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BegutachtungWie Pflegebedürftige den passenden Pflegegrad erhalten und dabei nicht ihre Würde verlieren

Lesezeit 4 Minuten
Ein Pflegebedürftiger mit Rollstuhl. (Symbolbild)

Wer Pflegeleistungen beantragen will, bekommt Besuch vom Medizinischen Dienst, der den Pflegegrad feststellen muss. (Symbolbild)

Für erwachsene Kinder, die ihre hilfsbedürftigen Eltern bei der Einstufung unterstützen, ist das oft eine heikle Mission.

Die Beine sind wackelig, zur Toilette geht es nur mit Rollator, die Intimwäsche klappt nicht mehr allein. Doch beim Termin mit dem Medizinischen Dienst klingt plötzlich alles ganz unproblematisch: „Ich kann alles noch ganz allein.“

Felizitas Bellendorf, Referentin Pflegemarkt bei der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen, kennt das Phänomen aus der Praxis: „Wer ist schon gern ein Pflegefall“, fragt sie rhetorisch und weist auf die verzwickte Situation hin: „Um Pflegeleistungen zu bekommen, muss ein Gutachter oder eine Gutachterin vom Medizinischen Dienst feststellen, dass die Person dauerhaft Pflege benötigt. Vor allem für Kinder, die ihre hilfsbedürftigen Eltern bei dieser Einstufung unterstützen, ist das häufig eine heikle Mission.“

Es geht nicht um einen Rollentausch

Für Angehörigencoach und Buchautorin Petra Wieschalla liegen die Schwierigkeiten auf der Hand: „Denn hier treffen oft unterschiedliche Erwartungen aufeinander“, sagt die Beraterin, die sich unter anderem auf das Elternbegleiten spezialisiert hat. „Als Erstes müssen die Kinder akzeptieren, dass auch die eigenen Eltern älter werden und immer mehr Unterstützung benötigen. Und die Eltern müssen lernen, die Hilfe ihrer Kinder anzunehmen.“

Das sei kein Rollenwechsel, betont die Expertin. Nur die Aufgaben der Rollen würden sich ändern. Das heißt: „Kinder sollten den pflegebedürftigen Eltern nicht die Elternschaft nehmen, auch wenn sie mehr und mehr Verantwortung tragen.“ Auf Augenhöhe bleiben, rät Wieschalla. „Das gilt besonders für den Termin mit dem Medizinischen Dienst. Denn bei der Begutachtung geht es häufig um Themen wie beispielsweise Inkontinenz, die mit Scham besetzt sind.“ Die Expertin empfiehlt deshalb, im Vorfeld alles gemeinsam zu besprechen.

Mit Arztbesuch vergleichen

„Wichtig ist, zu erklären, dass es sich bei der Einstufung um eine besondere Situation handelt“, sagt Wieschalla. „Am besten, man vergleicht die Begutachtung mit einem Arztbesuch – das kündigt eine Autorität an und verhindert meist, dass die Pflegebedürftigen unrealistische Auskünfte geben.“ Hilfreich sei auch, darauf hinzuweisen, dass der Medizinische Dienst vieles zum Gesundheitszustand und zur Selbstständigkeit fragen muss – „und dass das nicht persönlich gemeint ist“.

Und was, wenn der hilfsbedürftige Vater oder die gebrechliche Mutter darauf besteht, im Alltag allein zurechtzukommen, zum Beispiel beim Anziehen? „Dann streiten und korrigieren Sie nicht“, rät Wieschalla. „Ergänzen Sie lieber empathisch: ‚Ja, wenn ich die Sachen für dich rausgelegt habe, kannst du einiges auch allein anziehen. Beim Pullover und den Strümpfen helfe ich dir.‘“

Andererseits kann es auch sein, dass die Kinder das Gefühl haben, dass die Fragen des Medizinischen Dienstes die Eltern verunsichern oder bloßstellen. „Greifen Sie nicht beschützend oder beschwichtigend ein, indem Sie behaupten, das ginge doch sonst auch immer noch“, erklärt Wieschalla. Dieser Impuls sei vor allem sehr stark, wenn der oder die Angehörige unter einer beginnenden Demenz leide. „Versuchen Sie, diese Situation auszuhalten – so schwer es auch fällt. Schließlich geht es ja um eine realistische Einschätzung der Pflegesituation.“

Zu Schwächen und Gebrechen stehen

Auch Pflegereferentin Bellendorf plädiert für eine gemeinsame Vorbereitung. Dabei gehe es auch darum, Mut zu machen, eigene Schwächen und Gebrechen zu zeigen. „Wenn es morgens im Bad aufgrund der Schmerzen länger dauert, darf man das ruhig sagen“, sagt sie.

Generell rät Bellendorf, den Tag der Begutachtung genau so zu gestalten wie jeden anderen Tag: „Da soll niemand extra in einem bekleckerten Nachthemd auf dem Sofa sitzen, aber auch nicht besonders herausgeputzt sein.“

In der Begutachtung werden die Selbstständigkeit und Fähigkeiten in sechs Lebensbereichen geprüft und erfasst: Die sogenannten Module betreffen die Mobilität, die Verhaltensweisen und psychische Problemlagen, kognitive und kommunikative Fähigkeiten, die Selbstversorgung, der Umgang mit krankheits- sowie therapiebedingten Anforderungen und Belastungen, die Gestaltung des Alltagslebens sowie die sozialen Kontakte.

Das sollten Sie beim Begutachtungstermin vorzeigen

Mit dem kostenlosen Pflegegradrechner der Verbraucherzentralen kann der persönliche Pflegegrad berechnet werden. Das bereitet gleichzeitig optimal auf den Begutachtungstermin vor.

Für den Termin sollte man Kopien von folgenden Unterlagen bereithalten:

  1. aktuelle Berichte von Ärzten und Fachärzten,
  2. aktuelle Entlassungsberichte vom Krankenhaus oder der Reha-Einrichtung
  3. Medikamentenplan
  4. Schwerbehindertenausweis (falls vorhanden)
  5. Liste der genutzten Hilfsmittel (zum Beispiel Brille, Hörgerät, Gehstock, Rollator oder Vorlagen)
  6. Pflegedokumentation (falls es schon einen ambulanten Pflegedienst gibt) sowie
  7. eigene Notizen über den Verlauf der Pflege und Schwierigkeiten – zum Beispiel in einem Pflegetagebuch.

Die Pflegekasse wertet das Gutachten des Medizinischen Dienstes aus und teilt die Entscheidung dann schriftlich mit. Wer damit nicht zufrieden ist, kann Widerspruch einlegen. Mehr Informationen dazu sowie einen kostenlosen Musterbrief gibt es bei der Verbraucherzentrale.