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„Keine Stunde ohne Panzerduell“Selenskyj zieht Zwischenbilanz nach 500 Tagen Krieg

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«Die Ukraine hat Einfluss auf die Stärke Europas. Das ist ein Fakt», sagt der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj.

„Die Ukraine hat Einfluss auf die Stärke Europas. Das ist ein Fakt“, sagt der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj.

Die ukrainische Gegenoffensive verläuft schleppend, die Kämpfe sind brutal. Die Ukraine hofft beim Nato-Gipfel auf ein wichtiges Signal.

Wenn Sergij Osatschuk vom ukrainischen Grenzschutz von der Lage in seinem Frontabschnitt berichtet, bekommt man einen Eindruck davon, welchen brutalen Herausforderungen die Soldaten gegenüberstehen. Der Oberstleutnant ist in der Gegend um Bachmut im Einsatz, jener Stadt, die die russischen Besatzer im Mai nach monatelangen blutigen Schlachten erobert haben – und die die Ukrainer nun wieder einnehmen wollen.

500 Tage Tod, Leid und Gewalt in der Ukraine

„Sehr, sehr dynamisch, sehr aktiv, sehr verlustreich und sehr heiß“ sei diedie Situation dort, sagt der Offizier am Telefon. „Nicht nur hinsichtlich der Tages­temperaturen von mehr als 35 Grad, sondern auch auf den Schlacht­feldern. Es vergeht keine Stunde ohne Gefechte, ohne Artillerie­abtausch, ohne Panzerduell.“

500 Tage dauert der Krieg an diesem Samstag bereits an. 500 Tage Tod, Leid und Gewalt – ausgelöst vom russischen Präsidenten Wladimir Putin, der die Ukraine am 24. Februar vergangenen Jahres überfallen hat. Im Herbst gelang es ukrainischen Truppen bei Offensiven, wichtige Landesteile wieder zu befreien. Immer noch kontrolliert Russland aber knapp 20 Prozent des Territoriums. Situation dort, sagt der Offizier am Telefon.

Nicht nur hinsichtlich der Tages­temperaturen von mehr als 35 Grad, sondern auch auf den Schlacht­feldern. Es vergeht keine Stunde ohne Gefechte, ohne Artillerie­abtausch, ohne Panzerduell.
Sergij Osatschuk, ukrainischer Oberstleutnant

Seit rund einem Monat läuft nun an mehreren Front­abschnitten die jüngste Gegen­offensive, bei der die Ukraine bislang aber nur marginale Gelände­gewinne verzeichnen kann – das räumt auch Selenskyj ein. Osatschuk sagt mit Blick auf seinen Bereich ebenfalls, die Fortschritte seien langsam, die Truppen rückten täglich zwischen 150 und 1500 Metern vor. „Es sind nicht so groß­flächige Erfolge, wie sie wahrscheinlich alle gefreut hätten. Nicht nur die Menschen im Westen, sondern auch die in der Ukraine, die sich wünschen würden, dass die Russen schnellstens abziehen. Aber das tun sie nicht.“

Man müsse sich im Klaren darüber sein, „dass die Russen nicht untätig in ihren Schützen­gräben sitzen und warten, bis wir angreifen, und dann unsere Gegen­offensive abwehren“, sagt der Oberstleutnant. „Auch die Russen versuchen sehr aktiv, unsere Linie zu durchzubrechen.“ Nördlich von seinem Abschnitt habe der Feind „enorme Kräfte“ konzentriert: „Moderne Panzer, moderne Artillerie­systeme und sehr viele gut ausgebildete Soldaten.“

Russen verzeichnen weiterhin große Verluste

Auch der bewaffnete Aufstand der Wagner-Söldner in Russland habe die Lage nicht verändert. „Das hat gar keine Auswirkung auf die Geschehnisse an der Front. Die Russen können kämpfen, und sie haben sehr gute Schluss­folgerungen gezogen aus ihren Schwächen, aus ihren Erfahrungen, die sie im Kampf gegen uns in den letzten Monaten gemacht haben.“

Dennoch hätten die Russen weiterhin größere Verluste zu verzeichnen als die Ukrainer. „Die Russen verlieren mehr Soldaten, mehr Panzer, mehr gepanzerte Wagen, mehr Artillerie­systeme, mehr elektronische Kampfmittel.“ Aussagen eines Militär­arztes lassen darauf schließen, wie blutig die Gefechte sind. Der Mediziner sagte dem Sender N-TV: „Wenn eine Gruppe sich ins Schlachtfeld bewegt, rechnen wir damit, dass ungefähr 30 Prozent von den Soldaten verletzt werden, bevor sie die vorderste Front erreicht haben, wenn sie sich im Angriffs­modus befinden.“

Russlands Rüstungsindustrie ist nicht in die Knie gegangen

Militär­experten gehen davon aus, dass der Angreifer bei einer Offensive ungefähr dreimal so viele Soldaten braucht wie der Verteidiger. Die Ukraine verfügt Schätzungen zufolge aber über weniger Soldaten, als die Besatzungs­macht Russland im Land hat. Ein weiteres Problem der Ukraine: Die russische Rüstungs­industrie ist durch die westlichen Sanktionen nicht in die Knie gegangen.

Die Ukraine will die Offensive nun mithilfe von Streumunition aus den USA vorantreiben – eine hochumstrittene Waffe, die zahlreiche Länder verboten haben (allerdings weder die USA noch die Ukraine oder Russland). Oft bleiben Blindgänger zurück, die die Zivil­bevölkerung über Jahre hinweg gefährden. Russland hat nach Angaben von Menschen­rechtlern in zahlreichen Fällen Streumunition in der Ukraine verwendet, auch in bewohnten Gebieten. Dass die ukrainischen Streitkräfte nun im eigenen Land auf diese Waffe setzen wollen – und dass US-Präsident Joe Biden einer Lieferung Medien­berichten zufolge zugestimmt hat –, deutet darauf hin, wie ernst die Lage ist.

Vor dem Nato-Gipfel: Bekommt die Ukraine eine Beitrittsperspektive?

Ein wichtiges Signal inmitten der Offensive erhofft sich die Ukraine vom Nato-Gipfel in der kommenden Woche in Vilnius. Selenskyj wirbt kurz vor dem Gipfel bei Besuchen in gleich mehreren Bündnis­staaten dafür, dass sein Land in Vilnius eine Einladung für einen Beitritt erhält. Eine Mitgliedschaft während des Krieges dürfte ausgeschlossen sein, aber schon eine klare Perspektive wäre ein Gewinn für die Ukraine – und ein deutliches Signal an die Adresse Russlands.

Die Expertinnen Margarete Klein und Claudia Major von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) sprechen sich dafür aus, die Beitritts­frage in Vilnius nicht zu vertagen, sondern Zwischen­schritte vorzuschlagen, die der Ukraine unmittelbar nützen und sie verlässlich absichern.

Sie warnen: „Sollte Vilnius zu einem Gipfel der Unentschlossenheit werden, während parallel die ukrainischen Offensiven in einem möglicherweise entscheidenden Kriegsjahr stattfinden, könnte Russland das als Zeichen der Schwäche des Westens und als Ermunterung verstehen, den Krieg fortzusetzen.“ (rnd)