Benedikt XVI. war ein hochgebildeter Konservativer – doch er steht auch stellvertretend für den moralischen Niedergang der katholischen Kirche.
Ein NachrufDer unverstandene Papst – Benedikt XVI. ist tot
Er selbst hat einmal ganz genau benannt, was er von der Welt erhoffte. Das war im Vorwort seiner Jesus-Biografie, die 2007 erschien, als er noch amtierender Papst war. Er bitte allein „um jenen Vorschuss an Sympathie, ohne den es kein Verstehen gibt“, schrieb er da in seinem gradlinigen Deutsch, das sich so sehr vom gewundenen Theologenjargon vieler seiner Kollegen unterschied.
In dem bescheidenen Wunsch schwang wohl schon die Ahnung mit, dass vieles an seinem Denken seinen Zeitgenossen unverständlich und fremd bleiben würde. In welchem Maße Benedikt XVI. jedoch noch nach seinem spektakulären Rücktritt vom Papstamt Anfang 2013 zur Personifikation des Niedergangs seiner Kirche werden würde, war da noch nicht abzusehen. Jetzt ist der Theologe im Alter von 95 Jahren gestorben. Am Mittwochmorgen rief sein Nachfolger Franziskus die Gläubigen noch zum Gebet auf. „Denkt an ihn, er ist sehr krank. Und bittet den Herrn, ihn zu trösten und zu unterstützen in diesem Zeugnis der Liebe zur Kirche, bis zum Ende.“
Persönliche Verantwortung übernahm er nicht
Schon bald, nachdem mit seinem Nachfolger Franziskus ein anderer, unkonventioneller Stil im Vatikan eingezogen war, fühlte es sich für viele katholische Gläubige so an, als gehöre das Pontifikat des ätherisch-vergeistigten Benedikt, des konservativen Deutschen, einer sehr fernen Vergangenheit an.
Seine eigene Vergangenheit holte den hochbetagten Theologen dann Anfang 2022 ein. Im Zuge der Aufarbeitung des Missbrauchsskandals warfen ihm Gutachter eklatantes Fehlverhalten in seiner Zeit als Münchener Erzbischof vor. Er selbst verstrickte sich in Widersprüche; behauptete, bei einer entscheidenden Sitzung nicht dabei gewesen zu sein, korrigierte sich erst, als Experten ihn der Lüge beschuldigt hatten.
Ausgerechnet der sittenstrenge Benedikt tat sich schwer damit, ein Mea culpa zu sprechen. Persönliche Verantwortung übernahm er nicht, Kritiker monierten, er bagatellisiere die Missbrauchstaten noch nachträglich, das Image seiner Kirche sei ihm wichtiger als Gerechtigkeit für die Opfer. So steht Benedikt in unfreiwilliger Symbolik heute auch stellvertretend für den moralischen Ansehensverlust der katholischen Kirche.
Dabei hat Benedikt, geboren als Gendarmensohn Joseph Ratzinger im bayerischen Marktl am Inn, durchaus jenen Vorschuss an Sympathie bekommen, auf den er hoffte. Kurz nach seiner Papstwahl im Jahr 2005 kehrte der langjährige Präfekt der Glaubenskongregation heim in sein „liebes Vaterland Deutschland“ – und er wurde beim Weltjugendtag in Köln von einer Million Pilger bejubelt. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte druckte die „Bravo“ das „XXL-Megaposter“ eines älteren Theologen. Für einen Moment begegneten sich Prof. Ratzinger und Dr. Sommer auf Augenhöhe.
Sympathievorschuss war schnell aufgezehrt
Das Feuilleton entdeckte den intellektuellen Genuss, seine „Einführung in das Christentum“ von 1968 zu lesen. An der Spitze der Kirche stand plötzlich ein großer, gediegener Intellektueller. Ein Gelehrter, der es schon zum Mitglied der ehrwürdigen Académie française gebracht hatte, ehe er dann auch noch Papst wurde, und wir mit ihm.
Der Vorschuss an Sympathie war jedoch bald aufgezehrt: Anders als sein charismatischer Vorgänger Johannes Paul II. oder als der volksnahe Franziskus blieb der eher schüchterne Geistesmensch bei Massenauftritten zurückhaltend; mit seinen Botschaften drang der Professorenpapst nur schwer durch. Überhaupt wurden Benedikt XVI. und die moderne Welt nie so recht warm miteinander.
Es haperte schon an der Kommunikation. Seine Rhetorik war ja noch ganz an der Streitkultur des Thomas von Aquin geschult. In der Welt der mittelalterlichen Gelehrten galt, dass in Disputen jeder seinen eigenen Standpunkt erst dann vertreten durfte, wenn er zuvor den Standpunkt seiner Gegner wiedergegeben hatte – und zwar möglichst besser, als diese selbst es vermochten. Benedikt hat sich immer daran gehalten. Kritik an kirchlicher Sexualmoral oder am Zölibat hat er in seinen Schriften eleganter formuliert als die meisten seiner Kontrahenten – freilich, um dann eine ganz andere Position zu beziehen.
Pannen und Missverständnisse
Sinn für griffige Slogans jedoch, für Fünf-Sekunden-Statements, hatte er nicht. Seine sperrigen Denkfiguren waren schwer vermittelbar in TV-Berichten oder Talkshows, die ja nicht auf Erkenntnisgewinn aus sind, sondern auf den Austausch argumentativer Visitenkarten. Thomas von Aquin hätte bei Anne Will auch keinen Stich bekommen.
Dazu kam, dass die acht Jahre seines Pontifikats von Pannen und Missverständnissen überschattet waren: In seiner „Regensburger Rede“ beispielsweise sprach er 2006 so frei, wie er das als Professor an seiner früheren Universität gewohnt war – und entfachte mit einem islamkritischen Zitat, das Hassprediger aus dem Zusammenhang reißen konnten, Krawalle in der muslimischen Welt.
Drei Jahre darauf wollte der Papst aus dem Lande Luthers eine Kirchenspaltung beenden. Er hob die Exkommunikation erzkonservativer Bischöfe der abtrünnigen Piusbruderschaft auf – und übersah, dass einer von diesen längst als Holocaust-Leugner bekannt war: „Ich höre, daß aufmerksames Verfolgen der im Internet zugänglichen Nachrichten es ermöglicht hätte, rechtzeitig von dem Problem Kenntnis zu erhalten“, formulierte er später in rührender Hilflosigkeit.
Es hat eine gewisse Ironie, dass ausgerechnet der Traditionshüter Benedikt am Ende, als seine Kräfte schwanden, eine bahnbrechende Neuerung ins Werk setzte: Mit seinem Rücktritt, dem ersten eines Papstes seit 1294, deutete er das eigene Amt radikal um. Er entmystifizierte es – um den Preis, dass Päpste künftig bei Skandalen oder Misserfolgen wohl wie gewöhnliche Politiker Rücktrittsforderungen aushalten müssen. Ein öffentliches Martyrium wie das des todkranken Johannes Paul II. ist kaum noch denkbar.
Ein Geistmensch, kein Machtmensch
Der Amtsverzicht wird für ihn eine Erleichterung gewesen sein. Benedikt war ein Geistmensch, kein Machtmensch. Ein gelehrter Theologe, doch kein cleverer Politiker oder Kirchenmanager. Gleichwohl hatte sein Pontifikat große Momente: Etwa, als er 2011 vorm Bundestag in einer beeindruckenden Rede die Erkenntnis beschwor, dass der Maßstab von Politik nicht der Erfolg sein darf, sondern die Gerechtigkeit sein muss. Da wehte eine Weisheit aus einer anderen Welt durchs Haus – jener Welt des Glaubens, in der es nicht um Mehrheiten geht, sondern um Wahrheiten. In solchen Momenten wirkte Benedikt wie ein alter, weiser Häuptling, der den mächtigen weißen Männern widerspricht, obwohl er weiß, dass er sich nicht gegen sie wird behaupten können.
Auch die Kirche sollte in seinen Augen ja nicht den Beifall der Welt suchen: „Wahr ist doch, dass die Kirche sich nie einfach mit dem Zeitgeist liieren darf“, erklärte er einmal. Eine Gegenwelt sollte seine Kirche sein, ein Schutzraum gegen die Gesetze des Hier und Jetzt – der nach den Vorstellungen Benedikts allerdings ruhig einem exklusiven Kreis vorbehalten sein durfte, wie eine Wagenburg, in die sich die letzten Getreuen flüchten konnten. Dass ein solch geschlossenes Biotop immer auch in der Gefahr schwebt, sich von der Gesellschaft zu entkoppeln und Verbrechen in den eigenen Reihen zu decken, sah er nicht.
Dabei war Benedikt davon beseelt, dass die Welt ohne den Glauben an etwas Höheres alle moralischen Maßstäbe verlieren würde: „Wo nur der Mensch bleibt, bleibt auch der Mensch nicht“, schrieb er einmal.
Denken und Glauben wieder in Einklang zu bringen – das war das Thema seines Lebens. In einer Zeit, in der religiöser Fanatismus und nüchterne Wissenschaftsgläubigkeit sich oft verständnislos gegenüberstehen, beharrte er darauf, dass Glaube und Vernunft einander bräuchten, „zu gegenseitiger Reinigung und Heilung“. Bei alledem pflegte er eine seltene Art von menschenfreundlichem Pessimismus: „Der Absturz der Kirche und des Christentums“, befand er im Gespräch mit dem Journalisten Peter Seewald, sei mit schuld an „den seelischen Zusammenbrüchen, an den Orientierungsschwierigkeiten, an den Verwahrlosungen, die wir beobachten.“
So resignativ klang der Grundton des Mannes, der Augustinus zu seinem Lieblingsheiligen erkoren hatte – einen gelehrten Kulturpessimisten, der vor 1600 Jahren in Zeiten allgemeinen Verfalls lebte und sich in seiner Welt oft fremd vorkam.
Benedikt und die Welt blieben einander fremd
Auch seine eigene Zeit, das junge 21. Jahrhundert, konnte mit dem geistlichen Kompass dieses Papstes nur noch wenig anfangen: Dass jemand gegen Abtreibung und Homosexualität wetterte, zugleich aber auch gegen Todesstrafe und Ausbeutung der Dritten Welt kämpfte – das widersprach dem gängigen politischen Lagerdenken. Bisweilen wirkte dieser alte Herr wie ein Überbleibsel aus längst vergangenen Tagen. Eine „kostbare, gefährdete Spätblüte Europas“ hat die „Zeit“ den Mann einmal genannt, dessen Ansichten vielen zuletzt bestenfalls museal, knorrig und verschroben vorkamen – wenn man sie nicht für lebensfremd und menschenfeindlich hielt.
Tatsächlich hat es eine gewisse Tragik, dass dieser Intellektuelle nicht zu seinen Zeitgenossen durchdringen konnte. Benedikt und die Welt blieben einander fremd. Freilich gehört eine gewisse Fremdheit seit jeher zum Wesen jeder Religiosität. Nach Paulus ist diese Welt für die Gläubigen eine Art Exil, sie haben „keine bleibende Stätte“ auf Erden und müssen hier Fremde bleiben. Der moderne Philosoph Max Horkheimer beschrieb Religion ja gerade als „Sehnsucht nach dem ganz Anderen“ – also nach dem, was nicht von dieser Welt ist.
So gesehen ist es vielleicht nur folgerichtig, dass Benedikt seinen meisten Zeitgenossen so fremd und rätselhaft blieb. Er selbst jedenfalls starb in der Überzeugung, dass seine letzte Reise ihn in seine eigentliche Heimat führen würde. Deren Ziel liegt im Dunkeln. Oder, wie Ratzinger gesagt hätte: im Licht. (RDN)