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Friedensnobelpreisträgerin im Interview„Mit Hitler war kein Frieden möglich, warum sollte es mit Putin klappen?“

Lesezeit 9 Minuten
Die Ukrainerin und Friedensnobelpreisträgerin Olexandra Matwijtschuk.

Die Ukrainerin und Friedensnobelpreisträgerin Olexandra Matwijtschuk.

Oleksandra Matwijtschuk spricht im Interview darüber, wie erschöpft die Menschen in der Ukraine sind und warum Friedensverhandlungen für sie keine Option sind.

Vor einem Jahr bekam die Menschenrechtlerin Oleksandra Matwijtschuk den Friedensnobelpreis überreicht. Im Interview spricht sie darüber, was sich seitdem verändert hat, wie erschöpft die Menschen in der Ukraine sind und warum Friedensverhandlungen für sie keine Option sind.

Es ist jetzt ein Jahr her, dass Sie den Friedensnobelpreis für das Centre for Civil Liberties entgegengenommen haben. Hat sich dadurch vieles verändert?

Ehrlich gesagt war die größte Veränderung in meinem Leben Russlands groß angelegte Invasion. Dieser Krieg bedeutet, dass man alles verliert, was man als selbstverständlich ansah und als normales Leben bezeichnet, dass man in völliger Ungewissheit lebt und sich ständig Sorgen um seine Angehörigen macht. Aber der Friedensnobelpreis hat tatsächlich eine sehr große Veränderung meiner Arbeit bewirkt. Jahrzehntelang waren die Stimmen der Menschenrechtler aus der Ukraine ungehört verhallt. Sicher, es gibt spezielle Plattformen wie den UN-Menschenrechtsausschuss, aber in den Räumen, in denen politische Entscheidungen getroffen werden, wurden wir nicht gehört. Es ist wichtig, dass Politiker ihre Entscheidungen nicht nur nach wirtschaftlichen Vorteilen, Sicherheitsfragen oder geopolitischen Interessen treffen, sondern auch nach Menschenrechtskriterien. Der Friedensnobelpreis hat uns die Möglichkeit gegeben, unserer Stimme mehr Gehör zu verschaffen.

Der zweite Kriegswinter in der Ukraine

Im Moment erleben wir in der Ukraine den zweiten Kriegswinter seit dem Großangriff im Februar 2022. Wie gehen die Menschen damit um?

Wir erleben gerade, dass Russland wie im letzten Jahr versucht, die Energieinfrastruktur der Ukraine zu zerstören. Letzten Winter war ich in meiner Wohnung ohne heißes Wasser, ohne Strom, ohne Internetverbindung, und dann ist auch noch das Mobilfunknetz wegen der russischen Luftangriffe zusammengebrochen. Das sind Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Es ist schwer, gegen einen Gegner zu kämpfen, der das humanitäre Völkerrecht mit Füßen tritt. Russland setzt in seiner Kriegsführung gezielt Kriegsverbrechen ein. Auf diese Weise versucht das russische Regime den Widerstand der Bevölkerung zu brechen und unser Land zu besetzen. Diese Taktik zielt darauf ab, der Zivilbevölkerung Schmerzen zuzufügen, und es ist schwer, so lange und vor allem im Winter unter diesen ständigen Schmerzen zu leben. Aber wir haben keine andere Wahl. Ich bin sicher, dass wir überleben werden, wenn wir uns gegenseitig helfen.

Viele Menschen sind nach Jahren des Krieges erschöpft. Wie erleben Sie die Situation?

Ja, es ist anstrengend und zermürbend, aber Krieg ist nie bequem. Wir haben uns diesen Krieg nicht ausgesucht. Russland ist im Februar 2014 in die Ukraine einmarschiert, und wir leben seit neun Jahren im Kriegszustand. Wenn wir nicht begriffen hätten, dass es in diesem Krieg um unsere Existenz, unsere Werte und unser Recht auf Freiheit geht, würden wir nicht weiterkämpfen. Putin hat ganz offen gesagt, dass keine ukrainische Nation, keine ukrainische Sprache und keine ukrainische Kultur existiert. Die Propagandisten im russischen Fernsehen interpretieren diese Aussage so: Die Ukrainer müssen entweder zu Russen umerzogen oder getötet werden. Das ist kein Spuk im Fernsehen. Wir Menschenrechtsaktivisten beobachten, wie diesen Worten Taten folgen: Russische Soldaten verschleppen ukrainische Kinder gewaltsam nach Russland, um sie zu putintreuen Russen zu machen, die russischen Besatzer verbieten die ukrainische Sprachkultur und zerstören ukrainische Kulturgüter. Wenn wir aufhören zu kämpfen, ist das unser Todesurteil.

„Besatzung bedeutet Folter und sexuelle Gewalt“

Glauben Sie, dass Menschen außerhalb der Ukraine verstehen, was es bedeutet, unter russischer Besatzung zu leben?

Nein, viele denken, es gehe nur darum, eine Staatsflagge durch eine andere zu ersetzen. Aber die russische Besatzung ist eine Form des Krieges. Besatzung bedeutet Folter und sexuelle Gewalt, Menschen verschwinden spurlos, viele verleugnen aus Angst ihre eigene Identität, Eltern werden ihre Kinder weggenommen und zur Zwangsadoption weggebracht, es gibt Massengräber und Konzentrationslager. Wenn westliche Politiker die Ukraine zu einem Kompromiss mit Putin drängen, bei dem die Ukraine einen Teil ihres Territoriums aufgeben soll, um Russlands imperialistische Gier zu befriedigen, dann überlassen sie die ukrainische Bevölkerung in diesen Gebieten der russischen Folter und dem Tod. Viele Politiker sprechen nur von einem Kompromiss mit Putin, erklären ihren Wählern aber nicht, welche Folgen das hat.

Tatsächlich wurden in den letzten Wochen immer wieder Rufe nach einem Waffenstillstand laut.

Das ist Wunschdenken. Manche Politiker haben die Realität immer noch nicht akzeptiert. Putin will keinen Frieden. Putin will seine geopolitischen Ziele durchsetzen. Er hat seine Ziele 2007 in einer Rede in München dargelegt, doch niemand hat ihm geglaubt. Dann hat Putin begonnen, seine Ziele umzusetzen. Wir haben es mit einem Russland zu tun, das jahrzehntelang Krieg und Kriegsverbrechen eingesetzt hat, um seine geopolitischen Interessen durchzusetzen. Russland ist nie bestraft worden. Warum glauben westliche Politiker, sie könnten Putin zum Einlenken bewegen, indem sie einfach Friedensverhandlungen fordern? Mit Hitler war kein Frieden möglich, warum sollte es mit Putin klappen?

Russland investiert 40 Prozent des Haushalts in das Militär

Sind Verhandlungen mit Putin auch in der fernen Zukunft nicht möglich?

Das hängt davon ab, in welchem Zustand sich Russland dann befindet. Das Problem ist, dass Russland immer noch sehr zuversichtlich ist, einen langen Krieg zu gewinnen. Russland will 40 Prozent seines Haushalts für das Militär ausgeben, und das ist nur die offizielle Summe. Wir kennen den wahren Umfang der Investitionen in die Armee nicht. Der Kreml unternimmt große Anstrengungen, um die russische Gesellschaft in eine Militärgesellschaft zu verwandeln. Das ist nicht nur Putins Krieg, es ist ein Krieg von ganz Russland. Es gibt eine imperialistische Kultur in Russland, Kriegsverbrechen in verschiedenen Ländern zu verüben ist gängige Praxis der Russen, und sie sehen ihren Erfolg darin, das russische Imperium mit Gewalt wiederherzustellen. Putin ist bereit, jeden Preis zu zahlen, um sein Ziel zu erreichen.

Das Center for Civil Liberties hilft bei der Untersuchung von Kriegsverbrechen in der Ukraine. Wie viele haben Sie bereits dokumentieren können?

Als Russlands Angriff begann, haben wir ein Netzwerk an Dokumentatoren für die gesamte Ukraine aufgebaut. Jetzt haben wir mehr als 57.000 Fälle von Kriegsverbrechen in unserer Datenbank „Gemeinsames Tribunal für Putin“. Wir dokumentieren schon seit 2014 Fälle, als der Krieg auf der Krim, in Luhansk und in der Region Donezk begann. Die Zahl der Fälle vervielfacht sich nun für das gesamte Land. Wenn wir Putin nicht in der Ukraine stoppen, wird er sich das nächste Land vornehmen und die Gräueltaten werden sich auch dortvervielfachen.

Matwijtschuk fordert auch Gerechtigkeit für Menschen in Syrien, Libyen und anderen Kriegsländern

Wie gehen Sie mit so vielen Gräueltaten um?

Auf diese Frage gibt es keine einfache Antwort. Wir sind alle Menschen, und es ist sehr belastend, so viel menschliches Leid zu dokumentieren. Was mir Kraft gibt, ist das Ziel, den Opfern dieses Krieges Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Diesmal haben wir die historische Chance, das zu schaffen, und das ist eine sehr große Verantwortung. Wir wollen auch Gerechtigkeit für die Menschen, die zuvor unter russischen Kriegsverbrechen gelitten haben, wie in Syrien, Libyen, Mali, Moldau und Georgien. Kraft gibt mir auch die Erfahrung, dass viele Menschen in diesem Krieg Verantwortung für ihre Mitmenschen übernommen haben. Sie haben Bekannte aus ihren zerstörten Häusern geholt, unter Artilleriebeschuss Erste Hilfe geleistet oder Verwundete in Kellern ohne Heizung und Strom operiert. Das hat mir gezeigt, wie stark wir sind und dass wir überleben, egal, was passiert.

Tut die Welt genug, um Russlands Kriegsverbrechen zu verfolgen?

Seit Beginn des Krieges haben wir festgestellt, dass es eine Lücke im Völkerrecht gibt. Es gibt keinen internationalen Gerichtshof, der Putin, die oberste politische Führung und die oberste militärische Führung wegen des Verbrechens der Aggression anklagen könnte. Juristen, Diplomaten und einige Politiker sagen, dass wir jetzt ein Sondertribunal schaffen müssen, um Putin, Lukaschenko und ihre Entourage vor Gericht zu stellen. Doch so weit sind wir noch nicht. Es ist noch nicht entschieden, in welcher Form ein solches Tribunal geschaffen werden muss, um wirklich handlungsfähig zu sein.

Konfliktherde auf der Welt sind ein „Alarmsignal“

Die Hilfe aus dem Westen ist in letzter Zeit zurückgegangen. Was bedeutet es für die Menschen in der Ukraine, wenn der Westen der Hilfe müde wird?

Ich glaube nicht, dass der Westen wirklich müde wird. Wie können die Menschen müde werden, wenn sie nicht im Krieg sind, nicht unter russischem Raketenbeschuss ihre Häuser verlassen müssen und jeden Moment von Russland getötet werden können? In den westlichen Hauptstädten herrscht ein anderes Gefühl als hier in der Ukraine. Der Westen versucht, hinter dem Wort „Müdigkeit“ das eigentliche Problem zu verschleiern, nämlich die mangelnde Bereitschaft, der Ukraine zu helfen, den Krieg zu gewinnen. Die Ukraine hat über ein Jahr auf den ersten modernen Panzer gewartet, wir haben immer noch keine modernen Flugzeuge und mussten eine Gegenoffensive starten, ohne den Luftraum sichern zu können. Russland bekam Munition aus Nordkorea, und wir bekamen nicht genug Munition vom Westen. Wenn die autokratischen Länder sich gegenseitig helfen, warum sind die Demokratien nicht mindestens genauso entschlossen? Der Westen sagt, er unterstützt uns so lange wie nötig. Wir wollen aber keinen langen Krieg. Wir müssen das Konzept von „Wir wollen der Ukraine helfen, nicht zu verlieren“ ändern in „Wir wollen der Ukraine helfen zu gewinnen“.

Derzeit ist ein schnelles Ende des Krieges aber nicht in Sicht. Mit welchen Hoffnungen blicken Sie in die Zukunft?

Ich wünsche uns Menschen, die Verantwortung zu übernehmen für das, was auf unserem Planeten geschieht. Vom Iran über den Nahen Osten bis in die Ukraine und überall auf der Welt. Diese Konfliktherde sind ein Alarmsignal, dass sich unsere Welt verändert, und zwar nicht zum Besseren. Die internationale Ordnung, die Frieden und Sicherheit garantiert hat, ist aus den Fugen geraten. Die Menschen in den hoch entwickelten Demokratien leben in der Illusion, dass ihre Menschenrechte und ihre Sicherheit vom Völkerrecht abhängen. Der Krieg gegen die Ukraine hat diesen Glauben erschüttert. Wenn wir nichts gegen diese Missstände tun, werden Menschen wie Putin das Sagen haben. Aber ich bin Optimistin und glaube, dass wir noch eine Chance haben.

Wie wird das Weihnachtsfest dieses Jahr in der Ukraine werden?

Es wird ein sehr ungewöhnliches Weihnachten. Wahrscheinlich werden die Russen am Weihnachtstag Hunderte und Aberhunderte von Raketen abfeuern, und wir werden den Feiertag im Luftschutzkeller verbringen. Weihnachten bedeutet für viele, den Heiligen Abend ohne ihre Lieben zu verbringen – aus den unterschiedlichsten Gründen. Weil Angehörige in der ukrainischen Armee dienen oder weil Familienmitglieder aus der Ukraine geflohen sind. Viele werden daran denken, dass wir eigentlich so zusammenleben wollen wie früher. Selbst die pessimistischsten Menschen erlauben sich zu Weihnachten, auf eine Ukraine in Frieden zu hoffen. Auch wenn die Zukunft ungewiss ist, leben wir weiter von der Hoffnung auf Frieden.

Die Russen wollen uns unsere Freude und unsere Liebe nehmen, und alles, wofür wir leben. Aber das werden wir nicht zulassen. Trotz möglicher Luftangriffe bin ich sicher, es wird ein Weihnachten der Freude und der Liebe.