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5 Jahre „Wir schaffen das“Grenzöffnung, Flüchtlingskosten – Faktencheck zur Migration

Lesezeit 6 Minuten
Flüchtlinge 2015

Flüchtlinge im Oktober 2015 im bayerischen Wegscheid

  1. Vor fünf Jahren sagte Angela Merkel ihren wohl berühmtester Satz: „Wir schaffen das.“
  2. Die folgende politische Debatte war oft aufgeheizt, nicht selten ging einiges durcheinander.
  3. Doch was ist damals wirklich passiert? Ein Faktencheck.

Berlin – Was ist seit 2015 und Angela Merkel berühmtem Satz wirklich passiert? Wir untersuchen die Fakten.

Hat Angela Merkel 2015 die Grenzen für die Flüchtlinge geöffnet?

Nein. Innerhalb des Schengen-Raums sind die Grenzen prinzipiell offen und können daher nur geöffnet werden, wenn sie zuvor geschlossen waren. Allerdings gibt es eine Einschränkung: Für Asylsuchende sind die nationalen Grenzen im Schengen-Raum nur bedingt offen. In der Regel müssen sie in dem Land bleiben, in dem sie ihn betreten oder zuerst Asyl beantragt haben. Das sieht das Dublin-Abkommen vor.

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Staaten können jedoch Asylverfahren an sich ziehen, wenn zuvor andere Regelungen wie etwa die Familienzusammenführung greifen – oder auf Basis der Ermessensklausel, die in Artikel 17 des Abkommens festgeschrieben ist. Auf dieser rechtlichen Grundlage nahm die Bundesregierung 2015 die Asylsuchenden, die in Ungarn auf eine Weiterreise gewartet hatten, auf. Begründung: In Ungarn waren die drittmeisten Asylanträge in Europa gestellt worden, das Land wäre an der Bearbeitung der Anträge gescheitert.

Was hat die akuten massenhaften Flüchtlingsbewegungen 2015/16 nach Europa letztlich gestoppt?

Es war ein Zusammenspiel aus zwei Faktoren: zum einen der Abriegelung der Balkanroute Anfang März 2016, als erst Slowenien und dann Kroatien, Serbien und Nordmazedonien ihre Grenzen schlossen, zum anderen dem EU-Türkei-Deal wenige Wochen später. Der sollte bewirken, dass weniger Flüchtlinge von der Türkei über die Ägäis nach Griechenland und somit auf EU-Boden gelangen.

Olaf Kleist, Politikwissenschaftler mit dem Schwerpunkt Flucht- und Flüchtlingsforschung, sagt: “Beides hatte vermutlich einen Anteil am Rückgang der Ankunftszahlen, die allerdings schon vor dem Abkommen mit der Türkei drastisch abnahmen, zum Teil auch deshalb, weil die meisten Syrer, die die Region verlassen wollten oder konnten, schon nach Europa gekommen waren.”

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Worin bestand der EU-Türkei-Deal und haben ihn beide Seiten eingehalten?

Das am 18. März 2016 unterzeichnete EU-Türkei-Abkommen wollte die Massenflucht von der Türkei über die Ägäis nach Griechenland unterbinden. Die Türkei sollte ihren Grenzschutz verstärken und verhindern, dass Schlepper die Flüchtlinge auf die griechischen Inseln bringen. Im Gegenzug sicherte die EU der Türkei sechs Milliarden Euro zu, um die Lebensumstände der Flüchtlinge zu verbessern.

Zudem sollten Flüchtlingen, die keinen Anspruch auf Asyl haben, von den griechischen Inseln in die Türkei zurückgebracht werden. Die EU-Staaten verpflichteten sich, für jeden in die Türkei abgeschobenen Flüchtling einen syrischen Flüchtling aus der Türkei direkt aufzunehmen. Außerdem stellte man der türkischen Regierung in Aussicht, schneller über die Abschaffung der Visa-Pflicht für türkische Bürger und den EU-Beitritt zu verhandeln.

Knapp viereinhalb Jahre nach Unterzeichnung des Abkommens ist die EU ihren finanziellen Zusagen vollumfänglich nachgekommen. Aus dem Versprechen, den Beitrittsprozess wiederzubeleben, wurde jedoch nichts; viele EU-Staaten schließen einen Beitritt der Türkei mittlerweile aus. Auch die Visumpflicht für türkische Bürger wurde nicht aufgehoben. Begründung: Die Türkei erfüllt rechtsstaatliche Prinzipien der EU nicht.

Die Türkei hat indes ihre wichtigste Zusage eingehalten: Seit dem Abschluss des Deals kommen weniger Flüchtlinge in Griechenland an – dank eines effektiveren Grenzschutzes und striktem Vorgehen gegen Schleuser.

Wurde der Bundestag in “Merkels Flüchtlingspolitik” eingebunden?

Die Entscheidung, die in Ungarn wartenden Flüchtlinge in Deutschland aufzunehmen, hat tatsächlich Merkel getroffen – auch wenn die gesamte Regierung in den Prozess involviert war, hatte das letzte Wort die Kanzlerin. Hinsichtlich der folgenden Gesetzgebung führte an der Einbindung des Bundestages aber kein Weg vorbei. Die beiden Asylpakete wurden mit einer breiten Mehrheit der Großen Koalition verabschiedet: das erste mit 474 Stimmen aus den Regierungsfraktionen und einer Stimme einer Grünen-Abgeordneten, das zweite mit 429 Stimmen von Union und SPD.

Hat Merkel ihre “liberale Flüchtlingspolitik” jemals revidiert?

Ja, sagt Günter Burkhardt, Geschäftsführer von Pro Asyl dem RND: “Merkel hat den Kurs der Abschottung toleriert und sogar forciert. Die Asylpolitik wurde seit Herbst 2015 ins Gegenteil gekehrt.” Die zwei Asylpakete, die die Große Koalition Ende September 2015 und Anfang 2016 verabschiedet hat, beinhalteten unter anderem das Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz und das Gesetz zur Einführung beschleunigter Asylverfahren. Gegen Personen aus “sicheren Herkunftsländern” wurden Arbeitsverbote verhängt, zudem weitete die Koalition die Liste der “sicheren Herkunftsstaaten” auf Albanien, Kosovo und Montenegro aus. Außerdem setzte man den Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte, also einen Großteil der Flüchtlinge auch aus Syrien, bis zum 16. März 2018 aus.

Diese Debatte, sagt Burkhardt, “ist völlig aus dem Blickpunkt der Öffentlichkeit geraten”: Weil die Zahl der anerkannten Asylbewerber aus Syrien “aufgrund politischer Erwägungen gedrückt wurde” und somit immer mehr Syrer von der Aussetzung des Familiennachzuges betroffen waren, hätten diese Menschen “praktisch ihren Rechtsanspruch auf Familie” verloren, so Pro Asyl.

Hat Merkel ihre Entscheidung von 2015 je öffentlich bedauert?

Kanzlerin Merkel hat inzwischen eingeräumt, dass sie eine Mitschuld an der Flüchtlingskrise von 2015 trägt. Die Ursache dafür sah sie anders als ihre Kritiker aber nie in ihrer Entscheidung vom September 2015 - sondern in der Tatsache, dass sie sich viel zu spät um eine europäische Lösung des Flüchtlingsproblems gekümmert hatte.

Merkel war von Anfang an dagegen, Flüchtlinge an der deutschen Grenze zu stoppen. In Pressekonferenzen, Fernsehauftritten und Reden begründete sie mehrmals ihre Abneigung gegen Grenzschließungen vor allem mit dem Schutz der Menschen. Dabei standen Europa und dessen Zukunft stets in ihrem Fokus.

Das Merkel-Zitat, “Wir schaffen das”, wurde in der Folge immer wieder verkürzt wiedergegeben. Mitte September 2016, kurz vor der Wahl zum Abgeordnetenhaus von Berlin, distanzierte sich Merkel gegenüber der “Wirtschaftswoche” von dem Satz: Sie verstehe die Skepsis in der Bevölkerung. Der Satz sei “fast zu einer Leerformel geworden”, klagte sie. “Manch einer fühlt sich von ihm sogar provoziert.” Dabei sei er “anspornend, dezidiert anerkennend” gemeint gewesen. Er sei aber nicht ausreichend gewesen, um die Probleme zu beschreiben, die mit der Aufnahme der Flüchtlinge verbunden sind. Sie wolle ihn deshalb nicht mehr wiederholen.

Ihr Handeln von damals bedauert Merkel allerdings nicht: “Ich würde die wesentlichen Entscheidungen wieder so fällen”, sagte sie an diesem Freitag. Wenn Flüchtlinge wie damals an der Grenze stünden und auf Schutz hofften, “dann muss man sie als Menschen behandeln”.

Wie viel Geld hat die Integration den Staat seit 2015 gekostet?

Es gibt in Deutschland praktisch über jede Ausgabe des Staates genaue Statistiken – doch wenn der Bund, die 16 Bundesländer und die rund 11.000 Gemeinden sich Kosten teilen, wird es schwierig. So verhält es mit den “zuwanderungsbedingten Ausgaben” – vulgo: “Flüchtlingskosten”. Es gibt keine systematische Übersicht, welche Kosten bundesweit zwischen 2015 und heute tatsächlich angefallen sind, da jedes Land und jede Gemeinde anders zählt.

Nur für den Bund liegen genaue Daten von 2016 bis 2019 vor. Danach gab die Bundesregierung in dieser Zeit pro Jahr rund 20 Milliarden Euro für Flüchtlinge aus, insgesamt waren es in den vier Jahren 87,3 Milliarden Euro. Darin sind jedoch fast 30 Milliarden Euro für die Entwicklungshilfe im Rahmen der “Fluchtursachenbekämpfung” enthalten. Für die Aufnahme und Integration von Flüchtlingen im Inland wurden also vom Bund rund 60 Milliarden Euro ausgegeben. Die Hälfte dieser Summe zahlte er an Länder und Kommunen als Unterstützung.

Wie viel Länder und Kommunen zusätzlich aus den eigenen Kassen ausgegeben haben, ist unbekannt. In unterschiedlichen Berichten haben einige Länder angegeben, dass der Bund mit seiner Unterstützung lediglich ein Fünftel der tatsächlichen Ausgaben abgedeckt hat. Die 60 Milliarden Euro für die Zeit zwischen 2016 und 2019 sind daher eher als Untergrenze zu betrachten.