Präsident Wolodymyr Selenksyj kommt auf Augenhöhe mit den anderen Staats- und Regierungschefs zusammen. Ein Überblick zum Nato-Gipfel.
Deutschlands Bedeutung wächstWas zum Abschluss des Nato-Gipfels wichtig wird
Die Nato will der von Russland überfallenen Ukraine grundsätzlich die Hand zu einem Beitritt reichen – aber jetzt noch nicht. Die ersehnte formelle Einladung wird noch an Bedingungen geknüpft. In einer beim Gipfel in Litauens Hauptstadt Vilnius beschlossenen Erklärung heißt es: „Die Zukunft der Ukraine ist in der Nato.“ Zu einer „Einladung“ der Ukraine werde die Nato allerdings erst in der Lage sein, „wenn die Verbündeten sich einig und Voraussetzungen erfüllt sind“. Generalsekretär Jens Stoltenberg betont: Es wurde kein Zeitplan für einen Beitritt der Ukraine zum Militärbündnis festgelegt.
Etwas spitzfindig erklärten Diplomatinnen und Diplomaten, dass das Wort Einladung nun grundsätzlich gefallen sei. Kaufen kann sich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj dafür wenig. Er reiste am Dienstag mit Groll an. Auf Twitter schimpfte er: „Es ist beispiellos und absurd, wenn es keinen Zeitplan gibt, weder für die Einladung noch für die Mitgliedschaft der Ukraine. Und zugleich gibt es vage Formulierungen über Bedingungen, sogar für eine Einladung der Ukraine.“
Selenskyjs Auftritt in Vilnius
Auf einem Platz inmitten der Hauptstadt trat Selenskyj vor Tausenden Menschen öffentlich auf. Er warb eindringlich für den Nato-Beitritt. Auch die Nato würde davon profitieren. Seine Rede wurde von großem Jubel begleitet. Der litauische Präsident Gitanas Nauseda stand neben ihm auf der Bühne.
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Solidarität mit der Ukraine beim Nato-Gipfel
Überall in Vilnius wehen die Flagge Litauens, der Nato und der Ukraine. An einem Bus beim Nato-Gipfel war ferner dies zu sehen: „While you are waiting for this bus, Ukraine is waiting for F-16′s“. Während Sie auf diesen Bus warten, wartet die Ukraine auf F16-Kampfflugzeuge. Eine Allianz mehrerer Nato-Staaten will solche Jets der Ukraine liefern.
Das große Treffen: Nato-Ukraine-Rat tagt erstmals
Es ist ein neues Format – Kiew bekommt mit dem Nato-Ukraine-Rat einen Austausch auf Augenhöhe mit den Nato-Staaten. Zur ersten Sitzung am Mittwochmittag während des Nato-Gipfels kommt Selenskyj dazu. Sein Ärger über die Zurückhaltung der Nato bezeichneten Diplomatinnen und Diplomaten als nachvollziehbar. Sie gingen aber davon aus, dass sich Selenskyj im Kreise der Staats- und Regierungschefs am Mittwoch versöhnlicher zeigen werde. Das neue Gremium wird als Aufwertung der Ukraine bezeichnet und als Signal an Kiew gewertet, dass es die Nato ernst meine mit einer späteren Aufnahme.
USA und Deutschland gegen östliche Bündnispartner
Um die Beitrittsperspektive für die Ukraine gab und gibt es im Bündnis erheblichen Streit. Östliche Bündnismitglieder unterstützten den Wunsch der Ukraine, schon in Vilnius eine formelle Einladung zu erhalten, nach einem Ende des russischen Angriffskriegs beizutreten. Die USA und Deutschland sind zum jetzigen Zeitpunkt dagegen.
Ein Grund ist die Sorge vor eskalierenden Reaktionen Russlands, das nicht nur den Nato-Beitritt der Ukraine verhindern, sondern sie vernichten will. Der Ukraine soll aber das aufwendige Beitrittsverfahren erspart bleiben – auch weil die militärische Zusammenarbeit bereits weit fortgeschritten ist. Der Beitrittsprozess werde für die Ukraine nun von einem zweistufigen Verfahren zu einem einstufigen gemacht, sagte Generalsekretär Jens Stoltenberg. Nötig seien aber noch „zusätzliche erforderliche Reformen im Bereich der Demokratie und des Sicherheitssektors“.
Das Programm von Olaf Scholz
Alle Staats- und Regierungschefs nutzen solche Gipfel, um am Rande persönliche Gespräche zu führen. Der Bundeskanzler traf am Dienstag den neuseeländischen Premierminister Chris Hipkins, den finnischen Präsidenten Sauli Niiniströ und den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Deutschland war davon überrascht worden, dass Erdogan für sein Ja zum Beitritt Schwedens zunächst eine Wiederbelebung des Beitrittsprozesses seines Landes zur Europäischen Union gemacht hatte.
Dem Vernehmen nach fehlt EU-Staaten dafür noch die Fantasie. Deswegen werde das aber nicht vom Tisch gefegt, hieß es. Am Mittwoch wird Scholz mit Griechenlands Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis und dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zusammenkommen. Ihr Verhältnis hat sich durch die umfangreichen Waffenlieferungen der Bundesregierung in den vergangenen Monaten deutlich verbessert.
Wer das Zwei-Prozent-Ziel für Verteidigungsausgaben erfüllt
Die Nato-Mitglieder hatten schon vor dem Gipfel in Aussicht gestellt, ihr Ziel für die nationalen Militärausgaben von 2014 zu verschärfen. Bisher sollen bis 2024 jährlich – annähernd – 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für die eigene Armee ausgegeben werden. Künftig soll es mindestens so viel sein. Deutschland liegt derzeit bei etwa 1,5 Prozent. Mit dem schuldenbasierten 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen will die Bundesregierung von 2024 an auf die 2 Prozent kommen. Mindestens.
Nach Nato-Schätzungen dürften in diesem Jahr elf der jetzt 31 Mitglieder das Zwei-Prozent-Ziel erreichen. Im vorigen Jahr haben nach einem „Handelsblatt“-Bericht nur acht Staaten diese Anforderung erfüllt. Klassenbester war demnach Griechenland mit 3,69 Prozent, gefolgt von den USA mit 3,45 Prozent, Litauen (2,52), Polen (2,39), Großbritannien (2,23), Kroatien (2,27), Estland (2,09) und Lettland mit 2,05 Prozent. Deutschland lag mit 1,39 Prozent an 23. Stelle.
Noch mehr deutsche Waffen für die Ukraine
In Vilnius kündigte Kanzler Olaf Scholz außerdem ein weiteres Waffenpaket für die Ukraine im Wert von knapp 700 Millionen Euro an, darunter Marder-Schützenpanzer, Leopard-Kampfpanzer und Bergepanzer sowie zwei weitere Startgeräte für Patriot-Flugabwehrraketen der Bundeswehr. Hinzu kommen 20.000 Schuss Artilleriemunition, Aufklärungsdrohnen und Mittel zur Drohnenabwehr. Die Bundesregierung hat damit für die Ukraine seit Kriegsbeginn bereits Rüstungslieferungen von weit mehr als 4 Milliarden Euro beschlossen – und liegt damit unter den Waffenlieferanten nach den USA auf Platz zwei.
Wie die Nato ihre Ostflanke verstärkt
Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine hat die Sicherheitslage in Europa fundamental verändert. Aus Sicht der Nato erfordert das einen stärkeren Fokus auf ihre Ostflanke. Die Krimannexion durch Kremlchef Wladimir Putin im Jahr 2014 markierte die erste Kehrtwende.
Nach einem Vierteljahrhundert, in dem sich die Nato-Staaten nur von Freunden umzingelt sahen, nahm die Militärallianz wieder eine Abschreckungspose gegenüber Moskau ein – zunächst allerdings nur zögerlich. Vier multinationale Kampfverbände, sogenannte Battle Groups, wurden in Estland, Lettland, Litauen und Polen stationiert. Doch nach Russlands Überfall auf die Ukraine schrillten die Alarmglocken im Nato-Hauptquartier in Brüssel. Dann ging es Schlag auf Schlag: Battle Groups wurden nun auch in Ungarn, der Slowakei, Rumänien und Bulgarien stationiert.
Wie Deutschlands Bedeutung in der Nato wächst
Deutschland spielt eine besondere Rolle bei der neuen Stärkung der Ostflanke und geht als erstes Nato-Land voran. In Litauen soll eine ganze Brigade mit 4000 Soldatinnen und Soldaten stationiert werden – dauerhaft, weswegen ihre Familien mit in das baltische Land ziehen sollen.
So wie einst die Amerikaner mit ihrer militärischen Präsenz in Deutschland für Sicherheit vor Russland sorgten, werden es nun Deutsche im Baltikum sein, die der Bevölkerung Schutz vor Russland bieten sollen. Die Ankündigung vor wenigen Tagen weckte bereits Begehrlichkeiten in Rumänien. Und so dürfte es weitergehen. Weil niemand sagen kann, wann der Krieg zu Ende sein wird, ist auch kein Ende der neuen Abschreckungspolitik abzusehen.
Deutschland wird ferner mit einem Volumen von annähernd 4 Milliarden Euro das israelisch-amerikanische Arrow-3-Raketenabwehrsystem anschaffen und ab 2025 in Bayern, Schleswig-Holstein und Brandenburg aufbauen. Es hat eine Reichweite von 2400 Kilometern und kann feindliche Lang- und Mittelstreckenraketen bis zu 100 Kilometer in der Höhe zerstören – weit weg von ihrem Ziel. Andere Nato-Staaten sollen unter diesen Schutzschirm kommen können. Das in Deutschland aktuell verfügbare Luftabwehrsystem vom Typ Patriot kann nur einen Bruchteil davon abdecken und ist außerdem Mangelware.
Neue Gefahren
Belarus, das mit Russland verbündet ist, könnte zu einer neuen Gefahr für die Ostflanke der Nato werden. Die Staatspräsidenten von Litauen, Polen und Lettland warnten jetzt in einem Brief an die Nato vor der Verlegung russischer taktischer Atomwaffen nach Belarus und vor der möglichen Stationierung von Kämpfern der Söldnertruppe Wagner. Das dürfte die Debatte um die dauerhafte Stationierung von mehr Nato-Truppen im Osten des Bündnisgebiets anheizen.
Geht es nach Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg , dann sollen künftig bündnisweit etwa 300.000 Soldatinnen und Soldaten in hoher Einsatzbereitschaft gehalten werden. Schließlich gehe es darum, „jeden Zentimeter unseres Bündnisgebietes zu verteidigen“. Russland wurde im 2022 aktualisierten strategischen Konzept vom Partner zur Bedrohung erklärt. In dem Papier heißt es: „Die Russische Föderation ist die größte und unmittelbarste Bedrohung für die Sicherheit der Verbündeten und für Frieden und Stabilität im euroatlantischen Raum.“