Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan plant eine Reform des türkischen Grundgesetzes. Er verspricht eine „zivile, liberale Verfassung“. Regierungskritiker befürchten, dass Erdogan mit der Reform seine Herrschaft zementieren will.
Neue VerfassungSo könnte Erdogan lebenslang im Amt bleiben
Schon seit er vor über zwei Jahrzehnten die politische Führung in der Türkei übernahm, verspricht Erdogan eine Verfassungsreform. Das derzeitige Grundgesetz trägt noch die Handschrift der Generäle, die im September 1980 die Macht übernahmen, das Parlament und alle politischen Parteien auflösten.
Mit einer neuen Verfassung, die im November 1982 in einer Volksabstimmung verabschiedet wurde, entließen die Generäle das Land ein Jahr später in die parlamentarische Demokratie.
Seither wurde die türkische Verfassung 19-mal in einigen Punkten geändert, zwölfmal allein in der Ära Erdogan. Die gravierendste Verfassungsänderung nahm Erdogan 2017 mit der Abschaffung der parlamentarischen Demokratie und der Einführung eines Präsidialsystems vor. Es gibt ihm eine Machtfülle, wie sie kein anderer Staats- oder Regierungschef eines westlichen Landes hat.
Es klingt nach einer Zeitenwende – doch Kritiker haben Sorgen
Jetzt steht der nächste große Einschnitt bevor. Die Türkei, die 2023 den 100. Jahrestag der Republikgründung feiert, brauche eine „zivile, freiheitliche und inklusive Verfassung“, um „die Demokratie zu stärken“, sagte Erdogan kürzlich in einer Rede vor Richtern und Staatsanwälten.
Erdogan plane ein Grundgesetz, das die „menschliche Würde als Essenz aller Rechte schützen und die Rechtsstaatlichkeit sichern“ soll, berichtet die regierungstreue Zeitung „Sabah“. Niemand dürfe künftig wegen kritischer Meinungsäußerungen in seinen Freiheiten beeinträchtigt werden, so die Zeitung.
Das klingt geradezu nach einer Zeitenwende in einem Land mit Tausenden politischen Gefangenen. Doch Erdogan-Kritiker fürchten, dass die Reform genau in die entgegensetzte Richtung gehen wird. Ihre Sorge: Mit der Verfassungsänderung wolle Erdogan vor allem seine eigene Zukunft absichern.
Erdogan könnte sich eine Wiederwahl ermöglichen und erleichtern
Ende Mai gewann Erdogan die Wahl zu einer zweiten Amtszeit als türkischer Präsident. Ein drittes Mal kann er nach der geltenden Verfassung nicht antreten. Eine heikle Aussicht, denn wenn Erdogan sein Amt abgeben muss, verliert er auch seine strafrechtliche Immunität. Dann könnten alte Korruptionsvorwürfe gegen ihn und seine Familie wieder hochkommen. Beobachter vermuten, dass Erdogan diese Begrenzung in der neuen Verfassung aufheben und sich damit praktisch die Macht auf Lebenszeit sichern möchte.
Auch die Bestimmung, wonach der Präsident für eine Wahl die absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen benötigt, könnte gestrichen werden, um Erdogan 2028 die Wiederwahl zu erleichtern. Im Mai war es knapp: Erdogan bekam erst in einer Stichwahl 52 Prozent der Stimmen.
Auf d rechtsextrem-nationalistisches und islamistisches Lager angewiesen
Um eine neue Verfassung durchs Parlament zu bringen, braucht Erdogan in der Nationalversammlung mindestens eine Dreifünftelmehrheit. Anschließend müsste das neue Grundgesetz dann noch in einer Volksabstimmung angenommen werden. Um die parlamentarische Hürde zu nehmen, ist Erdogan auf die Unterstützung seiner Koalitionspartner aus dem rechtsextrem-nationalistischen und islamistischen Lager angewiesen.
Sie werden versuchen, der neuen Verfassung ihren Stempel aufzudrücken und konservativ-religiöse Werte im künftigen Grundgesetz zu verankern. Auch Erdogan selbst kündigte bereits an, die neue Verfassung müsse traditionelle Werte wie die Familie besser vor „perversen Einflüssen“ schützen.
Schärfere Repressionen gegen Schwule, Lesben und trans Menschen drohen
Das könnte bedeuten: noch schärfere Repressionen gegen Schwule, Lesben und trans Menschen, noch weniger Schutz für Frauen vor häuslicher Gewalt, noch weniger Meinungs- und Pressefreiheit. So will die islamistische Hüda Par, mit der sich Erdogan im letzten Wahlkampf verbündete, getrennte Schulen für Jungen und Mädchen einführen. Frauen sollen nur Arbeiten verrichten dürfen, die „ihrer Natur entsprechen“.
Die rechtsextreme BBP, die ebenfalls zu Erdogans Volksallianz gehört, fordert getrennte Krankenhäuser für Frauen und Männer. Erdogans Erziehungsminister Yusuf Tekin machte sich die Forderungen nach Geschlechtertrennung an Schulen und Universitäten bereits begeistert zu eigen. Er kündigte die baldige Umsetzung an.
Und Erdogans Verbündeter Fatih Erbakan, Chef der islamistischen Neuen Wohlfahrtspartei, möchte das Heiratsalter für Mädchen in der Türkei auf 14 Jahre senken. Dann seien die Kinder „sexuell reif“ und in der Lage, „einen glücklichen Haushalt“ zu führen. „Unsere Vorfahren haben immer schon Mädchen im Alter von 14, 15 oder 16 verheiratet – so ist das in Anatolien seit Jahrhunderten“, sagte Erbakan auf Youtube.
Abzuwarten bleibt, wie sich die geplante Verfassungsreform auf das Verhältnis der Türkei zur Europäischen Union auswirken wird. Erdogan bemüht sich jüngst um eine Wiederannäherung, vor allem aus wirtschaftlichen Gründen. Was man bisher über die Reformpläne hört, geht aber eher in eine andere Richtung. (RND)