Jede vorsätzliche Störung der aktiven europäischen Energieinfrastruktur ist inakzeptabel und wird zu der schärfsten möglichen Antwort führen.“ Sie ließ aber offen, wen sie für eine mögliche Sabotage verantwortlich macht.
So hielt es auch Borrell. Er sagte lediglich: „Diese Vorfälle sind kein Zufall und gehen uns alle an.“ Man werde jede Untersuchung unterstützen, die darauf abziele, Klarheit über die Vorgänge zu erlangen. Zudem werde man Schritte unternehmen, um die Energiesicherheit robuster zu gestalten. Details nannte er nicht.
Energieversorgung könne nochmal angegriffen werden
Der Grünen-Europaabgeordnete Reinhard Bütikofer forderte die EU-Kommission auf, umgehend Vorschläge zu unterbreiten, um die gemeinsame Sicherheitspolitik zu verbessern. Beide Pipelines seien „allem Anschein nach zum Ziel von Staatsterrorismus“ geworden, sagte er. „Diese Vorgänge zeigen, wie sehr die Sicherheit in Europa in der Folge der russischen imperialistischen Aggression gegen die Ukraine untergraben wird. Es ist nicht auszuschließen, dass es zu weiteren Angriffen auf europäische Energieinfrastruktur kommt.“
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Nur sind die Handlungsoptionen der EU-Kommission in Wahrheit sehr begrenzt. In Brüssel wurde erwartet, dass es allenfalls zu Wirtschaftssanktionen gegen die Saboteure kommen werde. Vorausgesetzt, diese würden überhaupt jemals identifiziert, wie ein Diplomat einschränkte. Das ist das Hauptproblem.
Auch im Nato-Hauptquartier, wo die Lecks am Mittwoch das Top-Thema in den Besprechungen der Militärs waren, herrscht eine gewisse Ratlosigkeit. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg geht zwar ebenfalls von Sabotage-Akten aus. Das schrieb der Norweger nach einem Gespräch mit dem dänischen Verteidigungsminister Morten Bødskov auf Twitter. Ob und wie das Militärbündnis auf die Vorfälle in der Ostsee reagieren wird, ließ Stoltenberg jedoch offen.
Kreml weist Vorwürfe zurück
Nato-Diplomaten verwiesen wie ihre EU-Kollegen auf die vielleicht dauerhaft ungeklärte Urheberschaft. So habe es in den letzten Jahren wiederholt Cyberattacken auf staatliche Strukturen in den Nato-Ländern gegeben, hieß es. Beweise, dass ausländische Regierungen diese Angriffe befohlen hätten, seien aber nur selten gefunden worden. Im Meer dürfte das erst recht gelten. Der Kreml hat Vorwürfe, er stecke hinter all dem, als „dumm und absurd“ zurückgewiesen.
In Berlin ließ das Verteidigungsministerium wissen, dass die Ereignisse zeigten, wie verletzlich und schützenswert die kritische Infrastruktur sei. Die Marine leiste ihren Beitrag zur Aufklärung und zur Stärkung der staatlichen Resilienz. „Die Umstände dieses beunruhigenden Ereignisses müssen nun schnell geklärt und die Verantwortlichen identifiziert werden“, mahnte Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD). Sie habe sich dazu bereits mit ihrem dänischen Amtskollegen ausgetauscht und vereinbart, Informationen zu teilen.
Gegenmaßnahmen der Bundesregierung sind unklar
Regierungssprecher Steffen Hebestreit erklärte freilich, die Urheber exakt zu ermitteln, werde „nicht einfach“ sein. Er vermied auch das Wort Anschlag und sprach vielmehr von einer „Havarie“. Zu Berichten, der US-Geheimdienst CIA habe vor einem solchen Szenario gewarnt, schwieg Hebestreit.
Was etwaige Gegenmaßnahmen angeht, zeigte sich die Bundesregierung nicht minder bedeckt. Ob künftig mehr Schiffe oder mehr U-Boote in die Ostsee geschickt würden, wollte der Sprecher des Verteidigungsministeriums nicht sagen. Das seien prinzipiell vertrauliche Informationen, behauptete er. Und für den Schutz kritischer Infrastrukturen sei ohnehin das Bundesinnenministerium verantwortlich. Dessen Sprecher wiederum unterstrich, dass man „sehr, sehr wachsam“ sei und Sicherheitsmaßnahmen „laufend angepasst“ würden. Daran sei nicht zuletzt die Bundespolizei beteiligt. Konkreter wurde er nicht.
Fest steht allein, dass das ausströmende Gas dem Klima schadet. „Wir müssen von einer starken Klimawirkung ausgehen“, hieß es aus dem Bundesumweltministerium. Tatsächlich ist Methan 25-mal klimaschädlicher als CO2. Dabei haben Experten die Lecks noch nicht einmal inspizieren, geschweige denn schließen können. Der dänische Minister Bødskov sagte in Brüssel, es sei derzeit noch sehr viel Gas in den Röhren. Deshalb könne es eine oder zwei Wochen dauern, bis in dem Gebiet so viel Ruhe eingekehrt sei, dass man in etwa 80 Metern Tiefe operieren könne. (rnd)