Schneller Beitritt? Zum Glück hat das Bündnis sich selbst, aber auch der Ukraine einen gefährlichen internen Streit erspart.
Nur eine geschlossene Nato nützt KiewWarum der Nato-Gipfel in Vilnius ein voller Erfolg war
Andrij Melnyk kann es nicht lassen. Der frühere Vertreter Kiews in Berlin wurde zwar im Juni von Präsident Wolodymyr Selenskyj zum ukrainischen Botschafter in Brasilien ernannt. Doch Melnyk knöpft sich weiterhin am liebsten die Nato-Staaten vor. Zum Abschluss des Gipfels in Vilnius sprach Melnyk von „Enttäuschung in Kiew“ darüber, „dass unsere Verbündeten nicht bereit waren, eine mutige Entscheidung über unseren möglichst baldigen Beitritt auf den Weg zu bringen“.
Ist in Vilnius etwas Schlimmes passiert? Diesen Eindruck konnte auch bekommen, wer in Berlin den CDU-Sicherheitspolitiker Roderich Kiesewetter klagen hörte, der Nato-Gipfel markiere „eine verpasste Chance für die europäische Sicherheit“.
Nato-Gipfel in Vilnius: Ein wichtiges Stück Stabilität
Das Gegenteil ist der Fall. Der Gipfel von Vilnius hat in Wahrheit ein wichtiges Stück Stabilität produziert in einer Welt wachsender Unwägbarkeiten. Und er hat Weisheit bewiesen in einer Zeit, in der viele den Stimmungen des Augenblicks hinterherlaufen.
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Schon die endlich erreichte Zustimmung der Türkei zum Beitritt Schwedens verschafft diesem Gipfel Platz in den Geschichtsbüchern. Die Zahl der Nato-Staaten wird auf 32 klettern, die Ostsee wird mehr denn je vom Westen dominiert. Zugleich wurden die extrem detaillierten und extrem anspruchsvollen Pläne des Nato-Oberbefehlshabers Christopher Cavoli zur militärischen Modernisierung beschlossen. Was Cavoli auf sage und schreibe 4000 Seiten ausgebreitet hat, wird Rekordsummen kosten. Doch auch dafür gab es jetzt grünes Licht. Der Gipfel von Vilnius setzt damit ein Zeichen der Stärke, nicht nur gegenüber Moskau, sondern rund um die Welt.
Dass Nordkorea just am zweiten Gipfeltag eine Langstreckenrakete testete, spricht für sich. Offenbar störte den Diktator Kim Jong-un, dass auch der japanische Ministerpräsident und der südkoreanische Präsident nach Vilnius gereist waren, um den gemeinsamen Einsatz für Demokratie im 21. Jahrhundert zu betonen. Mehr als je zuvor hat die Nato auch den Rest der Welt im Blick.
Die Ukraine aber ging in Vilnius nicht etwa leer aus, sondern erlebte eine weitere kräftige Rückenstärkung: militärisch durch eine auf Dauer angelegte Modernisierungs- und Hilfszusage aus dem G7-Kreis, politisch durch den neu geschaffenen Nato-Ukraine-Rat. Gewiss, viele Ukrainerinnen und Ukrainer hätten sich zudem eine konkrete und aufmunternde Erklärung zum möglichst raschen Nato-Beitritt ihres Landes gewünscht. Doch eine verantwortungsvolle Außenpolitik muss vorsichtig sein: Am Ende wird sie nur an ihren Ergebnissen gemessen, nicht an ihren guten Absichten.
Nato-Beitritt der Ukraine: Aus jeder Hauptstadt muss ein Ja-Wort kommen
Hat jemand mal die in allen Parlamenten der Mitgliedsstaaten nötige Ratifizierung eines Nato-Beitritts der Ukraine gedanklich durchgespielt? Wie würden die Debatten verlaufen? Und wie wären am Ende die Mehrheitsverhältnisse, in den einzelnen Staaten und im Bündnis insgesamt? Zur Erinnerung: Aus jeder Hauptstadt muss ein Ja-Wort kommen. Von Skandinavien bis Italien wäre dieses Thema ein gefundenes Fressen für rechte und linke Nationalisten.
Zum Glück hat die Nato sich selbst, aber auch der Ukraine den Einstieg in eine so unselige, am Ende vielleicht sogar für Bündnis insgesamt gefährliche Debatte erspart. Er sehe „noch nicht den für den Nato-Beitritt Kiews nötigen Konsens“, sagte der amerikanische Präsident Joe Biden, der in Vilnius mit geradezu väterlicher Milde und Klugheit agierte.
Die Nachdenklichen in Kiew sehen es hoffentlich ein: Nur eine geschlossene Nato kann der Ukraine helfen. Genau darauf aber kommt es im Augenblick an. Eine Enttäuschung zu beklagen ist verkehrt. In Vilnius wurde eine Täuschung vermieden, und das ist etwas Gutes.