- Als im Sommer und Herbst 2015 hunderttausende Migratinnen und Migranten nach Deutschland kamen, nahm Angela Merkel die Zivilgesellschaft in die Pflicht.
- Ein Satz der Kanzlerin prägt bis heute die Politik und Zeit: „Wir schaffen das“.
- Nun, fünf Jahre später, die Frage: Haben wir es geschafft? Eine Bilanz.
Köln/Berlin – Nichts an diesem Satz ist kompliziert. Subjekt, Prädikat, Objekt. Es ist die einfachste Konstruktion, die die deutsche Sprache hergibt: „Wir schaffen das.“ Drei Wörter. Punkt. Kein Fragezeichen, keine Ausflüchte, kein Zweifel, damals jedenfalls. Es ist ein Zeugnis der Zuversicht. Die Beschwörungsformel aus dem Jahr 2015 ist zum Mantra der gesamten Kanzlerschaft von Angela Merkel geworden, zu ihrem politischen Credo.
Es ist der 31. August 2015. Merkel sitzt in der Bundespressekonferenz. Sie spricht von „unendlich vielen Tragödien“, von „unfassbarem Gräuel“ und „Bildern, die unsere Kraft übersteigen“. Vier Tage zuvor waren 71 Menschen tot in einem luftdicht verschlossenen Kühltransporter in Österreich entdeckt worden. 800.000 Flüchtlinge werden in jenem Jahr nach Deutschland kommen.
Grundrecht auf Asyl, Menschenwürde und Humanität
Merkel beschwört das Grundrecht auf Asyl, die Menschenwürde und die Humanität, sie spricht vom Mut, „das Richtige und das Notwendige zu tun“. Es ist ein Appell ans Gemeinwesen, ein Vertrauensvotum in die deutsche Zivilgesellschaft. „Deutschland ist ein starkes Land“, sagt sie. Und dann: „Das Motiv, in dem wir an diese Dinge herangehen, muss sein: Wir haben so vieles geschafft – wir schaffen das. Wir schaffen das, und wo uns etwas im Wege steht, muss es überwunden werden.“
Immer wieder in der Geschichte kristallisierte in einer prägnanten Losung eine ganze politische Agenda, eine komplexe Vorstellung vom richtigen Leben. Wie bei Martin Luther Kings „I have a dream“. Wie bei John F. Kennedys „Ich bin ein Berliner!“ Wie beim Fanal der Montagsdemos in der DDR („Wir sind das Volk!“).
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Wir schaffen das. Die Worte bündeln den ganzen moralischen Kodex der Pfarrerstochter Merkel, die angesichts des Leides an den Grenzen gar nicht anders konnte, als auf eine Bitte der österreichischen Regierung zu reagieren und die – im Schengen-System ja bereits offenen – Grenzen nicht zu schließen. Der häufige Vorwurf, Merkel habe „die Grenzen geöffnet“ und sich im Alleingang über Gesetze hinweggesetzt ist nach Einschätzung maßgeblicher Fachleute und auf der Basis mehrerer Urteile nicht zu halten. Was bereits offen ist, kann man nicht öffnen.
Wurden in der Politik Fehler gemacht?
Wurden trotzdem Fehler gemacht? Gewiss. Frühe Warnzeichen für die sich zuspitzende Flüchtlingskrise wurden ignoriert, die Vorbereitung begann viel zu spät, das Dublin-System erwies sich als untauglich zur solidarischen Verteilung der Ankömmlinge in Europa. Und viele Kommunen wurden mit der Menge von Flüchtlingen überfordert. Hinzu kam: Merkel tauchte im Sommer 2015 lange ab, statt dem Land zu erklären, dass der Flüchtlingsstrom Resultat einer Hilfsmaßnahme von begrenzter Dauer war.
Um so mächtiger die Wirkung ihres Satzes „Wir schaffen das“. Er entwickelte in kürzester Zeit eine gewaltige Kraft, einerseits als Motto der Willkommenskultur, andererseits als Zündstoff für all jene, die die Lage nutzten, um zornig ein Horrorgemälde zu pinseln. „Wir wollen das gar nicht schaffen!“, zürnte Alexander Gauland. Es war die Zeit, als die AfD in den Umfragen bei vier Prozent lag und die Flüchtlingskrise der Partei „wie ein Geschenk“ (Gauland) in den Schoß fiel. Nach der Amokfahrt in Münster 2018, bei der vier Menschen starben, twitterte Beatrix von Storch (AfD) „WIR SCHAFFEN DAS“ mit einem wütenden Emoji, bevor sich herausstellte, dass der Täter ein psychisch kranker deutscher Bürger war.
Ein Satz, der zum Gewicht an Merkels Hals wurde
„Die einwanderungsfeindliche Rechte hängte Merkel den Satz um den Hals wie ein Gewicht aus Blei“, schrieb das US-Magazin „The Atlantic“. Aber auch gemäßigte Kollegen nutzten ihn. „Wir schaffen das nicht ohne Weiteres“, sagte etwa Parteikollege Thomas de Mazière. Tatsächlich kann der „banale Satz“ (Merkel) aus dem Kontext gelöst ja wirklich wirken, als bagatellisiere er die gewaltigen Hürden auf dem Weg zu Integration und wechselseitiger Toleranz. Seine größte Stärke – seine Schlichtheit – ist zugleich seine angreifbarste Schwäche. „Wir schaffen das“? Klingt das nicht irgendwie auch nach „Passt schon“?
Gleichzeitig aber ist der Satz gerade in seiner Allgemeinheit auch couragiert. Denn er bedeutet: Was immer da kommen mag, es wird das Land nicht überfordern. Mehrfach wird Merkel den Satz wiederholen. Dabei hat sie ihn gar nicht erfunden. Schon eine Woche vor ihrem Auftritt 2015 hatte Vizekanzler Sigmar Gabriel gesagt: „Jetzt müssen wir europäische Werte unter Beweis stellen. Ich bin sicher, wir schaffen das.“ Und nur einen Tag vor Merkels Pressekonferenz zitierte die „Bild am Sonntag“ auch Wolfgang Schäuble mit: „Wir schaffen das.“
Der nüchterne Pragmatismus von Angela Merkel
Warum wurde dieses „bescheiden anmutende und dabei heroische Wahlwort“ (die Holocaust-Überlebende Ruth Klüger) erst durch die Kanzlerin zum Fall für die Geschichtsbücher? Vielleicht, weil er auf das Herrlichste den nüchternen Pragmatismus dieser Frau symbolisiert. Merkel selbst staunte später über die Karriere der Sentenz – und distanzierte sich davon, weil sie nicht reduziert werden wollte auf diese „übertrieben oft wiederholten drei Wörter“. Der Satz sei „fast zu einer Leerformel geworden“, klagte sie. „Manch einer fühlt sich von ihm sogar provoziert.“ Dabei sei er „anspornend, dezidiert anerkennend“ gemeint gewesen. Die Antwort auf die Frage freilich, ob „wir“ „das“ tatsächlich geschafft haben, steht noch aus.
Sicher ist, dass Deutschland der Gedanke daran, ein Einwanderungsland zu sein, fünf Jahre später weiterhin schwerfällt. Das liegt auch daran, dass eine offene Debatte darüber von allen Seiten ideologisch aufgeladen wird. „Wir schaffen das“ war nur ein Impuls, kein Rezept. Gleichzeitig aber gilt, was der damalige Bundespräsident Joachim Gauck im August 2016 sagte: „Ich mag mir eine Regierungschefin nicht vorstellen, die vor das Volk tritt und sagt: Wir schaffen das nicht.“ (Imre Grimm/RND)