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Kühnert im Interview„Ich bemühe mich ehrlich darum, kein Arsch zu sein“

Lesezeit 21 Minuten
Kühnert dpa neu

Kevin Kühnert, Bundesvorsitzender der Jusos.

Berlin – Verzicht - dieses Thema prägt nicht nur die Fastenzeit, sondern insbesondere das Leben in Zeiten von Corona. In einem großen, persönlichen Interview spricht der stellvertretende SPD-Vorsitzende und Juso-Chef Kevin Kühnert darüber, ob sich gesellschaftlichen Einschränkungen gerecht organisieren lassen.

Herr Kühnert, wegen der Corona-Pandemie ist das öffentliche Leben in Deutschland weitgehend heruntergefahren. Welcher Verzicht fällt Ihnen am schwersten?

Kevin Kühnert: Als ich heute Morgen in den Spiegel geschaut habe, ist mir klar geworden: Es fällt mir schwer, auf den dringend notwendigen Frisörbesuch zu verzichten. Das ist nun wirklich ein kleines Opfer im Vergleich zu dem, was andere erdulden müssen.

Schon verrückt, dass sich nun alle während der Fastenzeit einschränken müssen und auf die Erlösung an Ostern hoffen, oder?

Ich bin nicht religiös, deswegen war mir diese Parallele noch gar nicht aufgefallen. Ich fürchte aber, so früh wie im christlichen Glauben wird unsere Erlösung jetzt nicht kommen. Die Dauer der religiösen Fastenzeit wird ja durch Traditionen bestimmt, während die Frage, wann wir alle zu unserem normalen Alltag zurückkehren können eine medizinische und politische ist. Aber immerhin wird unsere Erlösung dann eine irdische sein.

Wie lange kann die Gesellschaft diesen Zustand aushalten?

Ich bin sicher, dass wir als Gesellschaft manche Einschränkungen im Alltag lange durchhalten können. Entscheidend dafür ist, dass die Maßnahmen plausibel begründet und mit einer Perspektive verbunden sind. Wir müssen uns klarmachen: Die heutigen Einschränkungen sind die Voraussetzungen dafür, dass wir zu einem schnellstmöglichen Zeitpunkt unsere Freiheiten voll und ganz zurückerhalten können.

Aus Ihrer Sicht sollte man also auch die Debatte über mögliche Lockerungen führen, um den Menschen das Licht am Ende des Tunnels zu zeigen?

Ich finde den öffentlichen Diskurs dazu bisweilen seltsam – und oft voller Allgemeinplätze. Christian Lindner sagt, die Einschränkungen dürften nicht länger dauern als nötig. Es hat doch aber nie jemand etwas anderes behauptet. Wir sollten nicht so tun, als würde irgendeiner zum Spaß Kontaktbeschränkungen beschließen. Wir haben da alle keinen Bock drauf.

Und wie kommen wir aus der Situation wieder heraus?

Die Messlatte muss eine logische sein: Wir müssen zunächst bei den Infektionszahlen die Kurve kriegen, wir müssen diese Kurve noch weiter abflachen. Solange uns das nicht gelingt, sind Diskussionen über Lockerungen nur Trockenübungen. Und die erwecken den Eindruck, es sei nur eine Frage des politischen Willens, die Maßnahmen überflüssig zu machen. Christian Lindner versucht rhetorisch den Freiheitsbegriff für sich zu reklamieren – er hat dabei aber gar keinen Ansatz zu bieten, was er wirklich anders machen würde.

Die Menschen können im Moment nicht reisen. Übt die Gesellschaft durch Corona stellenweise einen Verzicht ein, der ohnehin notwendig ist, um das Klima zu retten?

Ich finde es schräg, wenn jetzt einige sagen: „Toll, da schlagen wir doch zwei Fliegen mit einer Klappe und erreichen ganz nebenbei die Klimaziele von Paris.“ So war die Diskussion über den Klimaschutz aber nie gemeint. Beim Klimaschutz gehören diejenigen in Verantwortung genommen, die das Klima über Gebühr belasten, also Leute, die beispielsweise zahlreiche Flugreisen im Jahr machen. Unter der Corona-Krise leiden aber besonders Menschen mit kleinen Einkommen und wenig Rücklagen, die – wenn überhaupt – mal eine Woche an die Ostsee fahren.

Lässt sich Verzicht überhaupt sozial gerecht organisieren?

Bei unfreiwilligem Verzicht, so wie im Moment, muss das das Ziel sein. In Normalzeiten geht es gar nicht um Verzicht für alle. Bleiben wir beim Urlaub: Die meisten machen ihren Urlaub ohnehin in Deutschland oder fahren vielleicht, wie ich, mit dem Zug zum Wandern nach Österreich. Die haben keine Einschränkung, wenn Kerosin nicht mehr subventioniert wird. Wenn Vielflieger mehr zahlen müssen, finde ich das sachgerecht. Es darf aber nicht der Eindruck entstehen, umweltverträgliches Verhalten bestünde darin, nur noch auf den nächsten Bauernhof oder generell gar nicht mehr in den Urlaub zu fahren. Solche Askese ist weder notwendig noch gesellschaftlich mehrheitsfähig und schon gar nicht ist sie sinnvoll.

Gibt es bereits jetzt eine Lehre, die wir aus der Corona-Krise ziehen können?

Das Offensichtliche hätte man schon vorher erkennen können. Die gnadenlose Durchökonomisierung unseres Gesundheitswesens hat dazu geführt, dass nicht mehr der einzelne Patient, sondern immer auch die dazugehörige Abrechnung im Mittelpunkt steht. Für eine Behandlung erhalten die Kliniken eine bestimmte Fallpauschale. Es ist für sie also erstrebenswert, die Betten schnell wieder freizumachen. Deshalb war im Zweifel Geld für Ärzte da, das Pflegepersonal aber wurde auf ein Minimum runtergefahren und zum bloßen Kostenfaktor degradiert. Die Folgen erleben wir nun.

Spüren Sie eine größere Bereitschaft zur Gemeinsamkeit in der Krise?

Ja – aber auch das Gegenteil. Man sieht Menschen, die Solidarität in der Nachbarschaft organisieren und für ältere Menschen einkaufen gehen. Man sieht Unternehmer, die freiwerdende Produktionskapazitäten nutzen, um Schutzkleidung herzustellen. Auf der anderen Seite beobachtet man erstaunt, wie Adidas mit Hilfe einer Gesetzeslücke Mietzahlungen zurückhalten wollte. Wir wissen, dass Leute in die Krankenhäuser rennen und dort Desinfektionsmittel klauen. In der Krise wird die komplette Palette von Charakterzügen sichtbar, die es in unserer Gesellschaft gibt.

Einige vertreten die Auffassung, die Gesellschaft könne sich in der Krise besonders gut weiterentwickeln.

Ich neige ausdrücklich nicht zu der Sicht, die Corona-Krise sei auch eine Chance – obwohl diese Meinung in meiner Twitter-Blase weit verbreitet ist. Das hat wohl mit der soziodemografischen Zusammensetzung der wenigen Millionen Twitter-Nutzer in Deutschland zu tun. Sie verdienen im Durchschnitt gut und haben deshalb eher großen Wohnraum. Mancher findet es dann vielleicht ganz gut, mal runterzufahren. Wer dagegen nicht weiß, was nach der Kurzarbeit kommt oder ob der eigene Kleinbetrieb überlebt, muss sich bei der Formulierung „Krise als Chance“ verhöhnt fühlen und findet wohl auch keinen Trost in einem Online-Yogaseminar.

Sie hatten ihrer Partei nach der Bundestagswahl geraten, auf den Eintritt in die GroKo zu verzichten. Sind Sie jetzt in der Krise nicht doch manchmal froh, dass Sozialdemokraten im Finanz-, Arbeits- und Wirtschaftsministerium sitzen?

Ich bin immer froh über Sozialdemokraten in Ministerien, schließlich kenne ich ja auch die Alternativen. Wir haben nicht gesagt, wir wollen nicht in die große Koalition, weil keine Sozis im Kabinett sitzen sollen.

Sie wollten die große Koalition nicht.

Diese Frage haben wir damals unter völlig anderen Voraussetzungen diskutiert. Ich war nie Anhänger der These, die SPD solle sich möglichst lang in der Opposition erholen und sich dabei auf einen Selbstfindungstrip begeben. Mein Eindruck war und ist aber, dass eine zu lange Periode von großen Koalitionen die Unterscheidbarkeit von politischen Parteien verwischen würde – zugunsten der Populisten. Jetzt, in einer niemals planbaren Krise, sind irrlichternde Kräfte wie die AfD abgemeldet, weil es allein darum geht, mit Empathie und gutem Regierungshandwerk Lösungen für Millionen Menschen zu schaffen. Dafür ackert die SPD – und das finde ich gut.

Machen Sie gerade Ihren Frieden mit der GroKo?

Eine Krisenzeit ist immer so besonders, dass sich schwerlich Rückschlüsse auf eine Normalzeit ziehen lassen. Ehrlicher Weise gab es ja auch wenig Normalzeit in den vergangenen Jahren. Auch wenn Corona gerade alles dominiert, wird wieder der Zeitpunkt kommen, wo es um Steuerpolitik, Migration und Klimaschutz geht. Dann haben wir die gleichen, alten Konflikte zwischen Union und SPD. Die sind nicht ansatzweise aus der Welt, sie sind nur in den Hintergrund gedrängt. Die Grundprobleme einer Dauer-Groko sind gegen Corona immun.

Es gibt Menschen in der SPD, die finden, Sie sollten am besten auf Träume wie den von der Kollektivierung von BMW und dem vom demokratischen Sozialismus verzichten.

Weder träume ich von Autos, noch von der Kollektivierung ihrer Hersteller – wohl aber von weniger Profitstreben und einem gerecht verteilten Wohlstand. Auch mein Tag besteht im Moment vor allem darin, auf ganz viele Einzelfälle und gesellschaftliche Schieflagen durch Corona mit Politik zu reagieren. Per Mail oder über Instagram, bei mir melden sich hunderte vor allem junger Menschen und suchen nach Lösungen für ihre persönlichen Corona-Notlagen. Dabei versuche ich zu helfen. Daneben organisieren Jusos bundesweit Einkäufe für ältere Mitbürger. Ich weiß, dass es vermutlich auch in 30 Jahren noch Menschen geben wird, die über mich sagen: „Das ist doch der Typ mit BMW.“ Damit kann ich leben. Mit meinem politischen Alltag hatte und hat das aber wenig zu tun.

Auch Gerhard Schröder war in jungen Jahren mal ein Kämpfer für andere Besitzverhältnisse in der Gesellschaft. Ist die Frage, wie scharf man das betrachtet, auch eine Altersfrage?

Nein. Dafür kenne ich genug Ältere innerhalb und außerhalb der SPD, die überhaupt nicht abgeneigt sind, auch grundsätzliche Fragen nach den Eigentumsverhältnissen in der Gesellschaft zu stellen. Und es gibt – wenn wir mit der unmittelbaren Bewältigung der Krise durch sind – auch in diesen Tagen viel Anlass dazu, das zu tun. Es ist doch eine berechtigte Frage, ob der Markt bei der Versorgung beispielsweise mit Atemschutzmasken gerade eine Glanzleistung abliefert. Meine Antwort ist nein. Mir scheint es einen Gedanken wert, die Versorgung mit sensiblen Materialien, die gerade in einer Krisensituation gebraucht werden, künftig unabhängiger von Marktmechanismen und globalen Lieferketten zu gestalten.

Vielleicht muss man auch einfach größere Vorräte solcher Produkte anlegen.

Das ist ohne Zweifel eine Notwendigkeit – aber es geht nicht nur um Artikel wie Atemschutzmasken. Eine Kernfrage ist, ob wir aus der massiven medizinischen Forschungsförderung durch den Staat nicht stärker den Anspruch ableiten müssen, in den Markt einzugreifen, zum Beispiel bei den im Schnitt sehr hohen Arzneimittelpreisen in Deutschland. Wir sollten bei der Versorgung mit einem neuen Impfstoff auch nicht vom Charakter und der moralischen Festigkeit eines einzelnen Unternehmers abhängen. Für mich heißt das ganz logisch: An bestimmten Unternehmen wäre der Staat besser beteiligt oder er schließt wasserdichte Verträge.

Sie haben politisch ehrgeizige inhaltliche Ziele. Können Sie darauf verzichten, irgendwann mal am Zaun des Kanzleramtes zu rütteln?

Ich kann mit solchen breitbeinigen Machtgesten nichts anfangen. Da stehe ich einfach nicht drauf, echt nicht. Ich verspüre kein Bedürfnis, am Zaun des Kanzleramtes zu rütteln. Das gibt eh nur Ärger mit dem Sicherheitsdienst.

Aber die Macht interessiert Sie schon?

Ich will nicht in Schönheit sterben. Ich habe ein hohes Parteiamt inne. Aber schon als Schüler im Politik-Unterricht habe ich gelernt: Es sind Regierungen und Parlamente, die konkrete Veränderungen umsetzen, nicht zuvorderst Parteien. Das ist in der jetzigen Krise besonders deutlich zu spüren. Mir ist klar, dass man dauerhafte gesellschaftliche Veränderung nicht auf dem SPD-Parteitag herbeiführen kann. Deshalb habe ich ja auch angekündigt, dass ich mich um eine Kandidatur für den Bundestag bewerben werde, auch wenn das alles im Moment richtigerweise weit weg ist.

Viele hätten ihnen gute Chancen ausgerechnet, SPD-Chef zu werden, wenn Sie angetreten wären. Haben Sie Ihren Verzicht je bereut?

Nein, ich habe mir das gut überlegt und bin mit mir im Reinen.

Sie wirkten im vergangenen Sommer so, als würde die Frage, ob Sie doch antreten, Sie regelrecht quälen. Warum war das so?

Quälen ist nicht das richtige Wort. Ich war damals eineinhalb Jahre Juso-Vorsitzender. Zu diesem Zeitpunkt stellt sich die Frage nach einer Kandidatur für den Parteivorsitz normaler Weise überhaupt nicht. Ich war nicht darauf vorbereitet, eine Antwort finden zu müssen. Unterm Strich haben mir einfach ganz viele Rahmenbedingungen gefehlt. Ein Beispiel: Ich hatte weder das über viele Jahre aufgebaute Umfeld, das man in einer solchen Situation für eine solche Kandidatur eigentlich braucht, noch hatte ich alle Kompetenzen, die ich selbst in einem so wichtigen Amt erwarten würde.

Das ging denen, die Sie unterstützt und die gewonnen haben – Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans – doch ganz genauso.

Es geht manchmal aber auch um ganz profane Dinge. Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans sind ein ganzes Stück lebensälter als ich. Dadurch gewinnt man Lebenserfahrung – aber vor allem Freiheit. Schauen Sie sich Walter-Borjans an: Der ist in dem Bewusstsein angetreten, dass er in der SPD eigentlich gar nichts mehr muss. Er hatte seine aktive politische Laufbahn nach seiner Zeit als Finanzminister in Nordrhein-Westfalen beendet. Er hatte große Lust, noch mal etwas zu machen. Aber er musste es nicht: weder für sich selbst noch in der Erwartung von anderen. Das ermöglicht es ihm, besonders frei aufzuspielen.

Holen Walter-Borjans und Esken vor wichtigen Entscheidungen Ihren Rat ein?

Wir holen wechselseitig Rat ein. Es gibt eine enge Abstimmung. Das gehört sich in einem Vorstand auch so – und ich pflege diesen Umgang nicht nur mit den beiden Vorsitzenden. Es ist eine große Errungenschaft dieser neuen Parteispitze, dass es mittlerweile eine sehr intensive Kommunikationskultur untereinander gibt.

Ihr politischer Terminkalender ist zurzeit durch den Shutdown freigeräumt wie lange nicht mehr. Ist das befreiend für Sie – oder doch eher seltsam?

Der Unterschied ist: Die Abende sind frei. Ganz ehrlich, das ist hart für mich. Ich kenne es gar nicht mehr anders, als immer abends unterwegs und wenig zuhause zu sein – außer an wenigen Feiertagen und im Urlaub. Da gibt es jetzt eine gewisse Leerstelle. Ich fange sozusagen an, abends meine eigenen vier Wände zu erkunden. Das ist mitunter überraschend. Jetzt erfahre ich mal, wo ich eigentlich seit vielen Jahren Mieter bin. Bis 20 Uhr sind die Tage aber relativ normal gefüllt – ich arbeite ja auch im Homeoffice.

Aber die Arbeit tagsüber ist doch auch anders als sonst, oder?

Das digitale Arbeiten von zu Hause aus fällt mir nicht schwer. Das machen wir bei den Jusos auch sonst schon, daher habe ich Erfahrung damit. Ich vermisse aber den persönlichen Kontakt. Von Angesicht zu Angesicht reden, Mimik und Gestik voll erfassen zu können und das Zwischenmenschliche auszutauschen, ist extrem wichtig. Nicht nur in der Politik. Das fehlt mir sehr. Das macht Politik auch ein bisschen anonym. Im Moment geht das und ist vertretbar, aber auf Dauer sollte das nicht so sein.

Was machen Sie abends? Ihr Lieblings-Hobby Sport können Sie ja auch nicht verfolgen.

Das stimmt. Für jemanden mit der Interessenkonstellation Politik und Sport ist es ein Horror im Moment. Ich habe angefangen, zu Hause auszumisten. Ich gehöre zu den Menschen, die über einen längeren Zeitraum umfängliche Papierstapel bilden: in der naiven Annahme, irgendwann würde man sich das schon noch einmal durchlesen. Da ist jetzt Generalinventur angesagt.

Hat sich Ihr WG-Leben durch den Shutdown geändert? Lernen Sie die anderen jetzt wirklich mal kennen?

Wir werden auch jetzt nicht zu einer WG mit fest terminierten Spieleabenden pro Woche. Das ist bei uns nicht die Grundlage des Zusammenlebens. Aber wir haben – nachdem wir es uns ewig vorgenommen hatten – jetzt endlich mal eine Spülmaschine angeschafft und angeschlossen. Das macht das Leben in dieser Zeit um ein gigantisches Maß angenehmer.

Wie organisieren Sie den WG-Einkauf? Gehen Sie auch auf Klopapier-Jagd?

Bei Klopapier galt anfangs die Regel: Wenn jemand etwas sieht, wird es auf Verdacht gekauft. Mittlerweile sind wir versorgt und hamstern selbstverständlich nicht.

Kaufen Sie größere Nudelvorräte für den Fall einer Quarantäne?

Nein. Meine Form der Vorratshaltung sieht so aus: Außerhalb von Zeiten des Social Distancing bin ich ja auf sehr vielen Veranstaltungen. Da gibt es oft als Geste ein kleines Gastgeschenk am Ende. Ich habe also einen umfassenden Vorrat an Weinflaschen, regionalen Kräuterschnäpsen und Wurstspezialitäten – als Spätfolge der bayerischen Kommunalwahlen zurzeit vor allem aus dem süddeutschen Raum.

Gibt es etwas, was Sie sich jetzt ganz bewusst gönnen – gegen die schlechte Laune?

Nein. So bin ich als Mensch nicht strukturiert. Schokoladeessen für die gute Laune ist nicht meins.

Wie pflegen Sie Freundschaften in Zeiten des Social Distancing?

Abends gibt es viel Videotelefonie. Bei Leuten, mit denen ich sonst abends mal in der Kneipe sitzen würde, hat es sich etabliert, dass wir uns zu Hause ein Bier aufmachen und den Stammtisch auf die digitale Ebene verschieben. Auch hier gilt gesellschaftlich leider: Für manch einen scheitern solche Lösungen schon an der Datenflatrate. Die Krise wirkt sich eben nicht für jeden gleich aus.

Wie halten Sie Kontakt zu Ihren Großeltern?

Ich habe glücklicherweise noch alle vier Großeltern, sie sind alle so um die 80 Jahre herum alt. In den vergangenen Wochen war es auch zum ersten Mal so, dass Geburtstagsfeiern nicht stattfinden konnten. Das ist für alle keine einfache Situation. Wenn wir darüber reden, dass das öffentliche Leben irgendwann wieder hochgefahren wird, ist klar: Für die Risikogruppen bleibt das mit Gefahren verbunden. Denn für sie ist der entscheidende Punkt, ob es einen Impfstoff oder sehr gute Medikamente gibt.

Das kann lange dauern.

Ja, und das ist für viele Menschen mit Blick auf die Großeltern bedrückend. Es kann darauf hinauslaufen, sich über viele Monate hinweg gar nicht persönlich zu sehen. Man kann es ja aussprechen: Es geht um eine Altersgruppe, in der es manchmal nicht so unerheblich ist, ob man sich noch eine Woche früher oder später treffen kann.

Wer ist der erste Mensch, mit dem Sie sich auf ein Bier treffen werden, wenn Sie wieder dürfen?

Das ist nicht ein konkreter Mensch. Ich freue mich sehr auf meine Stammkneipe. Da werde ich mich mit mehreren Leuten am erstmöglichen Abend verabreden. Die Voraussetzung ist aber, dass es die Stammkneipe nach der Corona-Krise noch gibt. Ich habe gerade mit Freunden im kleinen Kreis eine private Kneipenrettungsinitiative gestartet. Es gibt viele Rettungsinitiativen für kulturelle Einrichtungen oder auch Clubs und Bars, die über ein eher gutverdienendes und gut vernetztes Publikum verfügen. Ich will nicht zu pathetisch werden: Aber die Berliner Eckkneipe ist da in besonderer Gefahr. Wer seine Kneipe schätzt, der sollte in diesen Tagen mal nachfragen, wie er helfen kann.

Warum ist Ihnen gerade an der Eckkneipe so gelegen?

In der Eckkneipe kommen oftmals noch Menschen aus unterschiedlichen sozialen Schichten zusammen und tauschen sich aus. Das macht sie zu einem Kulturgut, das sich nicht durch die 350. Cocktailbar ersetzen lässt. Deshalb sagen wir: Wir müssen die Berliner Eckkneipe retten. Dazu basteln wir an einer Online-Plattform , auf der jeder für seine jeweilige Stammkneipe Geld sammeln kann.

Die staatlichen Rettungsschirme helfen den Kneipen aus Ihrer Sicht nicht?

Kreditangebote – auch staatliche – sind in der Gastronomie nur bedingt des Rätsels Lösung. Das Bier, das heute keiner trinkt, wird ja in zwei Monaten nicht doppelt und dreifach getrunken. Das Ziel ist, dass die, die es können, wenn sie abends zu Hause ein preiswerteres Supermarkt-Bier trinken, auch einen Euro für ihre Kneipe spenden – damit sie überleben kann.

Stichwort: sich auf ein Bier treffen. Wenn Sigmar Gabriel Sie – wenn das Social Distancing irgendwann vorbei ist – mal auf ein Bier treffen wollte, wären Sie dabei?

Klar. Warum nicht?

Gabriel hat Ihnen öffentlich nahegelegt, Sie sollten doch erst mal ein paar Jahre arbeiten gehen, bevor sie ein wichtiges Amt in der Partei ausüben. Würden Sie Welt anders sehen, wenn Sie eine Ausbildung oder Ihr Studium schon abgeschlossen hätten?

Alles, was Menschen machen, führt zu Erfahrungen. Und diese Erfahrung prägt diesen Menschen danach. Ich habe in den 30 Jahren meines Lebens meine eigenen Erfahrungen gesammelt. Ich habe ja nicht die Zeit dafür genutzt, bis 16 Uhr im Bett zu liegen und danach ein paar Netflix-Serien zu gucken. Und ich hab auch nicht, wie sich das manche vorstellen, die ganze Zeit im Juso-Stuhlkreis gesessen und Marx von hinten nach vorn gelernt.

Schade, wir wollten Sie gerade abfragen.

Ich habe immer gearbeitet, seit ich arbeiten konnte – und das in völlig unterschiedlichen Bereichen. Auch das Ehrenamt habe ich in unterschiedlichsten Formen erlebt, nicht nur in der Politik. Ich war Jugendwart im Handballverein und ehrenamtlicher Aufsichtsrat eines Fußballvereins, den wir erfolgreich vor dem finanziellen Ruin bewahrt haben. Heute führe ich einen Jugendverband mit 80 000 Mitgliedern. Diese und andere Erfahrungen haben mich geprägt, so wie andere ihr Studium geprägt hat.

Gabriel redet also Unsinn?

Ich finde es wichtig, dass es in der Politik eine Mischung von Erfahrungen und Hintergründen gibt. Aber das scheint mir eher eine kollektive Anforderung zu sein – die kann ich nicht allein erfüllen. Ich finde es daneben, wenn inhaltliche Unterschiede insbesondere gegenüber Jüngeren in den Vorwurf umgemünzt werden, ihnen fehle bloß die Erfahrung.

Können Sie es verstehen, wenn ein langjähriger Spitzenpolitiker wie Gabriel unter dem Machtverlust leidet und auf diese Weise weiter beharrlich die Öffentlichkeit sucht?

Ich kenne Sigmar Gabriel nicht gut genug, um seine Motivation bewerten zu können. Ich glaube aber, dass er mit seiner politischen Biografie genug Möglichkeiten hat, auch nach seiner aktiven Zeit in der Politik in der Öffentlichkeit gehört zu werden – kriegt er ja auch ganz gut hin. Wir müssen uns um ihn keine Sorgen machen.

Gabriel wurde von Außenminister zum Hinterbänkler, mittlerweile hat er sich aus dem Bundestag zurückgezogen. Ihre Machtperspektiven – Bundestagskandidatur, vielleicht auch irgendwann der Parteivorsitz – liegen noch vor Ihnen. Würde Ihnen der Verzicht schwerfallen, wenn sich von einem Tag auf den anderen alles ändern würde?

Demokratische Macht ist ja immer mit Gestaltungsmöglichkeiten verbunden. Ein solcher Verlust würde den meisten schwerfallen, sicherlich auch mir. Ein Faktor dabei ist ehrlicher Weise auch: Nach einem selbst übernehmen die Aufgaben andere. Es liegt in der Natur der Sache, dass die wenigsten Nachfolger haben, von denen Sie sagen: „Die machen das viel besser als ich.“ Oft sieht man Menschen bei der vormals eigenen Arbeit und denkt: „Das hätte ich aber anders gemacht.“ Das gibt“s in jedem Familienbetrieb und das finde ich erst mal total gesund und normal.

Das klingt so, als hätten Sie damit Erfahrung.

Auch ich habe schon politische Ämter abgegeben – meist im Tausch gegen höhere politische Ämter. Trotzdem hat man selbst da das Gefühl, eine Einflusssphäre zu verlieren. Als ich nicht mehr Juso-Vorsitzender in Berlin war und stattdessen in den Juso-Bundesvorstand gewechselt bin, war das gewöhnungsbedürftig. Andere haben Abläufe bestimmt, die vorher maßgeblich von einem selbst geprägt wurden. Man muss kein Kontrollfreak sein, um dabei ein Stück weit ein komisches Gefühl zu haben. Das ist kein Sigmar-Gabriel-Effekt, sondern ein menschlicher Effekt.

Sie besitzen eine Dauerkarte für Arminia Bielefeld, zu ihren Hobbys gehört das Groundhopping. Dabei geht es darum, Spiele in vielen unterschiedlichen Stadien zu sehen. Sind Fußballzuschauer im Stadion wegen Corona notfalls auch ein Jahr lang verzichtbar? Oder geht der Fußball dabei kaputt?

Ich mache mir keine Illusionen: Wenn die Ansteckungskurve bei Corona sich nicht so abflachen lässt, wie wir hoffen, und wenn die Entwicklung von Impfstoffen und Medikamenten zu lange dauert, dann kann es so kommen. Ein Jahr lang nicht im Stadion – das täte mir und Millionen Fans wirklich weh. Aber ich würde es akzeptieren, weil die Gesundheit von Menschen wichtiger ist.

Denken Sie, das werden alle Fans akzeptieren?

Auch für jemanden, für den Fußball, Handball oder Eishockey ein zentraler Bestandteil des eigenen Lebens ist, muss eins klar sein: Dass Schulen öffnen oder Orte für den Breitensport wieder genutzt werden können, kommt auf der Prioritätenliste deutlich vor Bundesligaspielen mit 60.000 Menschen im Stadion.

Sie machen sich also keine existenziellen Sorgen um den FC Bayern München, einen Verein, dem Sie als Fan zugetan sind?

Ich mache mir sicher keine Sorgen, ob auch in Zukunft noch so hohe Gehalts- und Ablösesummen gezahlt werden können, weil das für meine Perspektive als Fan unerheblich ist. Klar ist aber: Für die Clubs ist wichtig, dass die Saison nach Möglichkeit zu Ende gespielt werden kann, damit die Fernsehgelder fließen. Bayern München und Borussia Dortmund würden den Ausfall überleben. Viele werden es kaum glauben, aber die kleineren Bundesligisten oder auch Zweitligisten könnten wegen laufender Verträge und Kreditrückzahlungen schnell am Abgrund stehen. Auch in den unteren Ligen drohen wegen wegfallender Einnahmen Vereine vor die Hunde zu gehen. Das können wir nicht wollen und hier ist auch Solidarität zwischen den Clubs gefragt.

Zum Fußball wie zur Politik gehört das Revanchefoul. Fällt es Ihnen schwer, auch mal auf eine Gemeinheit zu verzichten, wenn sie sich anbietet?

Ich denke, ich habe genügend Anstand, um zwischen Humor und Gehässigkeit zu unterscheiden. Das bekomme ich, glaube ich, auch ganz gut hin. Ich bemühe mich ehrlich darum, kein Arsch zu sein.

Worauf würden Sie gern verzichten, schaffen es aber einfach nicht?

(überlegt lange) Ich habe bei der Antwort zwischen Rauchen und Alkohol trinken geschwankt. Ich würde gern darauf verzichten, Alkohol zu trinken.

Warum nicht umgekehrt?

Ich unterstütze ohne Wenn und Aber alle Restriktionen für den Nichtraucherschutz. Daher weiß ich aber auch: Rauchen ist eine sehr unbequeme Sache geworden. Dass ich es trotzdem immer noch mache, zeigt mir wohl: Ich möchte das tatsächlich. Alkohol wird einem in unserer Gesellschaft wie selbstverständlich überall angeboten. Dabei müsste das gar nicht sein. Auch in der Partei ist es ja so, dass bei einer Veranstaltung sich viele darauf freuen, hinterher in der Kneipe noch ein Bier zu trinken. Unsere Gesellschaft verbindet Geselligkeit, aber auch die Verdrängung der Härten des Alltags sehr stark mit Alkohol. Mir würde wenig fehlen, wenn wir dafür andere Strategien fänden.

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Wozu wollen Sie dann Ihre Stammkneipe retten?

Ich gehe in erster Linie nicht wegen des Biers in die Kneipe. Bier gibt es ja auch außerhalb der Kneipe an jeder Straßenecke. Ich gehe wegen der Menschen in die Kneipe. Auch weil man da Leute trifft, die nicht auf Twitter oder im Vorstand des SPD-Ortsvereins sind.

Und was ist mit dem Bier zum Fußballspiel?

Zum Fußballspiel brauche ich eine Zigarette deutlich mehr als das Bier.

Das Interview führten Tobias Peter und Andreas Niesmann.