AboAbonnieren

Massaker in KleinstadtWie eine Tierärztin den russischen Angriff auf Butscha erlebte

Lesezeit 9 Minuten
Maria Mykytiuk

Tierärztin Maria Mykytiuk erlebte den Angriff auf die ukrainische Kleinstadt Butscha.

  1. Butscha strahlte der russischen Invasion Kleinstadt-Idylle für gestresste Großstädter aus.
  2. Der 24. Februar, der Beginn des Krieges und das Massaker an Zivilistinnen und Zivilisten hat alles verändert.
  3. Eine Tierärztin spricht über ihre dramatischen Erlebnisse und den schwierigen Weg zurück in die Normalität.

ButschaButscha war vor dem Krieg eine Vorstadtidylle für gestresste Großstädter und Großstädterinnen. Seit dem Überfall von Putins Truppen ist nichts mehr, wie es einmal war. Wie kann die Kleinstadt mit dem Trauma fertigwerden? Ein Besuch.

Butscharer Tierärztin erzählt von russischer Invasion

Maria Mykytiuk hörte ein Klicken und wusste, dass ein russischer Scharfschütze auf sie zielt. „Ich habe langsam das Tierfutter aus meiner Tasche geholt und vor den streunenden Hunden verteilt. Sie haben angefangen zu fressen und der Soldat hat nicht geschossen“, erzählt sie. Eine Kugel habe am folgenden Tag ihre beste Freundin Tanja am selben Ort in Butscha in den Kopf getroffen. „Es muss der gleiche Schütze gewesen sein, der sie umgebracht hat“, vermutet Mykytiuk.

Die Tierärztin behandelte Menschen und Tiere während der russischen Besatzung von Butscha im März. Wolken ängstigen sie heute manchmal zu Tode. „Ich bilde mir ein, dass ätzender Regen vom Himmel fällt und es einen chemischen Angriff gibt“, sagt sie. Sie verlasse an anderen Tagen den Bunker nicht. Sie sei sich dann sicher, dass es an diesem Tag einen Atomangriff geben wird.

Wer Mykytiuk gegenübersitzt, kann sich Panikattacken bei der 36-jährigen Tiermedizinerin aus Butscha kaum vorstellen. Sie spricht in ruhigem Ton viele Stunden lang über ihre Todesangst und den Verlust geliebter Menschen während der russischen Besatzung des Kiewer Vororts. Die Veterinärin empfängt in ihrem Refugium verwundete Wildtiere in Butscha. Mykytiuk heilt im grünen Gürtel um die Hauptstadt Kiew seit acht Jahren Tiere. Aufmerksame Waldarbeitende oder Spaziergänger und Spaziergängerinnen bringen sie in der Klinik vorbei. Der Behandlungsraum ist in einer Holzhütte eingerichtet. Sie ist von einem Garten mit zahlreichen Gehegen umgeben. Eine Gans watschelt über den Rasen. Eine Katze streckt unter einem Gebüsch ihre Glieder von sich. Hühner gackern in einem Holzverschlag. Mykytiuk sitzt auf der Veranda der Klinik und erzählt von ihrem Martyrium.

Trauer Friedhof Butscha 210422

Trauerfeier am Stadtrand von Butscha

Russische Spezialeinheiten näherten sich bereits am ersten Tag des Überfalls auf die Ukraine am 24. Februar in Butscha durch die umliegenden Wälder. Die Stadt mit circa 35.000 Einwohnerinnen und Einwohnern liegt rund 25 Kilometer in nordöstlicher Richtung vom Stadtzentrums Kiews. Die Sperrzone von Tschernobyl liegt zwischen Butscha und der Grenze zum benachbarten Belarus. Russische Fallschirmjäger sprangen am Morgen des 24. Februar über dem Frachtflughafen in Butschas Nachbarstadt Hostomel ab. Mykytiuk erinnert sich an das Dröhnen der Helikopter. Es weckte sie am 24. Februar aus dem Schlaf.

Auch Haustiere von Spittern und Trümmern verletzt

Nachbarn brachten in den ersten Kriegstagen ihre verängstigen und bald auch von Splittern oder Trümmern verletzten Hunde und Katzen in Mykytiuks Klinik. Sie klopften bald auch an, um Hilfe von der Tierärztin für ihre verletzten Verwandten zu erbitten. „Ich hatte drei Aufgaben während der Besatzung: Am Leben bleiben, meine Nachbarn verarzten und mich um die Tiere zu kümmern“, sagt die Veterinärin.

Die Medizinerin verstand am Morgen des 10. März, dass nicht Bomben und Raketen die schlimmste Bedrohung für die Einwohnerinnen und Einwohner von Butscha darstellten. Die Russen begannen in Butscha mit Hausdurchsuchungen. Es heißt, dass damals auch neue Einheiten nach Butscha kamen. Unter ihnen waren die gefürchteten Kadyrowsky, Soldaten des putintreuen Statthalters in Tschetschenien, Ramsan Kadyrow.

Alles sei an einem Tag geschehen, erinnert sie sich. „Russische Soldaten haben das Tor zur Klinik aufgebrochen. Ich war so verblüfft, dass ich zu ihnen meinte, sie hätten auch einfach klingeln können. Mein Hund Sakkar hat sie angebellt. Sie haben ihn vor meinen Augen erschossen. Einer hat mir dann einen Tritt in die Hüfte verpasst“, sagt die Tierärztin. Die Russen hätten alles mitgenommen, was sie bei ihrer Durchsuchung für wertvoll befanden.

Mykytiuk verkroch sich in ihrer Klinik, nachdem die Soldaten verschwunden waren. „Plötzlich hörte ich eine Frau schreien. Ich habe durch das Fenster geschaut und gesehen, wie sie auf der Straße vor jemandem davonläuft. Dann fiel ein Schuss und die Frau fiel zu Boden“, erzählt die Ärztin.

Das Manta: Du musst am leben bleiben

Sie habe es sich in den Wochen bis zur Befreiung Butschas nach dem Abzug der Russen am 1. April jeden Tag als Mantra aufgesagt, dass sie am Leben bleiben müsse. Menschen riskierten angesichts der Schüsse aus dem Hinterhalt ihr Leben, um Verletzte zur ihrer Klinik zu bringen. Sie hätten Furchtbares geschildert, berichtet die Veterinärin. „Wir wussten von den Vergewaltigungen. Meine Nachbarn haben eine Granate auf der Straße gefunden und mitgenommen. Sie wollten sich in die Luft sprengen, wenn die Russen in ihr Haus kommen, um die Frau zu holen. Sie haben am Ende die Frau in Ruhe gelassen, aber den Mann erschossen“, sagt die Tierärztin.

Die Veterinärin verließ ihre Klinik, um Patienten und Patientinnen aufzusuchen. „Ich wusste, dass es an jedem Checkpoint zu Ende sein konnte. Aber ich hatte keine Wahl“. Sie beschreibt das Abtasten der Soldaten bei Durchsuchungen. Es sei jedes Mal eine sexuelle Erniedrigung gewesen. „Sie hatten die Hände überall und diesen Blick, mir klarzumachen, dass sie alles mit mir machen können“, erzählt sie. Mykytiuk brachte Medikamente zu Rentnern und Rentnerinnen, die von den Russen aus ihren Häusern geworfen wurden.

„Die Russen schliefen in den Häusern und die alten Leute bei der Kälte in der Nacht in den Gartenlauben“, sagt Mykytiuk. Sie kam auf ihren Wegen an den Leichen vorbei, die in den Straßen lagen oder festgegurtet mit Schusswunden in ihren Autos saßen. Sie erinnert sich an eine Hand, die aus einem Wagen hing. Die Tierärztin verteilte dann auch Futter aus ihrer Klinik an streunende Hunde, deren Besitzerinnen und Besitzer geflohen oder tot waren. Sie hätten sich sonst von den Leichen ernähren müssen.

Butscha strahlte vor dem Krieg Vorstadtidylle aus

Mykytiuk beschreibt das Butscha vor dem 24. Februar als Vorstadtidylle für gestresste Großstädter und Großstädterinnen. Es sei ein Ort im Grünen gewesen, um Kinder in einer gesunden Umgebung aufwachsen zu lassen. Butscha sei aber nie langweilig gewesen. „Es gab jedes Wochenende eine Kulturveranstaltung oder ein Festival mit Live-Musik. Oft zu Themen wie Umwelt oder Ernährung“, meint die Tierärztin. Nun habe sich „energetisch“ alles geändert, meint die Veterinärin. Die Idylle schreit vor Schmerz. „Es ist gut, dass die meisten Menschen, die während der Besatzung hier waren, nach der Befreiung erst einmal woanders hingegangen sind. Wir hatten hier keine Invasion feindlicher Truppen. Hier war das pure Böse und das liegt noch in der Luft“, sagt Mykytiuk. Sie will bald nach Australien fliegen. Ihre Kinder hat sie bereits zu Beginn des Krieges zunächst in der Ukraine in Sicherheit und dann außer Landes gebracht. Ihr Mann kämpft an der Front. „Meine Eltern und Schwiegereltern kümmern sich um die Tiere“, sagt die Veterinärin. Sie wolle auf jeden Fall nach Butscha zurückkehren, meint sie.

Butscha ist vor allem eines, eine Stadt im Wald. Fernsehaufnahmen von Anfang April zeigten vor allem das Grau von Ruinen. Doch der Frühling hat das Bild in ein sattes Grün getaucht. Ferienhäuser, Hotels und Restaurants stehen in dem an den Wald grenzenden Teil der Stadt. Supermärkte und Wohnblocks im Zentrum der Kleinstadt erinnern nicht mehr an die sowjetischer Bauart, sondern an Mitteleuropa. In einigen Fassaden klaffen Löcher. Doch die Schäden sind begrenzt, weil die Russen die Stadt ohne große Gefechte eroberten. Außenministerin Annalena Baerbock fühlte sich an Potsdam erinnert, als sie Butscha am 10. Mai besuchte.

Ukr Soldaten Butscha

Anfang April: Ukrainische Soldaten inspizieren Straßen nach dem Massaker in Butscha.

Viele Akademiker und Akademikerinnen leben in Butscha. Menschen, die ihren Ansprüchen entsprechende und bezahlbare Wohnungen in den gentrifizierten Innenstadtbezirken von Kiew nicht mehr fanden, entschieden sich zum Pendeln. Ausflügler und Ausflüglerinnen aus Kiew zog es am Wochenende in die Datschen am Waldrand. Hier ließen viele Kiewerinnen und Kiewer bei Spaziergängen die Seele baumeln. Die Wälder rund um Butscha sind nun Todeszone. Die russischen Truppen haben eine unbestimmte Zahl an Minen und Sprengfallen hinterlassen. Niemand weiß, wann ein Ausflug hier ohne Lebensgefahr wieder möglich sein wird.

Anna und Dymtro Mischenko laden abends zu einem Tee in ihre Wohnung ein. Das Paar heißt in Wirklichkeit anders. Sie wollen nicht erkannt werden, weil sie Verwandte in den Separatistengebieten im Donbass haben. Sie flohen selbst 2014 aus der Gegend um die Großstadt Donezk nach Butscha und fanden dort, wie sie es beschreiben, ihr kleines Paradies. Die Eheleute brachten zu Kriegsbeginn ihre Töchter in Sicherheit, wollten aber selbst in Butscha ausharren. „Noch mal alles zurücklassen, das haben wir nicht fertiggebracht“, sagt Anna Mischenko. Das Paar änderte seine Meinung, als Dmytro Mischenko am 6. März sein eigenes Erlebnis mit den Herren über Leben und Tod in Butscha macht.

„Ich war mit Nachbarn im Auto unterwegs, als sie uns beschossen haben“

„Ich war mit Nachbarn im Auto unterwegs, als sie uns beschossen haben“, sagt Mischenko. Der Nachbarin blieb ein Splitter im Auge stecken, ihren Mann am Steuer traf eine Kugel im Bein. Mischenko hatte sich hinter die Vordersitze geworfen und blieb unverletzt. Die russische Patrouille habe seine Papiere und die der Verletzten kontrolliert, während diese bluteten und stöhnten, erzählt er. „Danach meinten sie, sie erschießen uns jetzt“, sagt der Mann. Mischenko erzählt, dass er auf die Soldaten eingesprochen habe. „Sie stimmten schließlich zu, dass wir wegfahren durften. Aber der Motor sprang nicht an“, sagt Mischenko.

Das könnte Sie auch interessieren:

Er durfte mit einem Soldaten in den Wald, um Stöcke zu suchen, mit denen die Verletzen davonhumpeln sollten. Der Soldat habe ihn aufgefordert, ihm sein Smartphone zu geben. „Er meinte, ich bräuchte es doch nicht mehr. Am Ende würden sie uns ohnehin erschießen, egal, ob sie etwas anderes versprochen hätten“, sagt er. Der Soldat habe ihn sogar noch gebeten, seine Daten zu löschen, weil er nicht wisse, wie das funktioniere. „Ich habe dann erzählt, dass ich als junger Mann bei der Sowjetarmee war. Da hat er mir das Handy gelassen. Sie haben uns dann auch wirklich ziehen lassen“, erzählt Mischenko.

Die Mischenkos flohen am 11. März mit einem Konvoi aus Butscha. Sie kamen bei Freunden in der zentralukrainischen Stadt Winnyzja unter. Sie kehrten nach dem 1. April nach Butscha zurück, schrubbten mit ihren Nachbarinnen und Nachbarn die rußgeschwärzten Wände im Treppenhaus und freuten sich, dass niemand ihre Wohnung geplündert hat, wie viele andere in ihrem Wohnhaus.

Mischenko ist sich sicher, dass das „kleine Paradies“ Butscha die russischen Soldaten provoziert hat. Butscha habe sich in den vergangenen Jahren enorm entwickelt. Und die russischen Soldaten hätten ausgerechnet hier ihre erste Begegnung mit der Realität in der Ukraine gemacht. „Sie dachten, hier lebten Nazis und Ukrainer ernähren sich von trockenem Brot. Sie haben sich uns überlegen gefühlt und dann sahen sie, wie gut wir hier lebten“, sagt er.

Nichts werde in Butscha jemals wieder sein wie vor dem Krieg, meint Mischenko. Überlebende wie ihn plagten Schuldgefühle, weil so viele andere starben. Und so vieles, was geschah, sei nicht in Worte zu fassen. „Wenn alle, die geflohen sind, wieder hier sind, werden Kinder erfahren, dass ihre Freunde von Russen vergewaltigt worden sind. Wie sollen Eltern das ihren Kindern erklären?“